Rohingya-Kinder im Kutupalong Camp nahe Cox’s Bazar, Bangladesch
APA/AFP/Chandan Khanna
„Verlorene Generation“

Kampf um Zukunft der Rohingya-Kinder

Fast 350.000 Rohingya-Kinder aus Myanmar leben derzeit in Flüchtlingslagern in Bangladesch. Sie kämpfen nicht nur ums Überleben, sondern auch um ihre Zukunft. Im Gespräch mit ORF.at in Brüssel warnt der zuständige UNICEF-Botschafter Edouard Beigebeder vor einer „verlorenen Generation“.

Die muslimische Minderheit der Rohingya wird in Myanmar schon seit Jahrzehnten unterdrückt und diskriminiert. Ende August 2017 eskalierte die Situation: Bei Attacken von Rebellengruppen auf den Grenzschutz wurden mehrere Menschen getötet. Myanmars Militär startete daraufhin eine Vergeltungsaktion, die laut UNO in keinem Verhältnis zu den vorherigen Angriffen stand.

Ende August legten Menschenrechtsexpertinnen und -experten der Vereinten Nationen einen Bericht zum Einsatz der Streitkräfte vor. In Nordrhakine, von wo Hunderttausende Rohingya gewaltsam vertrieben wurden, sehen sie Anzeichen eines Völkermordes. Den Oberbefehlshaber der Streitkräfte Myanmars und seine Generäle machen sie für Morde, Massenvergewaltigungen, Folter, Versklavung, Gewalt gegen Kinder und das Niederbrennen ganzer Dörfer verantwortlich. Sie forderten, den Verantwortlichen vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag den Prozess zu machen.

Der „Urknall“ der Flüchtlingskrise

Die Militäraktion sei der „Urknall“ der Flüchtlingskrise gewesen, sagt Beigebeder. 700.000 Rohingya flüchteten vor der Armee in den Distrikt Cox’s Bazar im Süden Bangladeschs. Der Bezirk ist wegen seiner langen Sandstrände eine Tourismusattraktion. Seit dem Vorjahr ist der Name Cox’s Bazar auch zum Synonym für das größte Flüchtlingslager der Welt geworden: Kutupalong.

Rohingya-Kinder rennen durch das Kutupalong Camp nahe Cox’s Bazar, Bangladesch
APA/APF/Ed Jones
348.000 Rohingya-Kinder leben derzeit in Flüchtlingslagern in Bangladesch

Die Flüchtlingsbewegung im Vorjahr habe das Lager auf die Größe der US-amerikanischen Hauptstadt Washington anschwellen lassen, sagt der Franzose, der seit 2014 UNICEF-Botschafter in Bangladesch ist. Die Infrastruktur musste im Eiltempo ausgebaut werden. „Es war ein Wettlauf gegen die Zeit“, erinnert sich Beigebeder. Zusätzliche Wasserleitungen seien verlegt worden, dazu habe man 20.000 Latrinen gebaut.

Vor allem zu Beginn der Krise seien die meisten Neuankömmlinge Kinder gewesen, sagt Beigebeder, viele davon unterernährt. 13.000 Minderjährige habe man mit einem speziellen Programm vor dem Hungertod gerettet. Hinzu kamen Krankheitsausbrüche: Nach dem Auftreten von Masern- und Diphteriefällen seien alle Kinder immunisiert worden, sagt der UNICEF-Botschafter.

Herausforderungen beginnen erst

Die Zahl der Neuankünfte ist mittlerweile deutlich zurückgegangen. Die Herausforderungen sind geblieben – nicht nur, was das Überleben der Geflüchteten betrifft. Myanmar erkennt die Mitglieder der Minderheit nicht als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger an. In Bangladesch sind sie staatenlos.

Edourad Beigebeder, UNICEF-Botschafter für Bangladesch, bei einem Interview mit ORF.at in Brüssel
ORF.at/Philip Pfleger
Bis 2019 sollen 240.000 Rohingya-Kinder Schulbildung erhalten, sagt Beigebeder

Rohingya-Kindern ist der Schulbesuch im Nachbarland verwehrt. Unterrichtet werden sie in Lerncamps in den Flüchtlingseinrichtungen. 1.000 dieser Zentren gebe es bisher, sagt Beigebeder, 100.000 bis 120.000 hätten so Zugang zu Bildung. Bis 2019 soll die Zahl der Kinder und Jugendlichen bis zum 15. Lebensjahr in diesen Lernzentren verdoppelt werden. Ein hoher Wert, aber nicht genug: Insgesamt leben derzeit 348.000 Rohingya-Kinder in Kutupalaong und anderen Flüchtlingseinrichtungen in Bangladesch.

Heranwachsende werden in speziellen Kursen auf den Eintritt ins Arbeitsleben vorbereitet. „Ohne diese Aktivitäten drohen diese Kinder zu einer verlorenen Generation zu werden, egal, ob sie zurückkehren oder in Bangladesch bleiben“, sagt Beigebeder. Familien würden Mädchen bereits mit 14, 15 Jahren an jemanden mit höherem Einkommen verheiraten. In den Camps wurde eine Art Justizsystem etabliert, die UNICEF arbeitet mit der Polizei Bangladeschs zusammen. Den Kindern soll eine möglichst sichere Umgebung geboten werden. Es gebe Berichte über Menschenhandel, sagt Beigebeder. Fast 150.000 Minderjährige haben bisher psychosoziale Unterstützung erhalten.

Rückkehr unmöglich

Wann die Flüchtlinge nach Myanmar zurückkönnen, steht in den Sternen. Die UNO habe nach wie vor keinen vollständigen Zugang zum Bundesstaat Rakhine. Die Rückgabe von Grund und Boden und der Häuser an die Geflüchteten stockt. „Es geht zu langsam voran“, sagt Beigebeder. Er fordert einen Dialog zwischen den Regierungen Bangladeschs und Myanmars.

Die Europäische Union fordert er zu verstärkten wirtschaftlichen Beziehungen mit den beiden Staaten auf. So hätte Brüssel Mittel in der Hand, den „Dialog“ voranzutreiben. Wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen hatte die EU im Juni bereits Sanktionen gegen Mitglieder der Armee Myanmars verhängt. Sieben hochrangige Militärs wurden mit Einreiseverboten belegt, ihre Vermögenswerte gesperrt. Auch der IStGH macht Druck und ermächtigte sich vor Kurzem, zur Vertreibung der Rohingya urteilen zu können.

Kritik an Friedensnobelpreisträgerin

Die zivile Regierung Myanmars steht wegen der Militäroperation schwer in der Kritik, allen voran De-facto-Regierungschefin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Der scheidende UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad al-Hussein, warf ihr vor, das brutale Vorgehen der Armee gegen die Rohingya verteidigt zu haben. Und: „Sie war in der Lage, etwas zu tun. Sie hätte still bleiben können – oder noch besser, sie hätte zurücktreten können“, sagte der Jordanier.

Menschen mit Protestplakaten gegen Myanmars Regierungschefin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi
AP/Justin Tang
Friedensnobelpreisträgerin Suu Kyi steht wegen ihrer Haltung schwer in der Kritik

Beigebeder hält sich mit politischen Anschuldigungen zurück. Immerhin habe die Regierung Myanmars selbst einen unabhängigen Bericht zur Lage der Rohingya in Auftrag gegeben, so der Franzose – das Umsetzen der Empfehlungen dauere aber zu lange.