Silhouetten zweier Personen hinter einer Glaswand
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Nicht wiederholbar

Das Sozialexperiment in der Krise

Viele berühmte Experimente zu menschlichem Verhalten können nicht wiederholt werden. Ergebnisse, die einst für weltweites Aufsehen sorgten, werden heute bezweifelt. Auch die Glaubwürdigkeit von einem der bekanntesten Versuche der Sozialpsychologie gerät ins Wanken.

Seit Jahren unterzieht sich die Forschung einer Art Selbstkorrektur. Publizierte Studien werden noch einmal durchgeführt, um zu testen, ob die Befunde der Originalstudie stimmen oder eben nicht. Im Fachjargon heißt das Replikation und stellt vor allem die Sozialwissenschaften auf die Probe. Bei einer 2018 veröffentlichten Replikationstudie konnten zum Beispiel acht von 21 Experimenten, die zwischen 2010 und 2015 in den renommierten Fachmagazinen „Nature“ und „Science“ erschienen sind, nicht repliziert werden.

Michael Kirchler, Ökonom an der Uni Innsbruck, ist einer der Autoren der Studie. „Die Experimente, die wir replizieren konnten, waren sehr stabil“, wie der Forscher sagt. Bei acht Studien seien die Befunde „zum Teil ordentlich von den Ergebnissen des Originals“ abgewichen, erklärt er im ORF.at-Interview. Das Phänomen ziehe sich durch alle Fächer, von der Ökonomie über die Medizin bis hin zur Psychologie. Doch die Rate erfolgreicher Replikationen sei in dieser Arbeit höher als in vergleichbaren Studien, relativiert Kirchler. „Aber bekannt ist, dass Studien manchmal vorschnell publiziert wurden, ohne die Ergebnisse zu sichern. Nach dem Motto: je aufsehenerregender, desto besser.“

Gefangen im Keller

Kirchlers Studie war nicht die erste über eine „Replikationskrise“. Mediales Echo erzeugte 2015 eine Analyse, die zeigte, dass fast zwei Drittel von 100 Psychologiestudien nicht repliziert werden konnten. Die Aufregung in der Wissenschaft war groß. Denn Replikationen sind sowohl Fluch als auch Segen. Zum einen fördern Wiederholungen die Qualität der Forschung. Andererseits fühlt sich so manch einer auf den Schlips getreten, wenn die eigenen Versuche nicht bestätigt werden. Wie etwa der Marshmallow-Test aus den 60er Jahren. Kinder, die einer Belohnung (Marshmallow) länger widerstehen konnten, zeigten sich im späteren Leben erfolgreicher, hieß es. Dieser Befund hielt nicht.

Einer, der die derzeitige Debatte gut nachvollziehen kann, aber anders denkt, ist Philip Zimbardo. Der US-Psychologe hatte 1971 das berühmte Stanford-Prison-Projekt durchgeführt und wurde über Nacht zum Star. Im Keller der Eliteuniversität simulierten zwei Dutzend Studierende eine Gefängnissituation aus Wärtern und Gefangenen. Der Versuch geriet bereits am zweiten Tag außer Kontrolle. Einige Wärter entwickelten sadistische Züge und erniedrigten die in den Zellen eingeschlossenen Insassen. Zimbardo brach das Experiment nach sechs Tagen ab.

Experimente stehen für sich

Für den damals 36-jährigen US-Forscher erwiesen sich die Vorgänge allerdings als Karrieresprungbrett. Seit 47 Jahren referiert er über das Böse im Menschen – obwohl sich sein Befund bis dato nicht replizieren ließ. „Natürlich sind Replikationen gut für die Wissenschaft. Aber Kritiker vergessen, das viele Experimente der Psychologie und Soziologie zeitgebunden sind. Jeder Teilnehmer im Stanford-Prison-Projekt war gegen den Krieg in Vietnam und gegen die US-Regierung. Das hat sich geändert“, sagt der Psychologe im Gespräch mit ORF.at.

Außerdem spiele die Ethik eine Rolle, warum einige Experimente gar nicht erst wiederholt werden können. „Viele Studien können nie wieder durchgeführt werden, weil sie die ethischen Grenzen, die wir heute haben, überschreiten“, so Zimbardo. Sein Projekt sei zwar in den 70er Jahren akzeptiert worden, aber er zweifelt daran, dass es heute noch so wäre. „Verhaltensstudien sind schwieriger durchzuführen als damals. Viele Forscher weichen deshalb auf Gedankenexperimente aus. Was wäre wenn, … Stellen Sie sich vor, dass …“, sagt er.

Wenn Wärter „tough“ sein müssen

Kritiker und Kritikerinnen sehen allerdings noch einen anderen Grund, warum Zimbardos Lebenswerk nicht bestätigt werden kann. „Histoire d’un mensonge“ heißt ein Buch des Sozialwissenschaftlers Thibault Le Texier. Übersetzt heißt es „Geschichte einer Lüge“ und beschreibt eine Szene in der Gefängnisattrappe im Keller. Zimbardos Mitarbeiter, David Jaffe, hatte einen Wärter offenbar zu mehr Strenge ermahnt. Das Digitalmagazin Medium griff den Vorwurf auf und veröffentlichte im Sommer 2018 einen ausführlichen Text über die vielen Fragen und Ungereimtheiten rund um das Experiment. Ein Gefangener, der angab, zusammengebrochen zu sein, habe etwa nur geschauspielert.

Teilnehmer des Stanford Prison Experiment
PrisonExp.org
Das Stanford-Prison-Projekt gilt als Meilenstein in der Sozialpsychologie. Doch Zweifel am Befund gibt es seit Jahren.

Zimbardo kennt die Vorwürfe, hat darauf schon im Detail reagiert und sein Narrativ, wonach die Demütigungen und sadistischen Exzesse sich von alleine und ohne Einfluss entwickelt hätten, verteidigt. „Es war lediglich ein Wärter, mit dem Jaffe gesprochen und ihm erklärt hat, dass er 15 Dollar pro Tag bekommt und nicht einfach so rumstehen kann. Das war zu Beginn des Experiments“, so der namhafte Forscher gegenüber ORF.at. Dass das als Intervention zu werten ist, stellt er in Abrede. „Der Punkt ist, einem Wärter zu sagen, er soll ‚tough‘ sein, heißt nicht, dass er grausam oder sadistisch sein soll.“

Auch die von den Psychologen Alexander Haslam und Stephen Reicher, die 2001 übrigens mit einer Replikation des Experiments scheiterten, aufgestellte These, das Verhalten der Probanden und Probandinnen sei vor allem davon angetrieben worden, dass sie im Glauben an ein höheres Ziel handelten und die Erwartungen der Psychologen nicht enttäuschen wollten, weist Zimbardo zurück. Für viele der zwei Dutzend Studierenden sei das Projekt eine Möglichkeit gewesen, pro Tag die 15 Dollar zu verdienen, betont der US-Psychologe.

Abu Ghraib als natürliche Replikation

Zimbardos Ansicht, dass sich die Eskalation im kalifornischen Keller aus der reinen Situation ergab und das Machtgefälle zwischen Wärtern und Häftlingen treibende Kraft gewesen sei, dass sich die einen in sadistischen Aktionen ergingen und die anderen unterwürfig und apathisch wurden, beeinflusste die Sozialpsychologie maßgeblich. Der Forscher war ein gefragter Gast im Fernsehen, später wurden Filme über das Experiment gedreht. Außerdem diente es als Blaupause, um die Folter von Häftlingen im irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis durch US-Militärangehörige zu deuten.

Gefangener im Abu Ghraib Gefängnis
AP
Der Folterskandal in Abu Ghraib

Damals plädierte der US-Psychologe dafür, die Strafe für die US-Wache Ivan „Chip“ Frederick herabzusetzen, da dieser durch die Umstände manipuliert worden sei. „Ich sagte dem Richter: ‚Euer Ehren, er ist schuldig, wie die Anklage es auch vorgebracht hat. Er ist auf den Fotos, er ist schuldig eindeutig. Aber die soziale und psychologische Situation hat aus einem, der am ersten Tag gut war, ein Monster gemacht.‘ Ich meine, das ist die Kraft der Situation, der Rahmenbedingungen“, so Zimbardo. Der Richter hörte nicht auf Zimbardo und verhängte eine Freiheitsstrafe von acht Jahren.

„Abu Ghraib war eine Art natürliche Replikation des Stanford-Prison-Experiments“, sagt Stefan Höfer, Gesundheitspsychologe an der Medizinischen Universität Innsbruck. Im verlassenen Foltergefängnis sei 2004 eine Situation entstanden, die dem Stanford-Prison-Experiment ähnelte. „Wächter erniedrigen im dunklen Gefängnis willkürlich Gefangene, machen Fotos und brüsten sich damit. In der Realität ist das passiert, was Zimbardo in seinem Experiment erforscht hat“, so der Psychologe im Gespräch mit ORF.at. „Der Unterschied ist, dass Zimbardo sein Experiment abbrechen konnte, Abu Ghraib nicht.“

„Qualitätskriterium“ der Wissenschaft

Für Höfer sind Replikationen ein „Qualitätskriterium“ der Wissenschaft. Aber genau wie ein Originalbefund falsch sein kann, könne auch eine Wiederholung falsch sein, sagt er. „Wenn es nicht gelingt, eine Studie zu replizieren, heißt das nicht, dass es den Befund nicht gibt“, erklärt Höfer, der Vorstandsmitglied des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen ist und noch ein „grundsätzliches Dilemma“ in Sachen Replikation ortet. Forscher müssten nämlich in Journalen publizieren, die in der Regel Neues verlangen, und nicht etwas, das bereits einmal veröffentlicht wurde. „Wer finanziert mir eine Studie, die ich replizieren will, aber wegen Publikationsrichtlinien nicht publiziert wird?“

US-Soldat im Abu Ghraib Gefängnis
APA/AFP/Damit Sagolj
Zimbardo stellte sich teilweise hinter die US-Soldaten in Abu-Ghraib, denn das System hätte sie vernachlässigt

Ökonom Kirchler sieht in der Debatte über die „Replikationskrise“ auch viel Positives. Die Selbstkontrolle habe in den letzten fünf Jahren zu einer wesentlich besseren Qualität von Studien geführt. Außerdem sei die Relevanz der Replizierbarkeit in den Vordergrund gerückt. „Die Stichproben sind stark gewachsen, die Methode von Experimenten ist transparenter geworden“, erklärt Kirchler. Dass Klassiker zum Teil nicht mehr repliziert werden können, führt er darauf zurück, dass damals „viele Felder unbeackert“ und Stichprobengrößen wohl zweitrangig waren. „Doch bewusst an Ergebnissen zweifeln, tut der Wissenschaft gut. Das ständige Hinterfragen von Ergebnissen und Methoden ist eine wichtige Quelle von wissenschaftlichem Fortschritt.“