Privatsammler und -sammlerinnen sowie Institutionen wie das Wien Museum haben 150 Jahre der Korrespondenz via Ansichtskarten bewahrt. Damals gab es von jedem Wiener Gässchen eine eigene Karte – sie gehörten zum Alltag wie heute Soziale Netzwerke. „Liebe Meni! Ich sitze gerade im Türkenschanzpark auf einer Bank und schreibe euch. Gestern abend war ich in einem sehr interessanten und schönen Kino. Viele Grüße Grete.“ Diese Nachricht von geradezu humoristischer Inhaltsleere wurde im Mai 1931 verfasst. Zu sehen ist auf der Postkarte eine Ansicht des Wiener Türkenschanzparks, wie sie heute wohl nicht mehr zum Kauf angeboten würde.
Erfunden wurde die „Correspondenz-Karte“ in den 1860er Jahren in Deutschland, anfangs noch als reines Textmedium oder mit kleinen Bildern, bei denen auf der Rückseite nur die Adresse stehen durfte. Später wurden die Bilder immer dominanter, das Textfeld wechselte auf dieselbe Seite wie die Adresse. Um die Jahrhundertwende gab es einen wahren Boom: Ansichtskarten waren bald auch beliebtes und preiswertes Sammelobjekt, sagt der Historiker Sandor Bekesi vom Wien Museum gegenüber ORF.at.
Jeder Gasse ihren Auftritt
Zwischen 1895 und 1918 habe es, so Bekesi, in europäischen Großstädten „praktisch von jeder größeren Straße und jedem Platz eigene Ansichten auf Postkarten“ gegeben. Das trifft auch auf Wien zu: Im Ansichtskartenarchiv des Wien Museums existieren von fast der gesamten Innenstadt und bis weit in die Außenbezirke hinaus Abbildungen selbst von kleinen Gassen. Wie sich eine Stadt für sich selbst und nach außen zeigt, wurde von diesen Bildern mitbestimmt, auch wenn die meisten der Verlage keine offiziellen Ansichten abdruckten.
Der kleine Luxus
Lange waren Postkarten die preiswerte Alternative zum Brief: Botschaften bis zu fünf Grußworten gab es gar zum besonders niedrigen Tarif, ein telegrammartiger Stil wurde vom deutschen „Erfinder“ der Postkarte 1865 ausdrücklich empfohlen. Seit 1. Juli 2018 ist das Versenden von Ansichtskarten ein kleiner Luxus: 0,80 Euro kostet das Versenden im Inland, 0,90 in Europa und 1,80 Euro weltweit.
Die Fülle an Motiven und die schiere Menge an versendeten Karten – 276,7 Millionen Stück waren es auf dem Höhepunkt der Begeisterung im Jahr 1912 – sind auch auf die Funktion zurückzuführen: „Damals war es möglich, mittels Postkarte am Vormittag eine Verabredung am Nachmittag im Kaffeehaus zu vereinbaren, weil die Postzustellungen viel häufiger waren“, so Bekesi. „Wer kein Telefon hatte, verwendete für diese Kommunikation eben die Postkarte.“ Die mehrfach tägliche Zustellung gab es in Wien bis zum Ersten Weltkrieg, durch die Konkurrenz des Telefons nahm die Frequenz kontinuierlich ab.
Viele Ansichtskarten wurden allerdings nicht versandt, sondern gleich Teil einer Sammlung. Ein Beispiel dafür ist die Sammlung der Wienerin Else Erxleben, die um die Jahrhundertwende sammelte. Erxleben war mit einem Angestellten der Reichsbahn verheiratet und begleitete ihren Mann mehrmals im Jahr zu Fernreisen. Über 3.500 Ansichtskarten aus ganz Europa liegen dem Wien Museum von ihren Reisen vor, in zehn sorgfältig zusammengestellten Alben.
Holzfurnier, Flitter und Panorama
Das Archiv des Wien Museums, das etwa 15.000 Ansichtskarten vor allem aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg umfasst, ist eine Fundgrube von besonderem Reiz: Da gibt es querformatige Panoramaansichten, es gibt Riesenpostkarten und Karten aus speziellen Materialien, etwa Holzfurnier. Manche Postkarten sind in Prägedruck, andere mit Flitter beklebt. Lithografien und echte Fotografien, Stahlstiche und vielerlei andere Drucktechniken kamen zum Einsatz.
„Für das Jahr 2021 planen wir eine Ausstellung, wo wir die Geschichte der topografischen Ansichtskarte an Wiener Beispielen behandeln werden“, sagt Bekesi. Dabei wird es aber nicht nur wertvolle Ansichtskarten zu sehen geben, wie etwa die bei Sammlern und Sammlerinnen hoch gehandelten Karten der Wiener Werkstätte, sondern auch neuere Ansichtskarten in billigem Offset-Druck, die aufschlussreiche Stadtmotive zeigen, bis herauf in die Gegenwart.
Der altmodische Charme der Ansichtskarte ist nicht vergangen, im Gegenteil: Auf dem Twitter-Account „Postcards from the Past“ sind Fragmente biederer Postkartennachrichten nachzulesen, ein subversives Vergnügen, das sich aus dem fehlenden Kontext ergibt. Die Ansichtskarte mag wie ein Relikt wirken, ähnlich wie – je nach Grad des Kulturpessimismus – Bücher, Papierzeitungen, Tonbänder und Schallplatten.
Kein Instagram auf dem Dachboden
Doch wie haptische Formen von Popkultur erleben auch Postkarten immer wieder eine Renaissance. Modernere Medien lösen sie nicht ab, sondern beide Formen existieren nebeneinander. Begonnen hat das in den 90er Jahren mit der Erfindung der „E-Card“, dem Versenden formal an Postkarten angelehnter Bildbotschaften per E-Mail. Elektronische Postkarten werden als Kuriosum bis heute von der Post angeboten, dabei handelt es sich um Ansichtskarten, die mit einem eigenen Foto bedruckt und tatsächlich per Post versandt werden.
Heute bieten längst Soziale Netzwerke genau jene kombinierten Funktionen, die einst die Postkarte vereinte, von WhatsApp über Twitter und Facebook bis – vor allem – Instagram. Für Historikerinnen und Historiker, denen die Ansichtskarte als populäres Alltagsmedium zur wichtigen Quelle geworden ist, hat diese Verlagerung ins Digitale aber einen entscheidenden Nachteil: In hundert Jahren wird niemand eine Sammlung mit ausgedruckten Instagram-Postings auf einem Dachboden finden und daraus ableiten, wie Menschen 2018 die Welt sahen. Und ob das digitale Erbe erhalten bleibt, sei dahingestellt.