Bild von Jens Harzer
Horst Galuschka / dpa / picturedesk.com
Romantik für die Gegenwart

Ein Instrument namens Jens Harzer

Was hat die Romantik in unseren nüchternen Zeiten zu suchen, in der auch die Kunst vorwiegend auf Sachlichkeit setzt? Eine ganze Menge, beweisen die Camerata Salzburg unter Dirigent John Eliot Gardiner, der Monteverdi-Chor und Ausnahme-Schauspieler Jens Harzer bei einem Schumann-Abend im Haus für Mozart. Dabei macht es ihnen Schumann selbst gar nicht leicht.

Androgyne Männer, die eine Rose sein wollen, die unverwelkt gepflückt wird (Lord Byron), mehrere Identitäten in einem Leben („Geister-Theo“ vulgo E.T.A. Hoffmann) oder Drag Queens, die als She-King auftreten – so fremd fühlt sich das Personal in der romantischen Literatur heute gar nicht an. Wenn die um Individualität Ringenden auch noch gern ihr Leben die Klippen herabwerfen gegen das ewige Muster des materiellen Wachstums und für die Einbettung des Menschen in einen größeren Naturzusammenhang, dann klingt das auch nicht viel anders als Billie Eilish oder Greta Thunberg – nur viel, viel schöner.

Den Auftakt beim Konzert am Donnerstagabend im Haus für Mozart gibt Robert Schumanns „Requiem für Mignon“, das ja Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ entlehnt ist. In seinen 30ern will Schumann mehr, über die Meisterschaft seiner Klaviermusik hinaus. Symphonisch soll es sein, Orchester, Chor, Solostimmen. Nach selbst durchlebten „Melancholien“ fällt sein Interesse auf Mignon, der leidenden Liebenden, die bei Goethe ihre Leidenschaft – natürlich, möchte man bitter sagen – mit dem Tod bezahlt.

Schwebende Klangwelle

Eliot Gardiner gestaltet die vertonte Totenfeier der Mignon als schwebende Klangwelle, die jederzeit zu brechen droht, es aber nicht tut. Der Wechselgesang zwischen Solostimmen (Klage) und Chor (Trost) flirrt so luftig übers Orchester hin zum Publikum, dass die Schwerkraft aufgehoben scheint. Da ist es, dieses „Dazwischen“, das direkt dem Wesen der Mignon entspringt, die zu Goethes Zeiten noch als „homosexueller Liebling“ galt, durchaus als Frau wahrgenommen. Heute würde man sagen „non-binär“, kurz „enby“.

Schon nach 20 Minuten darf das Publikum sich bewegen und klatscht begeistert. 12 Minuten später ist auch Schumanns „Nachtlied“ nach Friedrich Hebbel für Chor und Orchester mit überraschenden harmonischen Wendungen und aufregenden Dramen zwischen Dur und Moll in Richtung Festung verflogen. Pause. Nach 32 Minuten höchstem musikalischen Niveau, das auch Camerata-Gründer Bernhard Paumgartner gefreut hätte, einem engen Begleiter von Max Reinhardt. Festspiel-Alltag. Aber dann nimmt der Abend eine aufregende Wende.

Der stille Auftritt

Schüchtern, als gehöre sie nicht wirklich dazu, oder wie ein sich leise einfügender Bühnenarbeiter, betritt eine schlanke, große Gestalt im zweiten Teil die Bühne, als der Applaus für Dirigent und Orchester gerade abebbt. Sie fädelt sich kaum merklich hinter ein Notenpult. Jens Harzer, gefeierter deutscher Bühnenstar, schaut dabei nicht ins Publikum. Das wiederum kann für die folgenden eineinhalb Stunden nicht mehr von ihm wegschauen.

Lord Byrons „Manfred“ in der Tradition der gothic novel gehört zu den wichtigsten Werken der „Schauerliteratur“. Vorbild für Dichter wie Edgar Allan Poe und mit seinen bildgewaltigen Schilderungen auch für den frühen Stummfilm bis zur heutigen gaming Kultur und natürlich die ewig todessehnsüchtige Gothic-Bewegung. Robert Schumann versammelt erneut Chor, Orchester, Solostimmen, doch wagt dazu etwas Ungewöhnliches: Sprecherstimmen. „Das Ganze müsste man dem Publikum nicht als Oper oder Singspiel oder Melodram, sondern als dramatisches Gedicht mit Musik ankündigen – etwas ganz Neues, Unerhörtes“, schrieb er 1849 begeistert an Liszt.

Musik und Text fließen ineinander

Musik und Text fließen dabei ineinander, überlappen, stehen streckenweise für sich. Jens Harzer muss vier, fünf unterschiedliche Rollen allein bewältigen, seine Stimme zwischen aufsteigenden Streicherklang oder galoppierenden, plötzlich verebbenden Paukenschlag schmiegen, ohne die Musik zu übertönen oder zu leise zu sein. Die Präzision der Einsätze verlangt einem Schauspieler alles ab. Wie zuvor Gert Voss oder Bruno Ganz das fast Unmögliche schon probiert haben. Hinzu kommt, dass Sprache, zumal die deutsche, sich nicht immer in Musik betten lässt. Harzers Virtuosität schafft das fast immer. Wo er scheitert, lässt ihm Schumann keine Chance.

Der in allem so bewegliche Schauspieler gestaltet den an inzestuöser Liebe zu seiner Halbschwester Astarte vergehenden Manfred moderner als die alten Granden der Schauspielkunst. Dem früheren Pathos setzt er Zweifel entgegen. Sein Held ist kein Klagender. Ein Zerrissener ist er, zwischen Erschöpfung und aufbäumendem Protest.

Das Aufregendste, völlig Neue an der Gestaltung dieser Figur aber ist Harzers Körperlichkeit. Sein Möglichkeits-Raum auf der Bühne ist: Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere. Mehr Platz ist nicht. Die Hände meist fest am Pult, vibriert, zittert der Schauspieler derart zurückhaltend, umflort in angedeuteten, kaum angesetzten Wellenbewegungen die Musik. Unbändige Kraft fließt aus diesem Körper, sein Atem scheint den Gesang mitzuhauchen, die Lippen bewegungslos.

Als wäre er das Gesamt-Instrument dieser Aufführung, die Leibhaftigkeit von Klang. Ab und zu schaut sich Jens Harzer nach Chor und Orchester um, als würde er zu ihnen sagen: „Kommt mit mir in den Tod“ oder „Stellt euch mit mir gegen ihn“. In seiner Einsamkeit dieses schweren Stückes sucht und findet er Mitspieler:innen in allen, die auf der Bühne stehen,

Schumann und die Kehre

Byron stellt in seinem Werk die skeptische Frage der Moderne nach der Möglichkeit der Freiheit des Einzelnen inmitten von Normierung. Das macht ihn so modern. Schumann weicht diese tiefe Sehnsucht nach dem Leben in einem anderen – einem anderen Körper, einer anderen Identität – leider auf. Obwohl Manfred im Angesicht des Todes geistlichen Beistand ablehnt und damit seine Individualität behauptet, erklingt hinter der Szene ein Klostergesang, das eingefügte „Requiem aeternam dona eis!“. Damit vergräbt der Komponist den Titelhelden in Erlösung, an die ein echter Romantiker nicht glaubt, glauben kann.

„Sie sind ja so jung!“, soll es dem Dirigenten entfahren sein, als er Harzer das erste Mal zur Probe dieser Festspiel-Produktion erscheinen sah, so flüstert es der Flurfunk in der Hofstallgasse. Sir John Eliot Gardiner, der Meister historischer Aufführungspraxis, dem die Musik so viel zu verdanken hat, kann am Ende nur froh gewesen sein, in Jens Harzer einen derart präzisen „Manfred“ gefunden zu haben, vom donnerndsten Flüstern bis zum zartesten Schreien.