Sebastian Zimmler, Jirka Zett,
Salzburger Festspiele / Krafft Angerer
„Iphigenia“

In Flossen gegen den Familienfluch

Bringt die Aktualisierung großer Klassiker notwendigerweise eine Verflachung, wie zuletzt von der Kritik beim „Reigen“ in Salzburg bemängelt? Mitnichten. Zumindest nicht die Überführung des großen Opfermythos in der Geschichte des Abendlandes, der Iphigenie, in die Gegenwart. Was, wenn die Konflikte in einer der schrecklichsten Familien der griechischen Mythologie, der Atriden, noch einen anderen Ursprung hätten, fragt die Dramaturgin Joanna Bednarczyk – und legt mit der Regisseurin Ewelina Marciniak ein großes Philosophicum und Theaterereignis hin.

Dass es kluge und weniger kluge Klassikerbearbeitungen gibt, ist wohl eine Binsenweisheit. Und hätte man nicht schon so viele flache Überführungen großer Stoffe in die Gegenwart erlebt, man wäre nicht so gewarnt vor den gut gemeinten Aktualisierungen. Von Goethes „Iphigenie auf Tauris“ zur Iffi Zenker der „Lindenstraße“ ist es mitunter ein Katzensprung. Doch was man am Donnerstagabend auf der Perner-Insel in der Gastproduktion des Hamburger Thalia Theaters bei den Salzburger Festspielen erleben durfte, war ein großes Nachdenkstück ebenso wie ein gelungener Theaterabend, bei dem alle Register gezogen wurden.

Was, so fragen Dramaturgin Bednarczyk und Regisseurin Marciniak, macht einen Mythos für die Gegenwart relevant? Ihre Antwort: wohl der Umstand, dass nicht ein externer Grund ins Verderben führt, sondern nur der innere Antrieb der handelnden Menschen, vor allem in einem Familienverbund wie jenem rund um die angeblichen Vorzeigegriechen Agamenon, Klytämnestra und Menelaos.

Zwar lastet über den Atriden der Fluch der Götter, dass bis zur fünften Generation mindestens ein Mitglied der Familie Gewalt gegen die eigene Sippe richtet, was eine unheilvolle Folge von Gewalt und weiteren Verbrechen nach sich zieht. Doch ist es hier nicht die Tat des Orest gegen seine Mutter Klytämnestra, die die Autorinnen interessiert, sondern die hehre Figur der Iphigenie im Spannungsfeld der Familienmitglieder.

v.l.n.r.:  Jirka Zett, Lisa-Maria Sommerfeld ,Christiane von Poelnitz, , Sebastian Zimmler, Rosa Thormeyer, Stefan Stern
 
Foto:
Salzburger Festspiele / Krafft Angerer
Salzburger Festspiele / Krafft Angerer
Der Abend einer schrägen Familienaufstellung, an dem sich die Opfer von der Rolle befreien, dass immer die anderen von ihren reden

Das Opfer Iphigenie und eine alte Projektion

Bei Euripides steht Iphigenie wie das ideale Opfer vor uns. Hinterlistig getäuscht vom Vater Agamemnon bekommt sie nicht Achill zum Mann und willigt in ihre eigene Opferung ein, damit der günstige Wind für den großen Krieg gegen Troja wehen kann. Artemis rettet Iphigenie bekanntlich von der Schlachtbank. Doch der Preis ist ein Leben im Exil, auf Tauris, weit weg von der ewigen Heimat, was Goethe bekanntlich in das larmoyante Bild „das Land der Griechen mit der Seele suchend“ packt.

2022 ist Iphigenie aber nicht mehr auf der Suche nach der Heimat, auch wenn sie im zweiten Teil des Abends, als die Holzbühne zum Wasserbad umgebaut wird, auf Tauris gestrandet, tatsächlich die eigene Vergangenheit herbeierinnert und durchaus einem Ideal nachhängt. Doch Iphigenie weiß in der Gegenwart: Die Erinnerung an das, was passiert ist, stellt die einzige Chance dar, dem Schicksal zu entkommen. Nicht, weil man sich selbst therapieren kann. Sondern weil sich nur so Geschichte nicht mehr wiederholt.

Rosa Thormeyer als Iphigenia
Salzburger Festspiele / Krafft Angerer
Rosa Thormeyer als junge Iphigenie, die auch der Vater als Klaviertalent fördern will

„People are stuck in their lives“

Die „Opfer-Tat“ dieser Iphigenie ist die Rolle der Therapeutin aus einer Perspektive der Illusionslosigkeit. „People are stuck in their lives“, sagt Oda Thormeyer als ältere Iphigenie, während ihre Tochter Rosa Thormeyer die junge Iphigenia im unglücklichen Familienverbund spielt und den erlittenen Taten einen Namen zu geben versucht. Beide liefern eine großartige Performance an diesem starken Ensembleabend.

Iphigenie ist in diesem Stück von Menelaos (Stefan Stern) missbraucht worden. Und Agamemnon? Er (Sebastian Zimmler) ist Ethikprofessor, Kierkegaard-Kenner und im Besitz des theoretischen Wissens vom Guten und Bösen. Vor allem aber weiß er, wie es dem Opfer nach einer erlebten Tat ergeht – es bekomme einen Sinnverlust von außen aufgedrängt, verkündet er. Seine Tochter Iphigenie ist sein Augapfel; unglücklich ist er, der Denker, mit einer Schauspielerin, Klytämnestra (Christiane von Poelnitz), verheiratet, während er doch die Frau seines Bruders, Helena (Lisa-Marie Sommerfeld), begehrt hatte.

Rosa Thormeyer,  Sebastian Zimmler, Oda Thormeyer
Salzburger Festspiele / Krafft Angerer
Agamemnon mit seinen zwei Iphigenien

Den Missbrauch erklären immer die anderen

Als Iphigenie vom Missbrauch durch den Onkel erzählt, ist Agamemnon vor allem um den eigenen Ruf besorgt, hat er doch gerade sein Opus magnum zu allen Fragen der Ethik veröffentlicht. Gemeinsam mit seinem Bruder, aber auch seiner Frau, die wie er erst spät von dem Missbrauch erfahren haben will, sucht er nach einer gesichtswahrenden Lösung für die gesamte Sippe. Und die bedeutet Schweigen nach außen.

Iphigenies Flucht nach Tauris ist die einzige Chance, dieser Vertuschung zu entkommen und sich von der Last, dass immer die anderen das Narrativ des Opfers bestimmen, zu entziehen. „Nenne meinen Namen nicht mit eurem“, ist der zentrale Satz des Abends, an dem so viele Grundsatzfragen sehr klug, sehr dicht – und noch dazu schauspielerisch brillant auf die Bühne gebracht sein mögen. Entscheidend ist, dem Narrativ der anderen zu entkommen.

Als Iphigenie als ältere Frau auf Tauris ihrem älter gewordenen Bruder Orest (Jirka Zett) begegnet, der vor ihr die begangene Tat an der Mutter nacherlebt, erkennt sie, dass das äußere Drama vor der Geschichte immer höher bewertet würde als das innere, vertuschte. Dennoch, und das ist vielleicht ihre große, starke Seele, schafft sie es, dem Orest am Schluss eine Botschaft mitzugeben: Zieh deine Rolle aus, lege sie ab – und stelle sie weit von dir weg in den Raum!

Hinweis

„Iphigenia“ ist im Rahmen der Festspiele auf der Perner-Insel in Hallein noch am 19., 21., 23., 24., 26., 17., und 28. August zu sehen.

Das Ende der Außenperspektive

Die große Leistung dieses Stücks ist tatsächlich die Therapie, die die Autorinnen der jahrhundertelangen Lesart des Stoffes zukommen lassen. Nicht mehr die Perspektive von außen entscheidet, was allen Projektionsformen die Interpretationsmacht nimmt. Iphigenie tritt als handelndes und reflektierendes Ich doppelt auf. Sie weiß, dass sie nicht das ändern wird, was ihr widerfahren ist. Auch dass sie nicht den weiteren Verlauf der eigenen Geschichte in ihrer Generation stoppen kann.

Szene aus „Iphigenia“
ORF.at
Iphigenie mal zwei beim Schlussapplaus: Rosa und Oda Thormeyer vor dem brennenden Klavier

Aber sie ist mächtig genug, gegen die Überlieferung anzutreten. Es ist in diesem Sinn eben nicht ein Aufstand nur gegen ein „patriarchales System“, wie es das Programmheft verkündet. Es ist die Verbindung mit dem weiteren Opfer, ihrem Bruder, in einem Aufstand gegen die Eltern, die sich die Familiengeschichte so zurechtlegen, dass die Kinder tatsächlich keinen Handlungsspielraum mehr haben.

Die Eltern, sie leben eben nicht das Leben ihrer Kinder, sondern bloß ihr eigenes. So wie die Kinder die Option und Freiheit bekommen wollen, die zugedachte Familienrolle, den Fluch(!), abzulegen. Um im eigenen Leben zu reüssieren – oder selbst zu scheitern. Ein kluger Abend, der teilweise so dicht war, dass er fast nicht in die knappen drei Stunden der Aufführung gepasst hat.