Psychologe Philip Zimbardo
ORF.at/Jürgen Klatzer
Philip Zimbardo

„Natürlich gibt es eine Krise“

Philip Zimbardo gilt als einer der Pioniere der Sozialpsychologie. Der US-Forscher mit italienischen Wurzeln ist mit seinem Stanford-Prison-Projekt berühmt geworden. Jeder von uns kann sich in ein sadistisches Monster verwandeln. Es kommt nur auf die Umstände an, so seine These. Doch in letzter Zeit wurden Vorwürfe laut, dass sein Experiment bloß Theater sei.

ORF.at: Herr Zimbardo, Ihr Lebenswerk, das Stanford-Prison-Experiment, steht derzeit unter Beobachtung, wie viele andere Experimente – weil sie nicht repliziert werden können. Befindet sich die Psychologie in einer Glaubwürdigkeitskrise?

Philip Zimbardo: Es gibt jede Menge Kritik derzeit, ja. Natürlich gibt es eine Krise, für mich hat sie aber weniger mit den Replikationen zu tun. Psychologie benötigt mehr schlaue Personen, die originäre Forschung planen und durchführen. Traurigerweise gehen die meisten klugen Menschen dorthin, wo das Geld ist, also in die Technologie.

Viele der schlauesten Köpfe an der Stanford-Universität, die ich noch unterrichtet habe, kündigten ihre Jobs am Campus und arbeiten heute bei Google und Facebook. Dort verdienen sie vier- bis fünfmal mehr als in der Wissenschaft. Wir verlieren Gehirnschmalz, das wir benötigen, um originäre Studien durchzuführen.

ORF.at: Dennoch gibt es kritische Stimmen, dass viele Studien nicht wiederholt werden können. Darunter auch Ihre Gefängnissimulation aus dem Jahr 1971.

Zimbardo: Natürlich denkt man darüber nach. Es gibt eine Vielzahl von Experimenten, die nicht repliziert werden können. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass jedes Experiment eine Neuigkeit liefert und eine Instanz für sich ist. Replikationen hingegen sind nicht so populär. Forscher, die Originalstudien unter den gleichen Umständen wiederholen und vielleicht die Ergebnisse bestätigen, bekommen keinen Platz in einem Fachmagazin.

Psychologe Philip Zimbardo
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Philip Zimbardo war auf Einladung des Berufsverbandes Österreichischer PsychologInnen in Wien

Die renommiertesten Fachmagazine der Welt haben eine Ablehnungsrate von 90 Prozent. Neun von zehn Studien werden nicht veröffentlicht, obwohl es sich um etwas Neuartiges handelt. Als Forscher bietet man seine Studie dann einem anderen Journal an, das eine Ablehnungsrate von 80 Prozent hat. Wenn das nicht funktioniert, werden Resultate auf Blogs veröffentlicht.

Zu meiner Zeit haben Wissenschaftler eine Studie gemacht, und die wurde dann auch veröffentlicht. Heute braucht man vier, fünf, sechs Studien, bis endlich mal eine veröffentlicht wird. Mit dem Wissen wagt sich niemand an Replikationen.

ORF.at: Zu Ihrem Experiment gab es eine Replikation, die gescheitert ist. Wie fühlten Sie sich, als ein anderes Forscherteam behauptet hat, dass man Ihre Resultate nicht replizieren kann?

Zimbardo: Experimente und die darin vorkommenden Subjekte ändern sich. Jeder Teilnehmer im Stanford-Prison-Experiment war gegen den Krieg in Vietnam und gegen die US-Regierung. Niemand mochte die Polizei oder Wachbeamte im Gefängnis. Das hat sich geändert. Natürlich sind Replikationen gut für die Wissenschaft. Aber Kritiker vergessen, dass Experimente der Psychologie und Soziologie sehr zeitgebunden sind. Nicht wie die Quantenphysik, wo das Gesetz der Natur herrscht.

Psychologe des Bösen

Zimbardo wurde 1933 in New York City geboren. Er ist emeritierter Professor der Psychologie an der Stanford-Universität. 1971 wurde er mit seinem Stanford-Prison-Experiment bekannt. 1975 gründete er die Shyness Clinic, um Kindern und Erwachsenen bei Schüchternheit zu helfen.

Ein großes Problem für eine Replikation ist auch die Frage der Ethik. Viele Studien können nie wieder durchgeführt werden, weil sie die ethische Grenze überschreiten. Das Stanford-Prison-Experiment war in den 70er Jahren akzeptiert, heute bestimmt nicht. Die meisten psychologischen Studien sind deshalb nur noch Gedankenexperimente: Was wäre, wenn … Stell dir vor, du bist ein Gefängniswärter … Stell dir vor, du bist ein Polizist …

ORF.at: Wenn Sie könnten, würden Sie versuchen, Ihr Experiment zu replizieren?

Zimbardo: Sicher, aber anders. Gefangene sind ja zusammengebrochen. Ich würde vielleicht zuerst Trainings anbieten, was Wärter tun dürfen und welche Herausforderungen für Gefangene entstehen können. Die Studierenden hatten ja keine Ahnung, was passiert. Wir dachten auch darüber nach, einen Versuch nur mit Frauen durchzuführen. Das wäre sehr interessant.

Ich würde auch einen unabhängigen Leiter hinstellen, der sagt, ob etwas außer Kontrolle gerät oder nicht. Man kann das Experiment an ethischen Fragen orientieren. Das ist möglich. Aber trotzdem sind Verhaltensstudien heute viel schwieriger durchzuführen als noch in den 70er Jahren.

ORF.at: Sie sagen, dass Replikationen sehr stark von Ethik und dem Kontext abhängig sind. Aber was ist mit den Vorwürfen, dass ein Mitarbeiter von Ihnen beim Experiment interveniert hat?

Zimbardo: Das ist alles falsch. Ich habe schon eine Stellungnahme dazu abgegeben. Ich ging auf alle Kritikpunkte ein.

ORF.at: Ja, ich habe Ihre Replik gelesen. Die Vorwürfe sind sehr konkret. Einem Wärter soll gesagt worden sein, er soll sich „tough“ verhalten. Zudem habe ein Gefangener, der, wie Sie sagten, zusammengebrochen ist, nur geschauspielert.

Zimbardo: Wissen Sie, Medien oder Blogger, die das schreiben, haben eines im Kopf: die Schlagzeile. „Das Experiment ist eine Lüge“, „Alles nur Lüge“ oder die „Geschichte einer Lüge“. Sie leben davon, und es ging auf. Plötzlich wurde ich bombardiert mit Anfragen. Was ist passiert? Sind Sie wirklich ein Lügner? Kann man Ihnen noch vertrauen? Es war alles orchestriert. Es gab in derselben Woche vier gezielte Attacken gegen das Projekt.

Wie kommt das? Plötzlich werden solche Vorwürfe auf verschiedenen Blogs veröffentlicht. Aber ich habe jede Kritik ernst genommen, Beweise vorgelegt, wie es sich zugetragen hat. Aber die Kritiker sagten nur, dass sie etwas entdeckt hätten, was ich verheimlicht hätte. Aber Basis ihrer Geschichten waren immer Dutzende Kisten mit Protokollen, Videos und Fotos über das Experiment, die ich dem Stanford-Archiv zur Verfügung gestellt habe.

ORF.at: Sie streiten aber nicht ab, dass es Anweisungen gab?

Zimbardo: Ich möchte nicht nochmals auf die Punkte eingehen. Das ist sehr mühsam. Aber okay. Ein Blogger sagte, dass einem Wachbeamten gesagt wurde, dass er sich „tough“ verhalten soll. Das soll der Grund sein, warum nicht die Situation ausschlaggebend für das Böse ist, sondern die Anweisung? Na gut. Wann wurde ihm das gesagt? Am ersten Tag. Es gab drei Wärter, zwei von ihnen nahmen das Experiment ernst, aber die dritte Wache tat gar nichts.

David Jaffe, ein Mitglied des Projektteams und gleichzeitig stellvertretender Anstaltsleiter der Gefängnissimulation, ging rüber und sagte zu ihm, dass er 15 Dollar pro Tag bekommt und deshalb nicht einfach nur rumstehen könne. Du kannst nicht in der Ecke sitzen. Und wir haben das aufgenommen: Wachen müssen „tough“ sein. Es war lediglich eine Wache, die das gehört hat, am Beginn des Experiments. David Jaffe hat es einer einzigen Person gesagt. Dieser Wärter hat es auch nicht der anderen Schicht erzählt.

ORF.at: Aber wird eine Situation in einem Experiment nicht verändert, wenn sich ein Projektteammitglied mit einem Satz einmischt? Der Journalist Ben Blum zitiert aus der Originalaufnahme des besagten Gesprächs: „Die Wachen müssen wissen, dass jeder eine harte Wache sein wird.“

Zimbardo: Ein Experiment besteht nicht nur aus einem Satz oder aus einer Stunde. Dieser Wärter hatte einen Achtstundentag, danach wurde gewechselt. Es gab keinen physischen Kontakt zu seinen Kollegen. Die Nachtschicht startete mit den menschenverachtenden Vorgängen und den sadistischen Zügen, nicht die Wache davor. Ich denke, die Kritiker verlieren das aus den Augen.

ORF.at: Aber noch einmal, weil es auch Ihr Lebenswerk ist: Verändert eine Intervention ein Experiment?

Zimbardo: Der Punkt ist, einem Wärter zu sagen, er soll „tough“ sein, heißt nicht, dass er grausam oder sadistisch sein soll. Das wurden aber viele Wärter, grausam und sadistisch.

ORF.at: Denken Sie, dass es möglich ist, dass einige dieser Wachen ihre Rollen nur spielten, um Ihnen zu gefallen, um etwas Gutes für die Wissenschaft zu tun?

Zimbardo: Einige von ihnen vielleicht, aber die meisten nicht. Für viele von ihnen war es einfach eine Möglichkeit, 15 Dollar pro Tag während einer zweiwöchigen Sommerpause zu verdienen. Es war nicht mehr als das. Es war ja nicht so, dass alle Wärter sadistische Züge vorgewiesen haben. Manche waren ja auch gut und haben den Gefangenen nichts angetan.

ORF.at: Sie sind durch das Experiment bekannt geworden. Vieles hat sich seitdem geändert. Vertreten Sie noch die Meinung, dass das Böse in jedem steckt?

Zimbardo: Ja. Mein Experiment hat gezeigt, wie einfach es ist, dass sich gute Menschen in negativen Situationen zu sadistischen Personen verwandeln. Eine Bedrohungslage, Gruppendruck und Anonymität begünstigen Gewaltexzesse. Jetzt habe ich mich aber dafür entschieden, meinen Fokus um 180 Grad zu drehen und das Gute in den Mittelpunkt zu stellen. Ich habe das Böse so lange studiert, hielt unzählige Vorträge, war Sachverständiger beim Prozess rund um Abu Ghraib (US-Foltergefängnis im Irak, Anm.), Experte in Ruanda und Srebrenica. Es reicht einfach, für mich ist es nicht mehr interessant.

ORF.at: Ihre Grundthese, um trotzdem auf die Psychologie des Bösen zurückzukommen, ist, dass situative Faktoren das Böse im Menschen hervorholen können. Abu Ghraib hat das nach Ansicht vieler Fachleute noch verdeutlicht.

Zimbardo: Als die Folter in Abu Ghraib öffentlich wurde, erinnerte ich mich an die Fotos im Stanford-Prison-Experiment. Wissen Sie, wie es passiert ist? Präsident George Bush sagte, dass man im Irak fertig sei. Doch dann sind am nächsten Tag Panzer und andere Fahrzeuge in die Luft geflogen. Die US-Administration, die Geheimdienste und die Armee hatten keine Ahnung, wer das war. Alle dachten, man mag uns, weil wir Saddam Hussein gefangen genommen haben.

Stanford-Prison-Projekt

1971 simulierte ein Forscherteam eine Gefängnissituation, in der Versuchspersonen in „Gefangene“ und „Wärter“ aufgeteilt wurden. Geplant war eine Laufzeit von 14 Tagen. Nach sechs Tagen wurde der Versuch abgebrochen, weil Wärter sadistisch und Gefangene depressiv wurden. Daraus schloss Zimbardo, dass allein situative und soziale Faktoren dazu führen können, dass Menschen „böse“ handeln.

Aber was machen wir danach? Wir verhaften alle Menschen, die sich in der Nähe der Explosionen aufgehalten haben, und schließen sie in ein altes verlassenes Gefängnis ein, Abu Ghraib. Weil die aber nichts wissen oder nichts haben, was von Interesse ist, wurden Soldaten der Nachtschicht angewiesen, alles zu tun, was nötig ist, um Informationen zu bekommen. Sie brachten Hunde rein, die bissen. Hängten die Gefangenen auf oder verprügelten sie.

ORF.at: Trotzdem verteidigten Sie Ivan Frederick, den ranghöchsten US-Wärter in Abu Ghraib, vor Gericht.

Zimbardo: Ja. Er war zwölf Stunden pro Nacht damit beschäftigt, die Gefangenen so vorzubereiten, dass sie am nächsten Tag, wenn die Tagschicht beginnt, sagen, wer hinter den Anschlägen steckt. Nach einigen Tagen wurde die Folter für die Soldaten zum Spiel. Sie ließen alle nackt in einer Reihe stehen oder zogen sie wie Hunde an der Leine. Sie dokumentierten das auch noch und versuchten immer kreativer in ihren Foltermethoden zu werden. Sie waren stolz auf die Fotos.

Warum taten die Männer und Frauen das? Es waren keine richtigen Soldaten, sondern gehörten zur Armeereserve. Die werden nicht respektiert, weil sie kein reguläres Training haben. Was macht nun die Reserve? Sie zeigen den richtigen Soldaten der Tagschicht ihre Fotos, um zu zeigen, was sie können. Was ich sagen will: Sie waren gelangweilt, hatten einen Auftrag und wussten, dass sie von den anderen nicht respektiert werden.

ORF.at: Hätten normale Soldaten, die im ständigen Training sind, die Gefangenen nicht misshandelt?

Zimbardo: Sie hätten keine Fotos gemacht. Frederick erinnerte mich an einen Wärter im Stanford-Prison-Experiment. Am ersten Tag ist er noch gut, aber nach drei Monaten hat das Böse überhand gewonnen. Ich sagte dem Richter: Euer Ehren, er ist schuldig, wie die Anklage es auch vorgebracht hat. Er ist auf den Fotos, er ist schuldig, eindeutig. Aber die soziale und psychologische Situation hat aus einem, der am ersten Tag gut war, ein Monster gemacht.

Frederick, der zuvor unbescholten war, hätte es nie getan, wenn man ihn nicht in diese Situation gesteckt hätte, wenn man ihn vernünftig ausgebildet hätte, wenn er nicht jede Nacht zwölf Stunden im Gefängnis sitzt und dort in einer Zelle schläft.

ORF.at: Sie kritisierten die US-Administration bzw. das US-Militär, weil man sagte, dass die Soldaten in Abu Ghraib nur Einzelfälle, sogenannte bad apples, seien.

Zimbardo: Ja, immer wenn ein Skandal eine Organisation erschüttert, in der Schule oder in der Armee, dann will die Organisation erklären, dass kranke Menschen schuld daran seien. Das erleben wir bei der Waffengewalt in den USA oder der Fettleibigkeit. Der Einzelne ist schuld. Aber fragen wir uns einmal, wer diese bad apples produziert hat.

ORF.at: Sie haben als erster Psychologe auch scharfe Kritik an US-Präsident Donald Trump geübt. Nach Ihrer These dürfte er aber auch ein Produkt des Systems sein.

Zimbardo: Das ist schwierig. Trump ist einzigartig. Er tut jede Menge, das wir als bösartig bezeichnen würden. Aber er geht noch weiter. Er produziert das System, weil er in einer Machtposition ist, wenn nicht sogar der Machtposition schlechthin. Er schafft es, Menschen, die sich irgendwie vernachlässigt fühlen, zu sagen, dass sie so viel wert sein können wie er. Denn er hat es geschafft.

ORF.at: Nach fast 50 Jahren Psychologie des Bösen, wo liegt Ihr Fokus heute?

Zimbardo: Derzeit forsche ich zu Heldentum. Ich schaue mir an, was passiert, wenn man ganz gewöhnliche Menschen in positive Situationen bringt. Könnte man sie zu Helden machen? Es gab bis jetzt kaum psychologische Forschung zum Heldentum. Meine Vision ist, dass Menschen Mitgefühl in heroische Taten umsetzen. Das ist meine Mission.