Szene aus „Intolleranza 1960“
APA/Barbara Gindl
Premiere in der Felsenreitschule

„Intolleranza“ als politisches Welttheater

Die Inszenierung von Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ durch Ingo Metzmacher und Jan Lauwers bei den Salzburger Festspielen ist mit Spannung erwartet worden. Schließlich traten am Premierenabend am Sonntag ein ausgewiesener Nono-Kenner und ein Regisseur an, für den Provokation das erklärte Ziel seiner politischen Kunst ist, um das schwierige Meisterwerk des Kompositionsstars ins Heute zu holen. Die fulminante Aufführung war ein künstlerischer Erfolg, auch wenn sich das Publikum teilweise schwer damit tat.

Eine Gruppe von Folteropfern, die mit aufgerissenem Mund starr ins Publikum blicken – diese Darstellung eines stummen Schreis nach etwa der Hälfte der 90-minütigen Spielzeit war ein eindringliches Sinnbild für die packende und fordernde Inszenierung von Nonos „Intolleranza 1960“, die Lauwers und Metzmacher am Sonntagabend in die Salzburger Felsenreitschule setzten. Die Erwartungen an den Premierenabend waren hoch. Das lag zum einen daran, dass dem Werk seit seiner Uraufführung der Ruf vorauseilt, auf einer Stufe mit Werken wie Alban Bergs „Wozzeck“ zu stehen.

Zum anderen hatten im Vorfeld sowohl der ausgewiesene Nono-Spezialist Metzmacher als auch Lauwers mit Äußerungen die Erwartungen in die Höhe getrieben. So ereignet sich laut Metzmacher in der Musik der Moderne insgesamt, besonders aber bei Nono „ein veritabler Ausbruch aus einem Klangraum, der noch im 19. Jahrhundert bindend zu sein schien“, weshalb „herkömmliche Säle diese Musik eigentlich nicht aushalten“. Die Felsenreitschule mit ihrer Akustik sei bei der Unternehmung einer Nono-Inszenierung aber ein „Glücksfall“.

Wider die Schönheit der Politik

Lauwers wiederum hatte für seine Umsetzung von Nonos „azione scenica“ (szenische Aktion) gegenüber ORF.at angekündigt, sie werde „wie ein Faustschlag ins Gesicht“ wirken. Ihm gehe es, so Lauwers im Vorfeld, um folgendes Verständnis politischer Kunst: „Politische Kunst zerstört die Schönheit der Politik. Die Schönheit der Politik liegt darin, dass Menschen miteinander reden und einen Kompromiss suchen.“

Es war also ein Versuch der Konsensstörung, den die beiden mit den Wiener Philharmonikern und insgesamt 167 Darstellerinnen und Darstellern angingen. Ab der ersten Minute brachte diese Gruppe Nonos Werk um einen namenlosen Emigranten (fantastisch gesungen von Sean Panikkar), den es nach harter Bergwerksarbeit in der Fremde nach Hause („la mia terra“) ins Po-Delta zieht, als rastloses Körper- und Bewegungstheather auf die Bühne.

Szene aus „Intolleranza 1960“
APA/Barbara Gindl
Die Salzburger „Intolleranza“ wurde mit 167 Darstellerinnen und Darstellern zum großen Bewegungstheater

Das Libretto, das der überzeugte Kommunist Nono nach einer lange angebahnten und missglückten Zusammenarbeit mit dem Dichter Angelo Maria Ripellino auf Basis von dessen Vorarbeit und in der Entstehungszeit politisch brisanten Texten etwa von Jean Paul Sartre dann selbst schrieb, wurde im italienischen Original gesungen.

Das erwies sich als tragfähige Entscheidung: In den allermeisten Aufführungen seit der skandalumwitterten, durch agitierende neofaschistische Gruppen gestörten Uraufführung bei der Biennale di Venezia 1961 wurde auf die deutsche Übersetzung von Nonos Freund und Gesinnungsgenossen Alfred Andersch zurückgegriffen, der aber an einigen Stellen mit Bedacht auf die Singbarkeit umdeutete.

Am Beispiel der Decke

Der heimkehrende Emigrant wurde auf der Bühne sofort nach seinem Aufbruch in eine Festhalte- und Massenkontrollszene verwickelt, in der die Darstellerinnen und Darsteller von Lauwers’ Needcompany und Tänzerinnen und Tänzer der Salzburg Experimental Academy of Dance und des Ensembles Bodhi Project keinen Zweifel daran ließen, dass sich Nonos Allegorie der politischen Intoleranz, die er beispielsweise in die Chiffren des Algerien-Krieges und des Atombombenangriffs auf Hiroshima kleidete, heute vor allem im Schicksal von Flüchtenden aktualisiert.

Szene aus „Intolleranza 1960“
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Der Emigrant (Sean Panikkar) auf dem beschwerlichen Weg in die heimatliche Po-Ebene

Diesen Schutzlosen bleibt nichts als die Kraft der eigenen Beine, die Kleidung am Körper und vereinzelt eine Decke, die Lauwers als einziges zuordenbaren Requisit geschickt als optisches Leitmotiv immer wieder aufnahm. Etwa nach der zentralen Folterszene, in der über zwanzig Minuten parallel in diversen Gruppen erschütternd systematisch und realistisch geschlagen, gewürgt und gedemütigt wurde. Lauwers betonte vor der Aufführung immer wieder, wie zentral Ambivalenz in seiner Kunstauffassung sei. Tatsächlich wurden geschickte Ambivalenzen zum dramaturgischen Kniff, der die Salzburger „Intolleranza“ zum Ereignis fern jeder Tendenzkunst machte.

So kippte beispielsweise die Folterszene mit zunehmender Erschöpfung der Folterer und abnehmendem Widerstand der Gefolterten – hinein in Szenen einer Interaktion, in der sich Gewalt, Demütigung, Anziehung und eine nur angedeutete Zuneigung bis hin zur Ununterscheidbarkeit vermischten.

Das Zittern des blinden Dichters

Die wesentliche Intervention Lauwers’ in Nonos Libretto war die Einführung einer zusätzlichen Figur. Dieser blinde Dichter (grandios verkörpert von Lauwers’ Sohn Afung) stand während des ersten Teils zitternd am Bühnenrand, um hinein in eine Szene, in der die gerade noch in Täter und Opfer getrennte Masse, als sich amüsierendes Wohlstandsbürgertum erschien. Das wütende Poem des Dichters übertönte nach und nach das Gelächter, um kurz Betroffenheit auszulösen, bevor die Masse den Dichter zum Opfer machte – ein lapidarer und bitterer Kommentar zum politischen Gehalt dieses großen Musikdramas, den man durchaus als gegen das Publikum gerichtet verstehen durfte.

Szene aus „Intolleranza 1960“
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Zitternd am Bühnenrand stand der blinde Dichter (Afung Lauwers), bevor er zu seinem Klagegedicht anhob – um danach zum Opfer zu werden

Hinweis

„Intolleranza 1960“ ist im Rahmen der Salzburger Festspiele insgesamt noch dreimal bis 29. August in der Felsenreitschule zu sehen. Ö1 überträgt eine Aufzeichnung des Premierenabends am 26. August um 19.30 Uhr.

Für die „Intolleranza“ plante er Einspielungen mancher Chorpassagen über seitliche Lautsprecher, um ein Klangfeld im Raum zu erzeugen. Metzmacher trieb diese Idee weiter, indem er 12 Trommler links der Bühne und unter anderem Pauken, Harfen und Vibraphon rechts der Bühne postierte, welche die 26 Bläser und 40 Streicher aus dem Orchestergraben zu einem „Klangfeld“ von großer Intensität erweiterten.

Freejazz und „Black Lives Matter“

Wie überaus modern und avanciert Nonos – laut Metzmacher „archaische“ – Partitur zur Entstehungszeit war, konnte man bei der Premiere nachspüren. Ein ungemein wichtiges Instrument in Nonos Komposition ist die mal flüsternde, mal schreiende Trompete. Erst in der historischen Distanz wurde bewusst, wie nahe sich der Schönbergadept und -schwiegersohn Nono hier in Bereiche vortastete, die an den Freejazz beispielsweise eines Don Cherry erinnern.

Der Freejazz amerikanischer Prägung – vom späten John Coltrane über Ornette Coleman bis hinauf zu aktuellen Nachfolgern wie Ambrose Akinmusire, dessen Trompete auch gehörig kreischt, sobald es daran geht anzuklagen – war immer auch verbunden mit Analyse und Bewusstmachung der eigenen gesellschaftlichen Situation gerade unter Bedingungen des systematischen Rassismus.

Diese Wahlverwandtschaften aus musikalischer Avantgarde und politischem Aufschrei konnten am Premierabend etwa an jener Stelle, an der einer der Gefolterten die berühmten Worte George Floyds „I cant’t breathe“ sprach, herausgearbeitet werden. Diese Engführung war nur eine der geglückten Wagnisse dieser fulminanten Salzburger „Intolleranza“.

Der Schrei der Masse

Ein immer wieder aufgenommenes Motiv war ein anklagender Schrei, den das gesamte Bühnenpersonal direkt an das Publikum richtete, das bei ausverkauftem Haus nur rund zehnmal mehr Menschen umfasste als auf der Bühne zu sehen waren. Der Schrei, der auch in seiner stummen Variante nach der Folterszene am Sonntagabend eine starke emotionale Wirkung freisetzte, war schon in der frühesten Phase in der Nono die Ideen für sein Werk entwickelte, zentral.

Intolleranza 1960 | 2021: Ensemble
SF/Maarten Vanden Abeele
In der zentralen Folterszene verausgabten sich Opfer und Täter bis zur Uneindeutigkeit der Machtverhältnisse

Michelangelo Antonionis frühes Meisterwerk „Il grido“ (Deutsch: Der Schrei) von 1957 handelt von der Armut in der Poebene nach dem zweiten Weltkrieg, in der viele Arbeiter, wie der Protagonist Aldo zur Arbeitsmigration gezwungen waren um zu überleben. Aldos bei Antonioni Titelgebender Schrei geisterte durch diese „Intolleranza“, bis hin zur finalen Szene, in der eine Überschwemmung in der Poebene die Träume des Protagonisten zunichte machte.

Wie Lauwers hier mit Videoprojektionen die Ikonografie der Nachrichtenbilder, welche die aktuellen Migrationsbewegungen begleiten, auf den zugemauerten Arkaden zu einer Szene, die die Überschwemmung am Po mit dem Sterben im Mittelmeer zusammen dachte, war eine bittere, aber sinnfällige Pointe.

Am meisten Applaus erntete neben Panikkar und Sun der musikalische Leiter Metzmacher. Deutlich schwerer tat sich das Premierenpublikum mit Lauwers, der neben Applaus auch einzelne Buhrufe abbekam. Nachdem Lauwers aber mit dem Anspruch zu provozieren angetreten war, kann man den Abend als großen Erfolg für seine Salzburger „Intolleranza“ werten.