Don Giovanni, Leporello und der Comtur
SF/Monika Rittershaus
Salzburger „Don Giovanni“

Revolution hinter dem FFP2-Vorhang

Angekündigte Revolutionen und befürchtete Skandale finden bekanntlich nicht statt. Aus dem „Mausoleum“ würde Teodor Currentzis Mozarts Klassiker holen. Das hat Regisseur Romeo Castellucci im Vorfeld der mit Spannung erwarteten Salzburg-Premiere des gemeinsamen „Don Giovanni“ versprochen. Der Montagabend zeigte: Der wahre Revolutionär stand hinter dem Pult. Castellucci dagegen hatte so viele Ideen aus seinem Werkkatalog in der Tasche, dass er zum Schürzenjäger seiner eigenen Ideenmaschinerie wurde. Das Publikum war begeistert und auch übersättigt von diesem Feuerwerk an Einfällen, die alle hinter einem Gaze-Vorhang gezündet wurden. Auch zur Tradition geht man 2021 lieber auf Sicherheitsabstand.

Wer wissen will, warum gerade die Oper im digitalen Zeitalter die größte Form der Begeisterung auf dem Schlachtfeld der analogen Betätigung bringen kann, bekommt seit Montag in Salzburg, und demnächst auch im TV, eine Antwort. Es ist die Summe aller Kunstformen, die abseits der Möglichkeiten des Digitalen hier zusammenkommen. Und in keiner Oper der Opernweltliteratur kann man das mehrschichtige Erzählen besser ausleben als in Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“. Aus der Oper solle sich das Trauerspiel in einer „edleren Form loswickeln“, hatte Friedrich Schiller in einem Brief an Goethe einmal gewünscht – und von Goethe den Rat bekommen, er möge sich an Mozarts „Don Juan“ orientieren, mit dem sich Schillers Hoffnung einerseits realisiere. Andererseits gebe es durch Mozarts frühen Tod keine Hoffnung auf Fortsetzung.

Hinweis

Der Salzburger „Don Giovanni“ ist am 7. August, um 22.05 Uhr in ORF2 zu sehen. Die Ö1-Übertragung zum Nachhören ist sieben Tage in radiothek.ORF.at verfügbar.

Natürlich musste die Welt nicht auf Castelluccis Tiefenrecherche warten und auf seine durchaus an Schiller erinnernde Besserung der Welt durch eine schonungslose Beschau unserer selbst. An „Don Giovanni“-Interpretationen fehlt es bekanntlich nicht. Mit jedem Jahr, mit dem Castellucci wächst und älter wird, steigt er noch mehr zu den Quellen von allem hinab und befreit, wie zum Beginn dieser Oper, den Raum von allem Traditionsballast (warum deshalb ein Auto vom Dach fällt, bleibt freilich rätselhaft oder ist ein Verfremdungselement der Kategorie schwerer Hammer).

Mythos „Don Giovanni“

Mit Spannung erwartet wird die diesjährige Neuinszenierung von Mozarts „Don Giovanni“. Kein Wunder, gilt doch das erfolgsverwöhnte Dream-Team Regisseur Romeo Castellucci und Dirigent Teodor Currentzis als Garant für Hochzeiten der Kunst. Wie in einem Amoklauf irrlichtert Mozarts „Don Giovanni“ seiner eigenen Zerstörung entgegen.

Wenn das „Dramma giocoso“ zum Mythos wird

Castelluccis Lesart von „Don Giovanni“ ist jedenfalls eine, die den Stoff schon sehr in die Gegend des Mythos rückt. Und so wird aus dem Herrn und seinem Diener Leporello (Vito Pirante) so etwas wie ein Menschheitspaar – mit dem Nachteil, dass es eben Männer sind und damit bestenfalls die Hälfte der Geschichte seit Adam und Eva angesprochen ist. Diese zwei, die man hinter dem Gaze-Vorhang, der für vier Stunden wie eine FFP2-Maske vor der Bühne hängt, ohnedies nicht mehr unterscheiden kann, nehmen als Männer das triebhafte Schicksal seit dem Rauswurf aus dem Paradies auf sich.

Anna Lucia Richter, Davide Luciano und Markus Hinterhäuser im Gespräch

Intendant Markus Hinterhäuser, „Giovanni“ Davide Luciano und „Zerlina“ Anna Lucia Richter sprechen über die diesjährige Inszenierung von „Don Giovanni“.

Leporello ist da noch Reflexions- und Echokammer, während Don Giovanni (strahlend: Davide Luciano) durch die ganze Menschheitsgeschichte seit dem angebotenen Apfel Evas muss. Man könnte einwenden, dass der Mann dafür allein in Spanien nicht Inzidenzen in der Höhe von „mille et tre“ erzeugen müsse. Und überhaupt kann es 2021 kein Narrativ geben, bei dem alleine Männern das Ausleben der Schicksalsgeschichte zukommt. So müssen die Frauen, die Opfer dieses Geschichtsverständnisses sind, in einer Hundertschaft in Schwarz auf die Bühne treten und zumindest in dieser Hinsicht für Gerechtigkeit sorgen.

Optisch wirkt das so, als würde Maurizio Cattellan seine Installationen beleben. Mit anderen Worten: Viele der Bilder dieses Abends sind, nicht zuletzt durch die Lichtführung, eindrucksvoll. Manches hat man freilich schon gesehen. Und alles erinnert an die Bildgestaltung großer alter Meister, so als läge über dem Blick in den Guckkasten der Oper eine Lage von Lasuren. Das ist sehr kunstvoll, aber für das Data-Processing im Kopf fordernd.

Das paradiesische Moment

Im Zentrum dieser Inszenierung steht jedenfalls die Szene zwischen Don Giovanni und Zerlina (Anna Lucia Richter), die so etwas wie das paradiesische Moment dieser Erzählung markiert und auch in der Interpretation von Luciano und Richter gerade in der Intimität und Zurückgenommenheit überzeugt. Im Hintergrund schwebt die Kutsche für Don Giovannis „highway to hell“. Aber das spielt in diesem Moment (noch) keine Rolle. Zerlina ist für Castellucci die pure Körperlichkeit – und für Don Giovanni insofern ein Spiegel, weil sie wie er keine Umkehr oder Zweifel kennt. Sie macht am Ende einfach weiter wie davor. Und immerhin hat sie ein Ende, das nicht Hölle heißt.

Für Donna Anna (großartig interpretiert von Nadeschda Pawlowa) und Donna Elvira (einer ebenso eindrücklichen Federica Lombardi) gibt es diese Optionen nicht. Ihr Kampf um die Würde erzählt von einem verzweifelten Ringen um Empathie, die Don Giovanni vermissen lässt, weil er dazu einfach nicht fähig ist. Anklagende sind sie bei Castellucci freilich nicht, weil sie vom Opfer in die Rolle der Mutter wechseln und in Don Giovanni ein uneinsichtiges Kind vor sich haben. Eher sind sie, wie wir alle, bemitleidenswert. Und auch hier gilt wie schon beim Paar Don Giovanni und Leporello: Ein bisschen zerrinnen die Konturen der beiden Frauen ins Ähnliche bis Archetypische. Sie werden also schwer unterscheidbar.

Donna Anna im Leuchtkreis ihrer Mädchen
SF/Monika Rittershaus
Aufmarsch der Frauen gegen den Mythos der Männlichkeit: Nadeschda Pawlowa als Donna Anna

Don Ottavio: die dritte Frau im Bund

Don Ottavio (Michael Spyres) könnte ein Bindeglied zwischen diesen Welten sein. Castellucci sieht ihn als Aufklärer – doch in diesem Testosteronzirkus ist er eigentlich die dritte ‚Frau‘ im Bunde. Schon deshalb wird seine erhoffte Beziehung zu Donna Anna auch nach der von ihr erbetenen Einjahrsfrist nicht eintreten.

Don Giovanni nimmt in dieser Interpretation irgendwie das Kreuz, das im Finale verkehrt hängt, auf sich. Das „Kreuz“, es meint schlicht: das Schicksal, das er in seiner Lage nicht zu ändern weiß. Am Ende war ja alles vorbestimmt. Und nicht umsonst sind er und Leporello stets in Weiß gekleidet – und damit auch symbolisch nicht schuldfähig. Weiß ist auch die Farbe, die am Ende in der Komtur-Szene an Don Giovanni kleben wird. Es ist die Farbe der Reinheit, die er ablehnt. Und sie pickt derart an seinem Körper, dass seine ganze Männlichkeit zur Karikatur verkommt.

Erste Reaktionen von der „Don Giovanni“-Premiere

Castellucci ist so gefeiert wie umstritten. Kunst, Religion und Mythos sind für ihn Vehikel, um Grundfragen des Menschseins zu stellen. Mozart-Puristen müssen mit der nächsten Generation von Regisseurinnen und Regisseuren entweder umlernen oder werden sich womöglich mit Kopfschütteln abwenden. Wie die Neuinszenierung beim Publikum angekommen ist, zeigt der „Kulturmontag“.

Scharniere zwischen Musik und Bühne

Dass all das kein lächerlicher, sondern ein über viele Strecken fantastischer Abend wird, liegt an der Koppelung zwischen Musik und Bühnengeschehen. Es sind die Choreografin Cindy Van Acker und Castelluccis Dramaturgin Piersandra Di Matteo, die die musikalische Interpretation von Currentzis und seinem so innig verschworenen musicaAeterna Orchestra in eine überzeugende Bühnenform überführen. Und das bedeutet: ständige Bühnenbewegung, bei der die ganze Breite der Salzburger Festspielbühne ausgenutzt wird. Es sind die Verlangsamung und Präzisierung, die diesen Don Giovanni ausmachen. Und alle Bewegungen im Hintergrund gehen das Tempo der musikalischen Leitung. Das ist der magische Sog dieser Inszenierung.

Anders als es einst Sergiu Celibidache mit Bruckner wagte, verlangsamt Currentzis nicht für mehr Klangfülle. Im Gegenteil: Die Feierlichkeit muss man sich bei ihm erst erarbeiten. So legt er schon die Ouvertüre an, bei der die Pauken ins Parkett hinüber beben, bevor es feinfühliger wird.

Don Ottavio
SF/Monika Rittershaus
Der Mittler zwischen den Welten, der am Ende übrig bleibt: Michael Spyres als zu feinfühlender Don Ottavio

Zurück zum Welttheater

Currentzis verlangsamt für mehr Klarheit und ermöglicht damit wieder mehr Spielfreude. Die Rezitative vom Cembalo nutzt er wie Jazz-Elemente zwischen Szenen, die keine Oper der Forcierung, sondern eine der Zurücknahme ermöglichen. Die Arien der Donna Anna, Donna Elvira, aber auch des Don Ottavio werden so zu eindringlich schönen Momenten mit großer melancholischer Kraft.

Das ist kein Don Giovanni der Schuldzuweisungen. Vielmehr müssen alle das Schicksal satteln. Da waren wir also wieder beim Welttheater, bei dem der „Don Juan“ eines Tirso de Molina startete; und am Quell aller Wahnsinnsprojekte, wie den Festspielen in Salzburg, die eine Oper wie diese gerade sechsmal in einem Sommer zeigen können. Diesen „Don Giovanni“, so war sich Currentzis im Vorfeld sicher, könne man nur hier in Salzburg in dieser Bauart machen. Eine harte Erkenntnis in einer Welt, in der man so vieles on demand konsumieren mag.