Demonstranten der „Pro Chemnitz“-Gruppe in Chemnitz
Reuters/Matthias Rietschel
Rechtsextremismus

Chemnitz kommt nicht zur Ruhe

Nach der umstrittenen Aussage des deutschen Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maaßen gehen die Wogen in Deutschland weiter hoch. Neben Rücktrittsforderungen wird nun der Ruf nach einer Neugründung der Verfassungsschutz-Behörde laut. In der sächsischen Stadt Chemnitz sind unterdessen neue Proteste geplant. Zudem ist auch ein neuer antisemitischer Fall ans Licht getreten.

Angesichts der viel kritisierten Aussagen von Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen fordert Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic eine Schließung und Neugründung der Behörde. Hintergrund sind Maaßens Äußerungen in der Debatte um ausländerfeindliche Übergriffe in Chemnitz. Es brauche jetzt „eine klare Zäsur und einen Neustart“, sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Sonntag-Ausgaben).

„Die Bundesregierung sollte jetzt ein personell und strukturell völlig neues Bundesamt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr gründen, das mit nachrichtendienstlichen Mitteln klar abgegrenzt von polizeilichen Aufgaben arbeitet“, sagte sie. Das neue Amt solle sich allein auf die nachrichtendienstliche Arbeit konzentrieren – daneben brauche es ein unabhängiges Institut zum Schutz der Verfassung.

Maaßen zweifelt Hetzjagden an

Maaßen hatte bezweifelt, dass Videoaufnahmen aus Chemnitz echt sind. Er trat damit eine heftige Debatte über rassistische Übergriffe in der Stadt los. Berichte über „rechtsextremistische Hetzjagden“ in der sächsischen Stadt sehe er mit „Skepsis“, sagte er der „Bild“-Zeitung. Maaßen widersprach damit auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem Regierungssprecher Steffen Seibert – beide hatten von „Hetzjagden“ in Chemnitz gesprochen.

Deutscher Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen
APA/AFP/Tobias Schwarz
Verfassungsschutz-Präsident Maaßen sorgt mit umstrittenen Aussagen für Aufregung

Maaßen hatte der „Bild“-Zeitung gesagt, dem Verfassungsschutz lägen keine belastbaren Informationen darüber vor, dass bei den Demonstrationen in Chemnitz „Hetzjagden“ stattgefunden hätten. „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Nach seiner vorsichtigen Bewertung „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hält das Video dagegen für echt. Es lägen keine Anhaltspunkte für eine Fälschung vor, sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein gegenüber der „Zeit“ (Onlineausgabe).

Linke und Grüne fordern Rücktritt

Aus Sicht der meisten Bundestagsparteien hat sich Maaßen mit seiner Einschätzung, für die er bisher keine Belege geliefert hat, zu weit aus dem Fenster gelehnt. Linke und Grüne legten ihm den Rücktritt nahe. Die SPD will wegen Maaßens Äußerung das für die Geheimdienste zuständige Parlamentarische Kontrollgremium anrufen. Der Innenausschuss des Bundestages wird sich in einer Sondersitzung mit Maaßens Äußerungen befassen.

Dass Maaßen an der Jagd auf Ausländer in Chemnitz zweifle und gezielte Falschinformationen vermute, ohne unverzüglich Beweise vorzulegen, sei irritierend, kritisierte der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). Der Behördenchef schüre „mit solchen Äußerungen den Verdacht, dass er sich schützend vor Rechtsextreme stellt“. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) als Vorgesetzter von Maaßen müsse daher nun schnell für Klarheit sorgen, forderte Weil. Seehofer stellte sich hingegen hinter Maaßen und sagte, sein Informationsstand sei „identisch“. Details nannte der Minister ebenfalls nicht.

Polizeigewerkschaften mahnen zu Mäßigung

In dem Streit über die Deutung der Vorfälle haben die deutschen Polizeigewerkschaften die Politik zu Mäßigung aufgefordert und vor Fehlinterpretationen gewarnt. „Mit dem Begriff Hetzjagd ist Schindluder getrieben worden“, sagte der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Samstag-Ausgabe).

Auch der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft GdP, Oliver Malchow, rief zur Zurückhaltung auf. „Politiker sollten sich bei heiklen Themen erst dann äußern, wenn verlässliche Informationen vorliegen. Alles andere ist kontraproduktiv und führt nur zu Fehlinterpretationen“, sagte er dem Blatt. Zugleich warnte Malchow aber auch davor, die Vorfälle in Chemnitz zu relativieren. „Es hat keine Hetzjagd per Definition gegeben, also dass da bewaffnete Menschen ihre Opfer durch die Straßen jagen, aber es war keineswegs eine friedliche Veranstaltung.“ Seine sächsischen Polizeikollegen und Polizeikolleginnen hätten Aufmärsche, Gewalt, Körperverletzung, Beleidigung und Hitlergrüße beobachtet.

Kurz: „Vorfälle wären in Österreich nicht denkbar“

Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat sich zu den Vorfällen in Chemnitz geäußert – und dabei einen Blick auf Österreich geworfen. Seiner Ansicht nach wären „Vorfälle wie in Chemnitz“ in Österreich „nicht denkbar“. Die deutsche Geschichte sei eine „völlig andere“, sagte Kurz in einem Interview mit dem deutschen Magazin „Spiegel“ (Samstag-Ausgabe) mit Blick auf „unterschiedliche Entwicklungen“ in DDR und Bundesrepublik.

Bundeskanzler Kurz
AP/Efrem Lukatsky
Sebastian Kurz sagt gegenüber dem „Spiegel“: „Ich lasse mich nicht in rechte Ecke stellen“

Kurz verwahrte sich auch gegen Kritik an seinem Sprachgebrauch und seinen Positionen zur Flüchtlingspolitik. „Ich stelle mich gern einer inhaltlichen Diskussion, aber ich lasse mich und Österreich nicht in die rechte Ecke drängen“, sagte Kurz.

Montag: Konzert gegen Gewalt und Hetze

Eine Woche nach dem großen „#wirsindmehr“-Konzert in Chemnitz wollen am Montag erneut Musiker und Musikerinnen bei einem Open Air gegen Gewalt und Hetze in der sächsischen Stadt eintreten. Am Karl-Marx-Monument in Chemnitz sollen unter anderem die Bands Die Zöllner und Apfeltraum auftreten, wie die Chemnitzer Wirtschaftsförderung als Veranstalterin mitteilte. Erwartet würden rund 2.000 Besucherinnen und Besucher, der Eintritt sei frei. Das „#wirsindmehr“-Konzert gegen rechte Gewalt und Rassismus unter anderem mit Kraftklub und den Toten Hosen hatte am vergangenen Montag nach Angaben der Stadt rund 65.000 Menschen angezogen.

Am Freitag haben sich zudem erneut Tausende Demonstrantinnen und Demonstranten in Chemnitz versammelt. Zu einem Aufzug der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz kamen nach Angaben der Polizei rund 2.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Teilnehmerzahl auf der Gegendemonstration des Bündnisses Chemnitz nazifrei bezifferte eine Polizeisprecherin auf etwa 1.000.

Neonazi-Angriff auf jüdisches Restaurant

Nach den ausländerfeindlichen Übergriffen in Chemnitz hat Sachsens Ministerpräsident erschüttert auf Berichte eines Wirtes reagiert, wonach dessen jüdisches Lokal attackiert wurde. Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) wolle sich deshalb demnächst mit dem Betreiber treffen, sagte der sächsische Regierungssprecher Ralph Schreiber am Samstag in Torgau. Ein Termin stehe aber noch nicht fest.

Kretschmer habe am Freitagabend mit Wirt Uwe Dziuballa telefoniert. Zuvor habe dieser einen bewegenden Brief an den Regierungschef geschrieben. Darin schilderte er laut Schreiber eine Attacke auf sein Lokal am 27. August. An diesem Tag war eine aggressive, von Hooligan-Gruppen dominierte Demonstration durch Chemnitz gezogen. Vermummte sollen das Lokal mit Flaschen und Steinen angegriffen und dabei antisemitische Parolen gerufen haben. Wie Dziuballa am Samstag der Nachrichtenagentur AFP sagte, wurden Gegenstände auf die Gaststätte geworfen – dabei sei auch gerufen worden: „Judensau, verschwinde aus Deutschland“.

„Neue Qualität antisemitischer Straftaten“

Spezialisten des sächsischen Extremismus-Abwehrzentrums haben in dem Fall inzwischen die Ermittlungen übernommen. Der Wirt des Lokals habe Anzeige erstattet, sagte ein Sprecher des deutschen Innenministeriums. Es müsse von einem antisemitischen Hintergrund ausgegangen werden. Die Ermittlungen seien allerdings noch nicht abgeschlossen. Der Ministeriumssprecher sagte, derzeit laufe noch die Auswertung der gesicherten Spuren. Er würden auch Gäste des Lokals befragt, zudem werde das Bildmaterial ausgewertet.

Der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung, Felix Klein, zeigte sich alarmiert. „Sollten die Berichte zutreffen, haben wir es mit dem Überfall auf das jüdische Restaurant in Chemnitz mit einer neuen Qualität antisemitischer Straftaten zu tun“, sagte er der „WamS“. „Hier werden die schlimmsten Erinnerungen an die dreißiger Jahre wachgerufen.“

Kretschmer rief am Samstag die Menschen in Sachsen dazu auf, sich nicht von den Ereignissen von Chemnitz einschüchtern zu lassen. „Eine Minderheit in Chemnitz versucht, das Land mit Worten und Hass zu prägen. Dem werden wir uns entgegenstellen“, sagte der CDU-Politiker beim Volksfest „Tag der Sachsen“ am Samstag in Torgau. Dennoch scheint Chemnitz nicht zu Ruhe zu kommen.