Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker
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Zukunft der EU

Große Themen, wenig Spielraum

In seiner letzten Rede zur Lage der Union hat EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker am Mittwoch Lösungsvorschläge für einige der drängendsten Herausforderungen der EU präsentiert. Viel Spielraum bei der Umsetzung der Maßnahmen hat Juncker in seinen finalen Monaten im Amt aber nicht.

Seine Rede sei nicht als Überblick über das Erreichte der vergangenen vier Jahre zu verstehen, sagte der Luxemburger vor den Abgeordneten des EU-Parlaments in Straßburg. „Es gibt immer noch viel zu tun“, so Juncker, der nach der EU-Wahl im Mai 2019 sein Amt abgeben wird. Neben beschwörenden Formeln zur Stärkung des Zusammenhalts – „Die Welt von heute braucht ein starkes und geeintes Europa“, „Die EU ist ein Garant des Friedens“ – versuchte Juncker Pflöcke einzuschlagen, was einige politische Vorhaben der Kommission betrifft.

„Juncker hat aufgezeigt, was noch zu tun ist“, sagte Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre gegenüber ORF.at in Brüssel, „man muss aber sagen, dass die Möglichkeiten, Entscheidungen zu treffen, ziemlich begrenzt sind.“ Die „Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten sind erheblich“ und hätten zuletzt noch zugenommen. Vor der Europawahl werde es deshalb schwer, Kompromisse zu finden. Insgesamt sei Junckers Rede in die richtige Richtung gegangen, „ich glaube aber, dass die Stoßkraft nicht ausreichend sein wird, um Kompromisse in wichtigen Fragen zu erzielen“, sagte Emmanouilidis.

Gegen Ad-hoc-Lösungen in Migrationspolitik

Ein Beispiel hierfür ist die Migrationspolitik, wo Juncker in Straßburg neuerlich die „Solidarität“ der Mitgliedsländer einforderte: „Wir können nicht bei der Ankunft jedes neuen Schiffes über Ad-hoc-Lösungen diskutieren“, sagte Juncker, ein solches Vorgehen „reicht nicht aus“. Bis zum Jahresende liege es an Österreich, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, zukunftsfähige Lösungen in der Migrationspolitik zu finden, so der Kommissionschef.

Juncker-Rede zum Nachsehen

Kommissionspräsident Juncker spannte in seiner letzten Rede einen breiten thematischen Bogen und ging auf die künftigen Herausforderungen der EU ein.

Die Pläne der Kommission dazu waren bereits im Vorfeld der Rede publik geworden: Europas Grenz- und Küstenschutzbehörde Frontex soll zur echten Grenzpolizei, ihr Personal bis 2020 um 10.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgestockt werden. Ebenfalls ausgebaut werden soll die europäische Asylagentur zur Unterstützung der Mitgliedsländer bei der rascheren Bearbeitung von Asylanträgen. Am Mittwoch forderte Juncker zudem Möglichkeiten für den Zuzug „qualifizierter Migranten“ und plädierte für eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Afrika.

Juncker verwies in seiner Rede darauf, dass die Zahl der Flüchtlingsankünfte im Vergleich zu den Jahren 2015 und 2016 deutlich gesunken sei. „Unsere Bemühungen haben Früchte getragen“, sagte er. Tatsächlich habe die EU hier ihren Beitrag geleistet, sagte der Direktor des Centre for European Policy Studies (CEPS), Daniel Gros, im ORF.at-Gespräch. Allerdings: „Einwanderung ist nicht mehr ein Problem der Zahlen, sondern des Gefühls in der Bevölkerung. Gegen Letzteres kann die EU wenig tun.“

Weg von der Einstimmigkeit

Ein weiterer Vorstoß Junckers hat nach Ansicht der Experten wenig Chancen auf Umsetzung: Über Außen- und Steuerpolitik sollten die Länder künftig nicht mehr einstimmig entscheiden, eine Mehrheit soll ausreichen. Das Einstimmigkeitsprinzip hat es der Union oftmals unmöglich gemacht, eine gemeinsame Linie zu finden. Allerdings gehe es schon bei kleinsten Entscheidungen in diesen Bereichen um nationale Souveränitäten, sagte Emmanouilidis. „Das sehe ich in absehbarer Zeit nicht auf uns zukommen.“

EU-Kommissionspräsident Juncker
AP/Jean-Francois Badias
Juncker betonte vor den Abgeordneten „Europas Souveränität“

In seiner Rede betonte Juncker mehrmals die „europäische Souveränität“. Unter anderem will er den Euro als globale Währung stärken. „Der Euro muss das Gesicht und Werkzeug der neuen europäischen Souveränität werden“, sagte er. Um das werden zu können, müsste die Wirtschaft- und Währungspolitik in der EU deutlich gestärkt werden – was aber nach Ansicht Gros’ ebenfalls nicht passieren wird. Immerhin: „Das Wichtige haben wir schon, etwa den Staatsrettungsfonds und die Bankenunion.“ Emmanouilidis vermisste in Junckers Rede konkrete Initiativen zum Thema: Die Kommission habe hier bereits aufgegeben, sagte er.

Tauziehen zwischen den Kräften

Eine der größten Herausforderungen bleibt freilich das Tauziehen zwischen liberalen und illiberalen Kräften in der Union. Drei Stunden nach dem Ende von Junckers Rede stimmte eine breite Mehrheit des EU-Parlaments für die Einleitung eines Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn. Auch gegen Polen läuft wegen Verstößen gegen europäische Grundwerte ein solches Artikel-7-Verfahren.

Juncker hatte sich in seiner Rede hinter die Einleitung der entsprechenden Verfahren gestellt – ohne Polen und Ungarn namentlich zu nennen. Auch die Pressefreiheit verteidigte er. Juncker habe hier „ein Zeichen gesetzt“, sagte Gros. „Es war klar, auf wessen Seite er steht.“

Langer Weg nach Sibiu

Die Zeit läuft für Juncker und seine Kommission. Als entscheidendes Datum nannte er den 9. Mai 2019. An diesem Tag findet in Sibiu in Rumänien der letzte EU-Gipfel vor der Europawahl statt. „Sibiu ist der Moment, in dem wir allen Europäern eine Perspektive für die Zukunft bieten müssen“, sagte Juncker.

Emmanouilidis erwartet sich nicht allzu viel von dem Treffen: „Bei vielen der großen Fragen – der Migrationspolitik, der Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion, der Verteidigungsunion – wird es nur sehr kleine Fortschritte geben.“ Es gebe Differenzen zwischen den Mitgliedsländern, Ost und West, Nord und Süd, alten und neuen Mitgliedsländern.

Die Spannungen zwischen den liberalen und illiberalen Kräften würden zudem zunehmen, je näher die Wahl rücke. Die Leitlinien für ihre Politik werde die Union deswegen wohl erst bei einem Gipfel im Juni 2019 festzurren, so Emmanouilidis – nach der Ära Juncker.