Reigen-Gesellschaft tanzt vor dem Spiegel
Lucie Jansch
Harter „Reigen“

Schnitzler und die „Puderanten“

Wer vom Theater Gegenwärtigkeit will, bekommt darin Klassiker, die bestenfalls noch Vehikel sind. Zumindest auf der Bühne von Yana Ross. Arthur Schnitzlers „Reigen“ wird bei ihr vom Skandalstück über Lust und Begehren gegen die bürgerliche Moral zur Brachialabrechnung für eine Gesellschaft, die für jede Form des Begehrens eine YouPorn-Antwort zu haben meint. Den „Puderanten“, wie es zu Beginn heißt, bleibt nur noch der Schuss aus der Glock in den Po.

„Skandal“ skandiert ein Herr auf der hinteren Bank recht einsam Donnerstag in der Nacht in den Zuschauerraum, als nach zweieineinhalb Stunden die „Reigen“-Premiere in der Szene Salzburg zu beklatschen war. Das etablierte Publikum reagierte mit Staunen und Ärger: „Aber das war doch gar nicht Schnitzler!“ Stimmt, könnte man sagen, und eigentlich war es vielleicht auch eine gute Form von Verpackungsschwindel. Man hätte natürlich auch genau auf das Programmheft schauen können, auf dem „Nach Schnitzler“ stand. Und es mit der Regie kombinieren.

„Reigen“, das meint bei der erfolgreich in Zürich werkenden Ross jedenfalls Gesellschaftspersiflage – und nicht wie bei Schnitzler: Aufbrechen der Gesellschaftsscheinmoral über zehn Dialogpartien, die immer Zweierstücke sind – und in die sich der Autor mit seiner eigenen Begehrensanfälligkeit gleich mit hineingeschrieben hatte. Schnitzlers „Reigen“ war vielleicht der Skandal der Theatergeschichte schlechthin – und ebenso lange auf Wunsch des Autors ja selbstverordnet „verboten“.

Salzburger Festspiele: „Reigen“-Neuinszenierung

Arthur Schnitzlers „Reigen“, 1920 skandalträchtig in Berlin uraufgeführt und bis 1982 von ihm selbst mit einem Spielverbot belegt, ist jetzt Vorlage für einen außergewöhnlichen Theaterabend. Bei den Salzburger Festspielen hat man zehn zeitgenössische Autorinnen und Autoren eingeladen, Schnitzlers einstiges Skandalstück über sexuelle Begehrlichkeiten neu zu schreiben.

„Was passiert, wenn nicht mehr ‚geliefert‘ wird?“

Ross wollte von zehn bekannten und quer durch alle Felder und Kulturen aufgestellte Autorinnen und Autoren wissen, wie man heute den „Reigen“ schreiben würde. Und die Vorgabe war wohl, wenn: Wie geht eine Gesellschaft mit den bei Schnitzler verhandelten Themen um? In einer Situation, wo ja nicht der Tabubruch, sondern, wenn, die Erwartungserfüllung das große Thema ist.

Hinweis

Die Vorstellungen des „Reigen“ in Salzburg sind alle ausverkauft. Regulär ist das Stück ab Herbst in Zürich zu sehen. Nicht ausgeschlossen, dass nach den Kritiken Karten retour kommen.

„Was passiert, wenn nicht mehr geliefert wird?“, fragte die Regisseurin bei einem Terrassengespräch im Vorfeld. Lydia Haider, Sofi Oksanen, Leila Slimani, Sharon Dodua Otoo, Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, Kata Weber, Jonas Hassen Khemiri und Lukas Bärfuss haben die Schnitzler-„Überschreibungen“ vorgenommen, die, wie es programmatisch heißt, den „Reigen“ erneut als kollektiven „Totentanz“ vorstellten. Das ist strategisch richtig gedacht, zieht aber der Vorlage einen entscheidenden Zahn: die dramatische Struktur.

Der „Reigen“ entwickelt ja seine Zentrifugalkraft aus dem dramaturgischen Innenraum – die Dirne, die den Soldaten verführt und beim Vorschlag des Tuns auf der Bank gleich die Metareflexion unausgesprochen mitliefert.

Die Dirne und der Offizier in der jetzigen Inszenierung
Lucie Jansch
Matthias Neukirch, Sibylle Canonica, Urs Peter Halter, Yodit Tarikwa, Michael Neuenschwander – nicht zuletzt ein großartiges Ensemble macht aus diesem „Reigen“ dann doch ein Ereignis auf abgetretenem Plüsch

„Ihr Großgoschen und Danebenbrunzer“

Bei Haider etwa sitzt man bei einem österreichischen Bankett, spricht, so will es die Regie, noch im nasalen Tonfall der Schnitzler-Zeit, wirft aber dem am Bankett sitzenden Offizier alles um die Ohren, was in der Gegenwart hochkommt. Offen wird gezeigt, dass es ohnedies keine Regeln mehr gibt. Man setzt sich auf die Frau des Nebenpaares, flirtet derweil mit der Nachbarin. Ja, im Kern könnten es „die Dirne“ und „der Soldat“ sein. Die Dirne ist aber Gesellschaftsdame geworden, die dem zum Offizier gewachsenen Soldaten „das Scheißhaus“ Österreich um die Ohren haut.

„Ihr losen Besen, Buberln, Saubarteln, ihr Puderanten ihr, erhabene Großgoschen und Danebenbrunzer“, führt die großartige Sibylle Canonica nicht nur den Soldatenstand vor, sondern eine Gesellschaft, die ohnedies nur noch zum Schein den Anstand wahrt. Der Soldat rebelliert und übergießt alle mit Sprudel, bevor er Gaston Glock ein Schlaflied singt und seine Dienstwaffe in sein eigenes Hinterteil steckt.

Austexten, nicht andeuten ist das Motto dieses Abends (im dem es tatsächlich viel um die Handhabung von Glock-Pistolen geht). Es ist ein Abend, der mit einem großen Ensemble besetzt ist und einer Bühne mit Plüschboden und gekipptem Spiegel, in dem bei jedem Schritt das Zerrbild der Sozietät deutlich wird. Augenfällig wird in dieser Koproduktion mit dem Schauspiel Zürich, wie sehr Ross mit ihrem eingespielten Team eine Leerstelle auf dem Theater nach der Volksbühne-Zeit eines Frank Castorf zu nutzen weiß.

Man kann hier natürlich mit der Beleidigtheit des Altösterreichers rausgehen und es für einen guten Verkaufsschmäh halten, über ganz neue Dialoge die alte Struktur der Schnitzler’schen Dialogaufstellungen drüberzuschreiben.

Ein Lehrstück für Salzburg

Letztlich ist es aber ein Lehrstück für Salzburg und eine Erinnerung daran, dass Moral auch eine Konsequenz des Welttheateranspruchs ist. Bisher wissen wir von der Existenz des Bösen unter uns, wenn man auf die Bühne des Musiktheaterprogramms dieser Tage schaut. Auf dem Boden der Sprechstücke ist die Salzburger große „Genealogie der Moral“ doch die, dass man zwei Stunden durch einen Reinigungsvorgang geht, geläutert vor dem Herrn steht und immer auch auf all die anderen verweisen kann, die es genauso gemacht hätten – „pater, peccavi“. Man ist nie allein in der Welt der „Puderanten“ nach Schnitzler.