Romanautorin Olga Flor
Lisa Rastl
Olga Flor im Interview

„In Zeiten der Verrohung“

Olga Flor, eine der gewichtigsten Stimmen der kritischen Intelligenz in Österreich, ihres Zeichens Romanautorin und streitbare Essayistin, beklagt im Gespräch mit ORF.at die kindische politische Unkorrektheit der Neuen Rechten. Ihnen müsse man unaufgeregt begegnen – in „Zeiten der Verrohung“.

ORF.at: Begriffe wie „Wahrheit“ und „Moral“ wurden längst von – auch alternativen – postmodernen Theoretikerinnen und Theoretikern in die Tonne getreten. Muss man sie wiederbeleben? Was bedeuten sie heute?

Olga Flor: Ich bin keine Theoretikerin, klar ist, dass diese Begriffe zentrale Dinge für das Funktionieren eines gesellschaftlichen Konstrukts beschreiben. Natürlich kann man den Wahrheitsbegriff dekonstruieren, doch ohne eine freie Presse, Journalismus, der eine professionelle Ethik als Grundlage der Berichterstattung nimmt, ist eine seriöse Meinungsbildung – und damit ein demokratischer Diskurs – nicht möglich. Ohne zivilisatorische Grundübereinkünfte wie die Einhaltung von Menschenrechten ist ein gedeihliches Zusammenleben nicht möglich. Der Theoretiker Michael Sandell forderte in seiner höchst publikumswirksamen Vorlesung „Moral und Politik“ sogar eine explizite Rückkehr zur politischen Philosophie in Ökonomie und Politik.

ORF.at: Die Neuen Rechten und ihre Apologetinnen und Apologeten in den Medien sprechen von „Freiheit“ und „Tabubrüchen“, wenn sie gegen „Political Correctness“ wettern. Was ist das für ein Freiheitsbegriff?

Flor: Ein höchst kindischer – die politische Unkorrektheit ist längst der Mainstream, eine wohlfeile unkorrekte Selbstgerechtigkeit macht es sich augenzwinkernd in ihrem Krähwinkel gemütlich. Niemand hindert die Neuen Rechten daran, ihre angeblichen Tabubrüche zu begehen, ganz wie sie es wollen, sie tun es auch. Mehr noch, sie wissen, dass sie mit ihren Interpretationen den Diskurs dominieren können – erst recht gilt es, Gegenpositionen zu formulieren und auf die Einhaltung zivilisatorische Grundsätze zu pochen. Ganz unaufgeregt.

ORF.at: Man hatte in den 80er und 90er Jahren das Gefühl, dass es Themen gibt, über die man nicht mehr diskutieren muss: soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Menschenrechte. Plötzlich stehen sie zur Disposition. Wie konnte das geschehen?

Flor: Ich denke, dass die bewusste Ausdünnung und Zerstörung der Errungenschaften des Sozialstaates zugunsten eines Deregulierungs- und Privatisierungsnarrativs das Gefühl für die Wertigkeit einer gesellschaftlichen Infrastruktur und einer sozial- und umweltbewussten Politik verloren gehen ließ – die auf sich selbstgestellte selbstoptimierte Wirtschaftsmonade wurde zum Ideal erklärt. Doch spätestens, wenn eine Erkrankung oder Arbeitslosigkeit oder andere Einschnitte im Leben ihre Wirkung zeigen, zeigt sich auch, dass die Idee des Einzelkämpfers, der Einzelkämpferin nur in den seltensten Fälle dauerhaft funktioniert. Doch da sich mit Ängsten sehr viel Geld und politisches Kapital machen lässt, werden Scheinlösungen angeboten, die das weiter Dahinwurschteln ermöglichen, statt zu nachhaltigeren Lösungen – manchmal wohl: zurück – zu finden.

ORF.at: Sind nicht die Künstler und Künstlerinnen mitschuldig, weil sie praktisch unterschiedslos seit Jahrzehnten immer in derselben Lautstärke gegen Unrecht und faschistische Tendenzen anbrüllen? Jahr für Jahr in ihren Reden bei der Diagonale, der Viennale oder dem steirischen herbst? Das nimmt jetzt, wo sie allen Grund dazu haben, keiner mehr ernst. Sie schreien, weil sie immer schreien – so wirkt das doch, als Pflichtritual?

Flor: Das ist eine bloße Behauptung. Ich brülle nicht, ich kenne auch keine Künstlerinnen und Künstler, die brüllen würden. Ja, in Zeiten der Verrohung muss man auf zivilisatorische Mindeststandards wie die der Einhaltung der Menschenrechte pochen. Und der Diskurs in Österreich ist eben auch in den letzten Jahrzehnten deutlich unkritischer verlaufen als etwa in Deutschland, wo bestimmte Positionen eben immer noch nicht als regierungsfähig gelten.

ORF.at: Künstlerinnen, Künstler und generell Intellektuelle kritisieren Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Am Brunnenmarkt chillen ist eben etwas anderes, als in Favoriten, Brigittenau oder Floridsdorf zu leben, in beengten Verhältnissen, Tür an Tür mit Migrantinnen und Migranten, und Kinder in Schulen mit einem Ausländeranteil von 90 Prozent und mehr zu schicken. Konflikte stehen dort an der Tagesordnung. Wird da Kritik aus einem ahnungslosen Elfenbeinturm heraus geübt?

Flor: Das weiß ich nicht. Ich kann nur von mir reden: Ich habe meine ersten Lebensjahre im 2. und 20. Wiener Gemeindebezirk verbracht, in der Leopoldstadt und der von Ihnen genannten Brigittenau, in Zeiten und Ecken, in denen dort noch nicht so sehr gechillt wurde, bin in einem Kölner Vorort aufgewachsen, habe später in Graz im damals sehr unattraktiven und definitiv durchmischten Bahnhofsviertel gewohnt, habe in verschiedenen urbanen Kontexten in Italien und in den USA gelebt. Ich halte Ghettoisierung für eines der Grundübel, ich denke, dass eine integrative Wohnungspolitik ganz entscheidend ist für das Funktionieren einer städtischen Gemeinschaft.

Eine solche Wohnungspolitik sollte nicht zuletzt darin bestehen, verschiedene soziale Gruppen ganz bewusst zu durchmischen, wie das in Städten wie Mechelen und auch Stuttgart sehr erfolgreich zu geschehen scheint, ich weise hier auf die Arte-Dokumentation hin. Die dort befragten Politiker setzen genau auf das Gegenteil einer Politik, die Zuwanderer und Migrantinnen von geförderten Wohnungen fernhalten will, wie das in Österreich gerade diskutiert wird, und sie öffnen geförderten Wohnbau ganz bewusst auch für Bessergestellte, die, gewissermaßen zum Ausgleich, Dienste an der Gemeinschaft tun. Durchmischung und Kommunikation ist meiner Einsicht das Wichtigste, um eine Gesellschaft lebenswert zu halten und zu machen.

ORF.at: Sie arbeiten in Ihrem letzten Buch und auch in anderen Beiträgen zur öffentlichen Debatte den Zusammenhang zwischen Konsum, Migration und dem Erstarken der Neuen Rechten heraus. Wie meinen Sie das? Unterstütze ich die Rechten, wenn ich einen neuen SUV oder ein Smartphone kaufe?

Flor: Je mehr und billiger wir konsumieren wollen, desto größer die Risiken für Mensch und Umwelt bei der Produktion, desto mehr Abfall, desto größer das Risiko der lebensbedrohlichen Umweltzerstörung, die, wie im Fall des Klimawandels, sich keinesfalls nur lokal auswirkt: All das erhöht selbstverständlich den Migrationsdruck aus bedrohten Gebieten in Gebiete, die sicherere Lebensbedingungen zu versprechen scheinen.

Und was wäre eine Rechte, wenn sie ihr Kernthema – die Migration – nicht hätte? Der Rechtspopulismus braucht die Migration wie die Luft zum Atmen. Nicht umsonst ist sie ja ein zentrales Thema in Ländern wie Ungarn, der Slowakei, Tschechien oder Polen, in denen die Zahl real existierender Asylsuchender verschwindend gering ist: Das Bedrohungsszenario zählt, das Schüren von Neidgefühlen und nationalistischen Reinheits- und Abgrenzungsfantasien, nicht die politischen Lösungsansätze.

ORF.at: Sie konstatieren eine allgemeine Verrohung, die sich am stärksten in der Akzeptanz der Tausenden Todesfälle im Mittelmeer manifestiert. Realistisch gesehen: Wie kommen wir da gesamtgesellschaftlich wieder raus, aus dieser Verrohung?

Flor: Indem wir uns selbst zwingen, hinzusehen, nach humanitär vertretbaren Lösungen suchen und immer wieder eine menschlichere Politik einfordern.

ORF.at: Was können Künstlerinnen und Künstler und auch Kuratorinnen und Kuratoren, so wie hier beim steirischen herbst, zu einem entsprechenden Wandel beitragen?

Kunst, die sich mit zentralen Zeitthemen auseinandersetzt, ist essentiell für einen kritischen Diskurs, der eine differenzierte Meinungsbildung ermöglicht, die wiederum eine wesentliche Voraussetzung für eine kritische demokratische Öffentlichkeit ist. Und ohne kritische Öffentlichkeit keine Demokratie – nicht umsonst sind Meinungs- und Pressefreiheit immer unter den ersten Opfern eines Systems, dass in Richtung Autokratie abdriftet. Umso wesentlicher ist es, dagegenzuhalten. Festivals wie der steirische herbst geben dafür äußerst wichtige Impulse.