Wolfgang Pusztai, Beiratsvorsitzender des National Council on U.S.-Libya Relations
ORF
Interview

„Libyen könnte auseinanderbrechen“

Wolfgang Pusztai ist Direktor der Beratungsfirma Perim Associates, Sicherheitsexperte mit Fokus auf Libyen und Beiratsvorsitzender des National Council On U.S. Libya Relations in Washington DC. Im Interview mit ORF.at spricht er über die verworrene politische Lage in Libyen, über die Gefahr, die von einer Wahl ausgeht, und darüber, wie realistisch die von der EU geplanten Aufnahmezentren wirklich sind.

ORF.at: Können Sie kurz die aktuelle Lage in Libyen skizzieren? Wer kämpft gegen wen und warum?

Wolfgang Pusztai: Die Lage in Libyen ist sehr verworren. Es existieren drei Regierungen und zwei Parlamente, die jeweils mit einem gewissen Recht behaupten können, legitim zu sein. Eine davon ist die international anerkannte Einheitsregierung (GNA) von Premierminister Fajis al-Sarradsch, die jedoch keinerlei libysche Legitimierung hat.

Alle drei Regierungen haben kaum bis gar keine wirkliche Macht an Ort und Stelle. Die liegt bei den unzähligen, oft untereinander verfeindeten Milizen und militärischen Gruppierungen. Das größte geschlossene Gebiet, das heißt der ganze Osten des Landes, Teile des Zentrums und des Südens werden vom polarisierenden Kommandanten der Libyan National Army (LNA), Feldmarschall Chalifa Haftar, kontrolliert. Die LNA ist die Armee des international anerkannten Parlaments des Landes.

ORF.at: Welche Rolle spielt die Einheitsregierung in Libyen?

Pusztai: Die Einheitsregierung in Tripolis ist völlig von den dort herrschenden, zum Teil radikalislamistischen Milizen abhängig. Sie hat praktisch keine Handlungsfreiheit.

Die Wurzeln der Probleme des Landes sind das nicht vorhandene Machtmonopol aller Regierungen seit 2011, das Erbe der völlig chaotischen Organisation des Staates unter (Muammar al-, Anm.) Gaddafi, der steigende Einfluss radikaler Islamisten, jahrhundertealte Stammeskonflikte in mehreren Teilen des Landes und ein zunehmender Ost-West-Gegensatz.

ORF.at: Erst Anfang September hat die UNO eine Waffenruhe verkündet. Warum hält diese nicht?

Pusztai: Dafür gibt es zwei Gründe: Zum Ersten haben einige der wichtigsten Milizen an den Verhandlungen gar nicht teilgenommen und fühlen sich daher auch nicht an das Ergebnis gebunden. Zum Zweiten kann keine Seite mit dem militärischen Ergebnis der Kämpfe zufrieden sein. Die verteidigenden Tripolis-Milizen haben sehr viel Gelände verloren, und die Angreifer sind teilweise in schwer haltbaren Stellungen liegengeblieben, ohne die Angriffsziele erreicht zu haben. Dazu kommt, dass es die neutralen Kräfte, die die Stellungen und Gebäude der kämpfenden Parteien übernehmen sollen, einfach nicht gibt.

ORF.at: Könnte die für Dezember angekündigte Wahl das Land stabilisieren?

Pusztai: Das Land ist in keiner Weise für eine erneute Wahl bereit, weder organisatorisch noch politisch noch legistisch und schon gar nicht von der Sicherheitslage her. Eine baldige Wahl ist daher ein sehr riskantes Unterfangen. Wenn man die Entwicklungen von 2014 betrachtet – damals war die Parlamentswahl ein wesentlicher Auslöser des Bürgerkrieges –, könnte diese Wahl sehr leicht zu einer dramatischen Verschärfung der Situation führen.

ORF.at: Inwiefern?

Pusztai: Es besteht die ganz konkrete Gefahr einer „Somalisierung“ des Landes. Es könnte auch völlig unkontrolliert auseinanderbrechen. Beides würde den verschiedenen islamistischen Terrororganisationen erlauben, Teile Libyens noch viel besser für ihre Angriffe in der Region zu nutzen. So eine Entwicklung könnte auch zu einer direkten Bedrohung für Europa führen.

ORF.at: Was wird am 10. Dezember also passieren?

Pusztai: Es gibt nun drei wahrscheinliche Entwicklungen. Höchstwahrscheinlich wird die Wahl verschoben, da Libyen nicht in der Lage sein wird, bis Dezember halbwegs angemessene Bedingungen zu schaffen. Vielleicht wird die Wahl auch fortlaufend weiter, endlos verschoben. Das würde zu einer Fortsetzung des derzeitigen langsamen, aber stetigen Abstiegs in das totale Chaos führen.

ORF.at: Und wenn die Wahl doch stattfindet?

Pusztai: Wenn die Wahl im Dezember wirklich stattfindet, die Wahlbeteiligung in einem gewalttätigen Umfeld niedrig ist und es keinen klaren Gewinner gibt, wird das Ergebnis nicht allgemein akzeptiert werden. Das könnte zu einer Eskalation der Gewalt und zur De-facto-Auflösung Libyens führen.

Eine weitgehend freie und faire Wahl mit einer hohen Wahlbeteiligung, damit meine ich deutlich über 50 Prozent der Wahlberechtigten, begrenzter Gewalt vor und am Wahltag und einem klaren Sieger würde erheblich zur Stabilisierung Libyens beitragen. Leider ist das die am wenigsten wahrscheinliche Entwicklung.

ORF.at: Was wäre eine sinnvolle Stabilisierungsstrategie?

Pusztai: Das vorrangige und einzig realistische Ziel einer neuen Strategie muss es sein, Libyen so zu stabilisieren, dass es für die Region keine Bedrohung darstellt. Dabei ist es entscheidend, dass das „ownership“ für den eigentlichen Prozess, für das konkrete Entwickeln der Problemlösungen, letztendlich bei den Libyern liegt. Die Masse von ihnen hat genug von einer internationalen Bevormundung.

ORF.at: Was wären die Kernpunkte einer solchen Strategie?

Pusztai: Die Kernpunkte sind eine Serie von lokalen Waffenstillständen, die letztendlich in einen landesweiten Waffenstillstand münden, und eine darauf aufbauende Bottom-up-Stabilisierung des Landes – also von den Gemeinden und Städten ausgehend – auf der Grundlage der alten Verfassung vor Gaddafi.

Da eine landesweite Aussöhnung und ein Kompromiss über den künftigen Weg für ein vereintes Libyen auf absehbare Zeit nicht realistisch sind, zielt die Strategie – vorerst – auf eine dauerhafte Stabilisierung Libyens in seinen Teilen ab, das heißt, in seinen drei historischen Regionen. Die Grundlage für diesen Prozess sollte für eine Übergangszeit die – modifizierte und ergänzte – alte libysche Verfassung von 1963 sein, die 1969 von Gaddafi abgeschafft wurde.

ORF.at: Wie sollen diese Ergänzungen aussehen?

Pusztai: Die Ergänzungen müssen insbesondere eine Formel für die Verteilung der Öleinnahmen und eine Aufteilung der Kompetenzen zwischen der Zentralregierung und den drei historischen Provinzen im Sinne der ursprünglichen föderalistischen Verfassung von 1951 beinhalten.

Erst wenn eine gewisse Stabilität in ganz Libyen erreicht ist, machen eine Konsolidierung des Gesamtstaates, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und eine landesweite Wahl Sinn. Das Ziel sollte es sein, das innerhalb von fünf Jahren zu erreichen. Der gesamte Prozess muss jedenfalls laufend von der internationalen Gemeinschaft, insbesondere aber von der EU und den USA begleitet werden.

ORF.at: Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) will laut eigener Aussagen die Zusammenarbeit mit Libyen suchen. Wie realistisch schätzen Sie dieses Vorhaben ein?

Pusztai: Solange Libyen keine wirkliche Regierung hat, die Übereinkommen jenseits des Einsatzes der Küstenwache zum Stoppen von Schlepperbooten umsetzen kann, wird das sehr schwierig sein. Das Land braucht zuerst eine handlungsfähige Regierung, dann ist das durchaus möglich. Die Libyer sind Europa und vor allem Österreich gegenüber sehr positiv eingestellt.

ORF.at: Wie sehen Sie die in der EU diskutierte Einrichtung von Aufnahmezentren in Libyen?

Pusztai: Solche Zentren müsste man jedenfalls militärisch vor Kriminellen und vor Übergriffen der Milizen schützen. Das würde sie aber wiederum zum Angriffsziel für die verschiedenen Terrorgruppen im Land machen. Die Liste reicht von Al-Kaida-nahen, kleineren Gruppen, der Al-Kaida im Islamischen Maghreb und der Ansar al-Scharia bis hin zur Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

Die Sicherheitslage erlaubt somit auf absehbare Zeit keine Einrichtung von Aufnahmezentren in Libyen. Es ist aber ohnehin nicht zu erwarten, dass die Libyer damit einverstanden sind. Die Ablehnung dieser Zentren ist eines der wenigen Themen, in denen man im Land einig ist.

ORF.at: Was wäre eine Alternative zu den Aufnahmezentren?

Pusztai: Meines Erachtens ist es erforderlich, durch einen organisierten Prozess zu verhindern, dass Migranten illegal Europa erreichen. Dazu ist es notwendig, gerettete Migranten auf vorzugsweise unbewohnte Inseln vor der nordafrikanischen Küste zu bringen. Dort muss nach dem Feststellen ihrer Herkunft ein geordnetes Asylverfahren beziehungsweise eine Art Asylvorprüfung stattfinden. Diejenigen Migranten, denen Asyl gewährt wird, müssen danach nach einer freiwilligen Quote in Europa aufgeteilt werden. Die anderen wären in ihre Herkunftsländer zurückzubringen. Die erforderliche Bereitschaft zur Rücknahme der eigenen Staatsbürger wäre durch ein System von Anreizen und Druckmitteln zu erreichen.

ORF.at: Wieso sollte man Geflüchtete auf Inseln bringen?

Pusztai: Einer der Vorteile des Einrichtens dieser Migrationszentren auf Inseln ist, dass das entstehende Sicherheitsrisiko für die Gastländer wesentlich geringer ist. Ich meine, ein Übereinkommen mit diesen Ländern ist eine Frage des Anreizes, insbesondere des Geldes.

ORF.at: Und damit ließe sich die Migrationsfrage lösen?

Pusztai: Eine wirklich nachhaltige Lösung oder zumindest eine Eindämmung der Migrationsproblematik kann natürlich nur durch entsprechende Maßnahmen an Ort und Stelle erfolgen. Dazu müssen vorerst die „Multiplikatoren“ der Abwanderungsbewegung in den Herkunftsländern, also die Demografieentwicklung, Umweltzerstörung, Korruption und „Bad Governance“, in den Griff bekommen werden. Wenn das nicht gelingt, kann man gar nicht genug Arbeitsplätze an Ort und Stelle schaffen, um die Menschen zum Bleiben zu bewegen.

Das Gespräch führte Tamara Sill, ORF.at