Ein Libyer geht an einer Wand mit Zeichnungen von Che Guevara und dem früheren libyschen Diktator Muammar Gaddafi vorbei
APA/AFP/Issouf Sanogo
Libyen im Chaos

Fragwürdiger Partner der EU

Seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes versinkt Libyen im Chaos. In mehreren Teilen des Landes herrscht Bürgerkrieg, in der Hauptstadt toben die schwersten Kämpfe seit Jahren. Bewaffnete Milizen übernehmen zunehmend die Kontrolle, die Regierung ist de facto machtlos. Trotzdem setzt die EU bei der Lösung der Flüchtlingsfrage auf den nordafrikanischen Staat.

In Wien sind am Freitag im Rahmen des österreichischen EU-Ratsvorsitzes die europäischen Innenminister zu den Themen Sicherheit, Migration und Entwicklung zusammengetroffen. Auch Minister einiger nordafrikanischer Staaten nehmen an dem Treffen teil.

Afrika gilt als wichtiger Partner in der EU-Flüchtlingspolitik. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben sich auf dem EU-Gipfel Ende Juni auf die Schaffung von regionalen „Anlandezentren“ in Nordafrika geeinigt, in die Bootsflüchtlinge künftig gebracht werden sollten.

Kickl kritisiert Avramopoulos

Wo genau diese entstehen und wie sie funktionieren sollen, ist nach wie vor aber ungeklärt. Kritiker und Kritikerinnen hielten diese von Anfang an für unrealistisch, am Donnerstag hat sich nun auch EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos gegen „Ausschiffungsplattformen“ in Nordafrika ausgesprochen. Diese seien „praktisch unmöglich“. Denn bei der Suche nach geeigneten Orten für Aufnahmezentren für Flüchtlinge außerhalb der EU stieß die Union auf heftigen Widerstand. Libyens Premierminister Fajis al-Sarradsch hat sich bereits strikt gegen EU-Flüchtlingszentren ausgesprochen.

Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) sagte jedoch am Freitag auf ORF.at-Nachfrage, dass Gespräche über solche „Plattformen“ „sicherlich ein Thema“ sein würden. Gefolgt von harscher Kritik an Avramopoulos: Es sei „ein schlechtes Signal, jetzt zu verkünden, dass alles keinen Sinn macht“, so Kickl.

Knapp eine Million Migranten und Migrantinnen

Bereits jetzt befinden sich in dem Transitland Libyen Tausende Geflüchtete in Lagern. Dafür verantwortlich ist die von der EU und Italien unterstützte libysche Küstenwache, die Bootsflüchtlinge aufgreift und zurück ans Festland bringt. Sie sollen davon abgehalten werden, über das Meer nach Europa zu flüchten, so der Vorwurf von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF).

Eine geflüchtete Frau füttert ihr Kind
APA/AFP/Taha Jawashi
Tausende Menschen befinden sich laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in den Lagern in Lebensgefahr

Die Bedingungen in den Lagern seien katastrophal, den Geflüchteten drohen Erpressung, Folter, Zwangsarbeit und Vergewaltigung, so das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), das die Zahl der in Libyen registrierten Migranten und Migrantinnen auf knapp eine Million schätzt – nicht alle davon entscheiden sich jedoch für die Weiterreise nach Europa. Viele kommen nach Libyen, um dort zu arbeiten.

Schwerste Kämpfe seit Jahren

Zudem toben in der Hauptstadt Tripolis die schwersten Kämpfe zwischen rivalisierenden Milizen seit Jahren. Seit Ende August wurden nach amtlichen libyschen Angaben mindestens 50 Menschen getötet und 138 weitere verletzt – die meisten davon Zivilisten und Zivilistinnen.

Erst Anfang September hatte die UNO einen Waffenstillstand zwischen rivalisierenden Gruppen in der Hauptstadt vermittelt. Doch der hielt nicht lange: Am Dienstagabend wurde etwa der Flughafen der Hauptstadt mit Raketen beschossen, einen Tag zuvor stürmte die Islamistenmiliz Islamischer Staat (IS) die Firmenzentrale der staatlichen Ölgesellschaft NOC und erschoss drei Beschäftigte.

Macht in Hand der Milizen

Der Bruch der Waffenstillstandsvereinbarung zeigt einmal mehr, dass Libyen nicht zur Ruhe kommt. „Die politische Lage im Land ist verworren“, sagte der Beiratsvorsitzende des National Council On U.S. Libya Relations in Washington DC, Wolfgang Pusztai, gegenüber ORF.at. Es existieren drei Regierungen und zwei Parlamente, die jeweils mit einem gewissen Recht behaupten können, legitim zu sein. Eine davon ist die international anerkannte Einheitsregierung (GNA) des Premierministers. Dieser liegt zwar das von der UNO vermittelte „Libyan Political Agreement“ zugrunde – sie ist jedoch niemals von den Libyern und Libyerinnen gewählt worden.

Libyens Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch
APA/AFP
Die Einheitsregierung (GNA) von Premierminister Fajis al-Sarradsch ist zwar international anerkannt, wurde jedoch nie gewählt.

„Alle drei Regierungen haben kaum bis gar keine wirkliche Macht vor Ort. Die liegt bei den unzähligen, oft untereinander verfeindeten Milizen und militärischen Gruppierungen“, sagte Pusztai. Auch die GNA in Tripolis sei völlig von den dort herrschenden, zum Teil radikalislamistischen Milizen abhängig und hätte praktisch keine Handlungsfreiheit.

Al-Kaida und IS aktiv

Während in Tripolis ein Milizenviererkartell agiert, steht diesem im Süden der Hauptstadt die Miliz der Kani-Brüder, die 7. Brigade, feindlich gegenüber. An ihrer Seite stehen Gruppen aus Misrata und al-Sintan. Die Misrata-Milizen gelten als mächtigste militärische Gruppe im Westen Libyens. Der ganze Osten des Landes hingegen, Teile des Zentrums und des Südens werden vom polarisierenden Kommandanten der Libyan National Army (LNA), Feldmarschall Chalifa Haftar, kontrolliert. Die LNA ist die Armee des international anerkannten Parlaments des Landes.

Neben diesen Milizen gibt es noch Hunderte andere, verteilt auf das ganze Land. Einige Gruppen haben ein paar Dutzend Kämpfer, andere bis zu mehreren tausend. Dazu kommen noch verschiedene Terrorgruppen, die in Libyen aktiv sind – die bekanntesten sind der IS und Al-Kaida, die teilweise miteinander kooperieren und in einem riesigen Gebiet frei operieren können.

In dem nicht vorhandenen Machtmonopol der Regierung, dem Erbe der völlig chaotischen Organisation des Staates unter dem ehemaligen Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi sowie dem steigenden Einfluss radikaler Islamisten und jahrhundertealten Stammeskonflikten sei auch die Wurzel aller Probleme zu finden, so Pusztai.

Eskalation der Gewalt durch Wahl befürchtet

Geht es nach dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, soll in Libyen Anfang Dezember ein Wahl stattfinden und das Land somit stabilisiert werden. Kritiker und Kritikerinnen zweifeln jedoch, dass diese, wenn sie überhaupt stattfindet, in der Lage wäre, etwas zu verändern. Pusztai sieht in einer Wahl sogar ein „riskantes Unterfangen“, da sie zu einer dramatischen Verschärfung der Situation führen könnte. Das Land sei in keiner Weise dafür bereit, weder organisatorisch noch politisch oder legistisch – „und schon gar nicht von der Sicherheitslage her“, meinte Pusztai.

Soldaten sperren eine Straße ab
APA/AFP/Mahmud Turkia
Bei einem Angriff auf den Checkpoint zwischen Tripolis und Sliten wurden sechs Soldaten der Einheitsregierung getötet

„Libyen könnte völlig unkontrolliert auseinanderbrechen. Das würde Terrororganisationen erlauben, Teile des Landes noch besser für ihre Angriffe zu nutzen. So eine Entwicklung könnte auch zu einer direkten Bedrohung für Europa führen“, so Pusztai. Seiner Meinung nach werde die Wahl wahrscheinlich endlos verschoben werden, was zu einer Fortsetzung des „derzeitigen langsamen, aber stetigen Abstiegs in das totale Chaos“ führe.

Stabilisierung Libyens als Ziel

Das einzig realistische und vorrangige Ziel muss laut Pusztai sein, Libyen so zu stabilisieren, dass es für die Region keine Bedrohung darstellt. Es läge bei den Libyern und Libyerinnen selbst, hier konkrete Problemlösungen auf der Grundlage der alten Verfassung vor Gaddafi zu entwickeln. „Die Masse von ihnen hat genug von einer internationalen Bevormundung“, so der österreichische Libyen-Experte.

Als ersten Schritt sieht er lokale Waffenstillstände, die letztendlich in einen landesweiten Waffenstillstand übergehen sollten. Da eine landesweite Aussöhnung und ein Kompromiss über den künftigen Weg für ein vereintes Libyen auf absehbare Zeit nicht realistisch scheinen, zielt die von Pusztai vorgeschlagene Strategie vorerst auf eine dauerhafte Stabilisierung Libyens in seinen Teilen, also seinen drei historischen Regionen, Kyrenaika, Fessan und Tripolitanien, ab. Der gesamte Prozess müsste von der internationalen Gemeinschaft, insbesondere aber der EU und den USA begleitet werden, meinte Pusztai. Erst dann wäre es sinnvoll, eine landesweite Wahl abzuhalten.

„Vorerst keine Aufnahmezentren in Libyen“

Solange Libyen aber keine wirkliche Regierung hat, schätzt er eine Zusammenarbeit mit dem Land als schwierig ein. Die derzeitige Sicherheitslage erlaube auf absehbare Zeit folglich keine Einrichtung von Aufnahmezentren im Land, da sie ein attraktives Angriffsziel verschiedener Terrorgruppen darstellen würden. Es sei aber ohnehin nicht zu erwarten, dass die Libyer und Libyerinnen damit einverstanden wären. „Die Ablehnung dieser Zentren ist eines der wenigen Themen, in denen man sich im Land einig ist“, sagte Pusztai.