Edith Clever und Lars Eidinger
SF / Matthias Horn
Indoor mit Intimität

Der Regen und der neue Jedermann

Sieben von acht „Jedermann“-Vorstellungen sind in diesem Jahr wetterbedingt vom Domplatz nach drinnen gewandert. Ein Umstand, den schon zuletzt Buhlschaft Verena Altenberger gegenüber ORF.at nicht als Nachteil bezeichnet hatte. Und sieht man sich die Rollenumkehr bei der Hauptfigur an, dann zeigte sich auch nach der siebenten Regenvorstellung: Jedermann Lars Eidinger ist der Everyman der Innerlichkeit, der die Rolle gegenüber seinen Vorgängern komplett auf den Kopf gestellt hat.

„Jedermann“ indoor, das ist die spezielle Erfahrung, die man bei fast allen „Jedermann“-Aufführungen in diesem Jahr in Salzburg bisher machen darf. Von acht Aufführungen fand bisher nur eine auf dem Domplatz statt. Alle anderen mussten ins Große Festspielhaus ausweichen. In den Jahren davor sah das Verhältnis zwischen drinnen und draußen zumindest ausgeglichen aus. Im vorigen Sommer spielte man von den 14 Vorstellungen sieben auf dem Domplatz und sieben im Festspielhaus.

2019 fanden von den 14 Vorstellungen elf auf dem Domplatz statt. Und 2018 musste man bei 14 Vorstellungen nur zweimal nach drinnen ausweichen, konnte also sensationelle zwölf „Jedermann“-Vorstellungen im von Max Reinhardt eingerichteten Ur-Setting auf dem Domplatz spielen. Heuer ist alles anders – und der „Jedermann“ schon in seiner Gesamtanlage intimer geworden, weil er fast immer indoor stattfindet, was aber dem Team, nicht zuletzt dem Jedermann Lars Eidinger, durchaus entgegenzukommen scheint.

Neue Liebe für das Drinnen

Eigentlich ist es der Arbeit von Brian Mertes und Julian Crouch ab 2013 zu verdanken, dass man das Drinnenspielen ernster nahm. Unter ihnen und der damals neu entwickelten Version des „Jedermann“ gab es auch für Drinnen ausreichend Extra-Proben und ein Bühnenbild, das deutlich aufwändiger war und das Setting ernst nahm gegenüber der Lieblosigkeit der Jahrzehnte davor, wo man drinnen nie über die Atmosphäre eines Probenbühnen-Settings hinausgekommen war. Auch das ist mittlerweile anders, ja Indoor entsteht tatsächlich eine neue Form von Theater, das Bretterbühne und Illusionsraum zu vereinen weiß.

Die Letztentscheidung für den Umzug vom Domplatz ins Festspielhaus liegt bei Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler; das auch, so erfährt man bei den Festspielen, um den Schauspielverantwortlichen die Last einer Letztentscheidung zu nehmen – etwa, wenn man durch Wetterwarnungen umgezogen, es auf dem Domplatz aber trocken geblieben ist. Solche Feinheiten ersparte der Wettergott dem Jedermann-Team heuer. Bei keinem Umzug war es in irgendeiner Form trocken geblieben. Eher das Gegenteil davon.

"Jedermann"-Aufführungen: Domplatz oder Festspielhaus

Jahr Aufführungen Domplatz GFH
2021 (bis 2.8.) 8 1 7
2020 14 7 7
2019 14 11 3
2018 14 12 2

Barockes Welttheater war gestern

Barockes Welttheater und ein Jedermann aus dem Testosteron eines Tobias Moretti oder Nicholas Ofzarek war gestern. Jetzt, wo es zu jedem „Jedermann“- Nachmittag oder -Abend pünktlich einen Wolkenguss oder dunkelstgraue Wolken gibt, muss die Veranstaltung umsiedeln und findet hinter einer reduzierten Guckkastenbühne, die gegenüber einer „Don Giovanni“-Aufführung noch zwei Abschattungsrahmen vor die Bühne setzt, statt.

„Ich muss sagen, dass wir dieses Stück total gerne drinnen spielen, auch wenn das ja am Regen liegt, den wir jetzt so oft hatten“, berichtete Buhlschaft Altenberger zuletzt hier im Interview. „Wir haben drinnen sehr gute Abende. Und ich kann sagen, es muss niemand enttäuscht sein, dieses Stück drinnen zu sehen“ – mehr dazu in „Die Buhlschaft ist eine moderne Frau“.

Intimität statt Welttheater scheint das Motto dieser auf Lars Eidinger zugeschnittenen Inszenierung zu sein, die in der Art, wie er die Rolle anlegt, schlicht und still von ihm dominiert wird. Das medial inszenierte Verhältnis zur Buhlschaft ist bestenfalls eine Fußnote in dieser Lesart.

Eidingers Zugang zum „Jedermann“, so darf man behaupten, lebt besonders im Indoor-Setting auf. Da tut es wenig zur Sache, dass das Publikum in der ersten halben Stunde einmal Orientierung sucht und eigentlich niemand sagen kann, was dieser Jedermann denn will. Seine Rolle als reicher Edelmann scheint ihm so ungewollt auf dem Leib geschneidert wie der Fat-Suit der Anfangsszene.

Ein Stück steht Kopf zur Tradition

Dieser Jedermann trägt die Buhlschaft auf den Schultern. Tatsächlich aber steht dieses Stück Kopf gegenüber allen bisherigen Interpretation der Hauptrolle. Der Jedermann stirbt still in einer Pieta in den Armen des Todes (Edith Clever), der ihn tröstlich-mütterlich in den Arm nimmt. Schon zu Beginn des Spiels hat dieser Jedermann beachtlich viel Vorahnung vom Ende.

Eidinger agiert zwar in einer am Urtext orientierten Fassung, die er sich aber von Anfang an für seine Bedürfnisse zurichtet. Stürzten die Jedermänner vor ihm in den Text hinein und stiegen aufs Gas bei ihrer Tour-de-Force des Weltverbrauches, ist dem jetzigen Jedermann die Welt genug. Stand das Stück bei seiner Uraufführung gegen die Zeit, scheint Eidinger fest entschlossen, der inneren Lesart einer Schicksalsgeschichte den Vorzug gegenüber allen Welttheatervariationen zu geben. Von der Buhlschaft verabschiedet er sich still. Brillant sind nicht zuletzt jene Szenen, in denen Eidinger Schauspielerinnen seiner Kragenweite als Gegenüber anerkennt: Das sind in seinem Fall die Mutter, Angela Winkler, und es ist Edith Clever, die Eidinger still in Richtung Jenseits leitet.

Publikum und Bhne während der Aufführung des „Jedermann“.
ORF.at/Gerald Heidegger
Standing Ovations bei der „Jedermann“-Aufführung am Montagabend

Nur einer trägt hier einen Namen

„HAEC EST DOMUS DEI/IN QUA INVOCABITUR NOMEN EIUS“, Das ist ein Haus Gottes, in dem sein Namen aufgerufen wird, steht als Inschrift über dem Salzburger Dom und als Einblendung auf dem Bühnenhintergrund im Großen Festspielhaus, als der Glaube die Bühne betritt. Eidinger ist bewusst Everyman, der bis zum Ende den namenlosen Reichen ohne Eigenschaften spielen wird, der erst auf dem Weg ins Jenseits zu einer Innensicht kommen wird, diese aber so zelebriert, als wär er mehr mit Tschechow als Hofmannsthal unterwegs.

Das „Jedermann“-Finale

Am 8., 13., 14., 18., 23. und 26. August ist der „Jedermann“ mit Lars Eidinger noch in Salzburg zu sehen. Wenn alle restlichen Aufführungen draußen stattfinden, könnte es auch in diesem Jahr noch 7:7 stehen.

„Wach’ auf, du verrotteter Christ! Mach dich an dein sündiges Leben, zeig’ was für ein Schurke du bist, der Herr wird es dir dann schon geben“ – diese Sätze regen in Salzburg dieser Tage niemanden auf. Sie werden entgegengenommen, als wären sie von Hofmannsthal, dabei hat sie Eidinger dem Morgenchoral des Peachum aus Brechts „Dreigroschenoper“ entnommen.

Das Publikum indoos fest im Griff

An den Festspielhaus-Abenden hat Eidinger sein Publikum komplett im Griff. Die, die zu Beginn verstört waren, werden ihm am Ende stehende Ovationen spenden, so sehr hat sie ein Schauspieler in diesem Setting für sich eingenommen. Dieser „Jedermann“ ist in der Tat eine Baustelle, wie auch hier schon beschrieben.

Die Interpretation der Rolle durch Eidinger ist jedenfalls ein kompletter Bruch mit der Tradition. „Toxisch“, so sagte Eidinger in einem Interview, sei die Männlichkeit des Jedermann. Er macht daraus einen Weg ins Jenseits, der nur übers Innerliche führt. Gerührt nimmt er am Ende des Abends ganz kurz allein die Ovationen entgegen. Er hat sein Schauspiel dieser Form des Welttheaters aufgeprägt. Das sorgt nach jeder Inszenierung für Diskussionen um die Ausrichtung des „Jedermann“ – und das wiederum kann der Aktualität des Stückes und seiner Verankerung in ganz breiten Schichten nur gut tun.