Ein gelangweilter Mann im Büro
Getty Images/PeopleImages
„Bullshit-Jobs“

Arbeit, die keiner braucht

Sinnvolle Arbeit stirbt durch die Automatisierung zunehmend aus, sagt der Anthropologe David Graeber. Ihr Ersatz: sinnlose Tätigkeiten, die eine „Narbe auf unserer Kollektivseele“ hinterlassen – „Bullshit-Jobs“. Die gleichnamige Studie ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Sie nennen sich Private-Equity-Manager, Kommunikationskoordinatorinnen, Finanzstrategen oder Investmentbankerinnen – das klingt prestigeträchtig und verantwortungsvoll, nach Jobs, die in der Regel ansehnlich bezahlt sind. Doch die Sache glänzt nur nach außen hin, wie unzählige offenherzige Statements bezeugen: „Ich bin Firmenanwalt. Ich trage nichts zu dieser Welt bei und fühle mich ständig vollkommen elend.“ Oder: „Für meine Arbeit brauchte ich am Tag eine oder höchstens eineinhalb Stunden – nein, ich mache keine Witze. Ich werde dafür bezahlt, dass ich mich langweile.“

Das Unbehagen über die schöne, neue Arbeitswelt hat Graeber schon vor einiger Zeit in einer Theorie eingefangen und damit einen Nerv getroffen. „Bullshit-Jobs“ nannte er das Phänomen und meinte damit die massenhafte Verbreitung von Tätigkeiten, die so sinnlos sind, dass selbst die, die sie ausüben, nicht von ihrer Sinnhaftigkeit überzeugt sind.

Autor David Graeber
Annette Hauschild
David Graeber prägte den Begriff „Bullshit-Jobs“

Professor, Bestsellerautor, Anarchist

Graeber ist 57 und Professor an der London School of Economics. Er ist, wie der Verlag Klett-Cotta schreibt, „bekennender Anarchist“, der „fast zwei Jahre in einer direkte Demokratie praktizierenden Gemeinschaft auf Madagaskar gelebt“ hat. Ein Querdenker also, der einst von der Yale University flog und mit „Schulden: Die ersten 5.000 Jahre“ (2012) einen Bestseller über die herrschaftsstabilisierende Wirkung der Kredite vorlegte, der auch das konservative Lager hellauf begeisterte.

Berühmt war Graeber zuvor als Vordenker der „Occupy“-Bewegung geworden, als Erfinder des Slogans „Wir sind die 99 Prozent“, der inzwischen deutlich an Strahlkraft verloren hat. Nun ist der markige Begriff „Bullshit-Jobs“ dran – die nicht mit den „Scheiß-Jobs“, also den gesellschaftlich nützlichen Arbeitsplätzen mit schlechtem Sozialprestige, zu verwechseln sind.

„Papierkrieg“ ohne Zweck

Da ist etwa Gerte, die Rezeptionistin eines niederländischen Verlags, die vielleicht einmal am Tag ein Telefon abnimmt und deren Aufgabe vor allem darin besteht, darauf zu achten, dass die Zuckerlschale immer mit Pfefferminzzuckerln gefüllt ist. Da ist Kurt, der Angestellte eines Subunternehmers eines Subunternehmers der deutschen Bundeswehr. Er fährt zehn Stunden mit dem Auto und füllt 15 Formulare aus, um einen Computer ins Büro nebenan zu befördern.

Veranstaltungshinweis

David Graeber im Gespräch mit Robert Misik, Mittwoch, 19. September, 19.00 Uhr, Hauptbücherei am Gürtel, Wien

Auch so ein Fall ist Betsy, deren Job darin besteht, Vorlieben für Freizeitaktivitäten in einem Pflegeheim mit Formularen zu ermitteln, die aber, einmal ausgefüllt, „sofort für alle Zeiten in Vergessenheit gerieten“. Und da ist Hannibal, der die Marketingabteilungen
von Pharmakonzernen berät und seiner Aussage nach „reine, unverfälschte Bullshit-Berichte“ verfasst, die nur vermeintlich der Strategieplanung dienen. Die Bezahlung: ungefähr 12.000 Pfund für zwei Seiten.

Provokante These, die einschlug

2013 bekam Graeber eine Anfrage der Grassroots-Zeitschrift „Strike“, ob er nicht eine provokante These habe, eine, die sonst niemand publizieren wollte. Und, so schreibt er hier launig im Vorwort, er habe natürlich eine in petto gehabt – und noch dazu eine, die zu seiner eigenen Überraschung dann letztlich alle publizieren wollten: Der Essay wurde innerhalb kürzester Zeit in zwölf Sprachen übersetzt; „#Bullshit-Jobs“ machte als Hashtag die Runde, Meinungsumfragen wurden gestartet und Slogans in einer Guerillaaktion in der Londoner U-Bahn plakatiert: „Es ist, als würde sich irgendjemand sinnlose Tätigkeiten ausdenken, nur damit wir alle ständig arbeiten.“

Cover des Buchs „Bullshit Jobs“
Klett-Cotta-Verlag

David Graeber: Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Klett-Cotta, 464 Seiten, 26,70 Euro.

Die Plakate waren kurze Zeit später zwar verschwunden, nicht aber die Diskussion, die manchen wie ein Befreiungsschlag vorkam, eine Befreiung von der Vorstellung, dass Arbeit sinnstiftend sei und glücklich machen müsse. Das enorme Feedback führte dazu, dass Graeber der Sache ausführlicher auf den Zahn fühlte und feststellte, dass es sich um ein Massenphänomen handelte. Bis zu 40 Prozent aller Beschäftigten hielten ihre Arbeit insgeheim für nutzlos, was Graeber mit Umfragen aus den Niederlanden und Großbritannien belegt. Die Dunkelziffer hält er für noch größer, zumal die, die diese Tätigkeiten ausführen, dieses Wissen zwangsläufig für sich behalten müssen.

Effizienzdenken im Kapitalismus

Das Bemerkenswerte für den Professor ist die Tatsache, dass es nicht die oft in Verruf geratene staatliche Bürokratie ist, die die Menschen in solche Jobs steckt, sondern dass das alles im effizienzbesessenen Kapitalismus der Gegenwart stattfinde. Warum das so ist, dafür gibt es bei ihm zwei Erklärungsansätze: einen klassentheoretischen – „Bullshit-Jobs“ als Beschäftigungstherapie für potenziell Aufmüpfige – und einen typologischen.

Dass es etwa den Untertyp des „Lakaien“, des Handlangers bzw. der Handlangerin gebe, erkläre sich, so Graeber, einzig und allein damit, dass der oder die „unmittelbare Vorgesetzte dadurch wichtiger wirkt oder sich wichtiger fühlt“. „Schläger“ bzw. „Schlägerinnen“, werden engagiert, um mit dem Konkurrenzkonzern auf dem Papier mithalten zu können, sprich: Wenn Firma A einen Unternehmensanwalt oder eine Unternehmensanwältin hat, muss Firma B nachziehen. Der „Kästchenankreuzer“ bzw. die „Kästchenankreuzerin“, ein weiterer Typus, soll hingegen nur den Anschein erwecken, dass bestimmte Maßnahmen ergriffen wurden: „Der Papierkrieg in Großunternehmen“ werde, so Graeber, „häufig für wichtiger gehalten als die Maßnahmen selbst.“

„Kampfbegriff“ von unten

An Graebers Theorie wurden inzwischen bereits einige Zweifel angemeldet: Es sei schwer zu glauben, dass die Zahl der eigentlich sinnlosen Stellen auch in der Weltwirtschaftskrise Bestand haben könne, schreibt die „New York Times.“ Auch die deutsche „Zeit“ stellt infrage, dass über ein Drittel aller Jobs tatsächlich gesellschaftlich wertlos sind – und führt andere Statistiken ins Rennen.

Wie viele Menschen auch immer davon betroffen sind: Worauf sich die meisten wohl einigen können, ist, dass Graeber witzig und gewinnend schreibt. Und, mehr als das, dass er mit „Bullshit-Jobs“ einen Begriff geschaffen hat, der die vermeintlichen Topjobs der modernen Wirtschaft entmystifiziert – als demoralisierend und tatsächlich krankmachend bis hin zur echten Depression. Einen Begriff, der einen zum Nachdenken darüber bringt, welche Arbeit wie entlohnt wird – verbunden mit einem Plädoyer, dass die gesellschaftlich unentbehrlichen „Scheiß-Jobs“ endlich aufgewertet gehören: in ihren Arbeitsbedingungen und auch auf dem Gehaltszettel.