Ungarns Premierminister Viktor Orban und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beim EU-Gipfel in Salzburg
Reuters/Lisi Niesner
Migration

Debatte über „flexible Solidarität“

Der erste Tag des EU-Gipfels in Salzburg ist für EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker wenig zufriedenstellend verlaufen. Insbesondere im Migrationsstreit vermisst er Kompromissbereitschaft. Diskutiert wird nun offenbar, dass Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen, zahlen sollen.

„Einige Länder, die keine Migranten aufnehmen, haben sich bereits zur Zahlung des finanziellen Beitrags bereiterklärt“, berichtete der italienische Regierungschef Giuseppe Conte nach Angaben der italienischen Nachrichtenagentur ANSA in der Nacht auf Donnerstag. Donnerstagfrüh ging er zu diesem Vorschlag wieder mehr auf Distanz: Das wäre die „verbleibende Möglichkeit“.

Bewegung bei Solidarität gefordert

Es sei aber „wichtig, dass es eine umfassende Beteiligung am Umverteilungsmechanismus gibt“: „Wenn sich nur einige Staaten beteiligen, können wir nicht von einem europäischen System sprechen. Wir arbeiten derzeit an einem Mechanismus, der wahrhaft europäische ist“, so Conte. Das Flüchtlingsthema dominiert den Gipfel – auch beim gemeinsamen Abendessen am Mittwochabend.

Teilnehmer des EU-Gipfels
ORF.at/Peter Prantner
Die Staats- und Regierungschefs ringen um Kompromisse

Schon am Mittwoch hatte Juncker von den Mitgliedsstaaten mehr Solidarität verlangt. Wer keine Flüchtlinge aufnehme, müsse sich „in Sachen Solidarität bewegen“. Die Option, sich von der Aufnahme von Flüchtlingen „freizukaufen“, bewegt sich von einer verbindlichen Quote, der bisherigen Haltung der Kommission, weg. Mit dem Angebot dieser „flexiblen Solidarität“ kommt Juncker osteuropäischen EU-Staaten entgegen, die das seit Jahren fordern.

Kurz: Verteilungsdebatte keine Lösung

Bundeskanzler und Ratsvorsitzender Sebastian Kurz (ÖVP) reagierte auf den Vorschlag finanzieller Beiträge statt der Aufnahme von Flüchtlingen eher ausweichend. Er habe den Eindruck, dass mehr und mehr seiner Kollegen und Kolleginnen bewusst geworden sei, dass die Migrationsfrage nicht über die Verteilung, sondern an der Außengrenze und durch Kooperation mit Transitländern gelöst werden müsse.

Bundeskanzler Kurz vor Pressefotografen in Salzburg
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Kanzler Kurz zu Beginn des zweiten EU-Gipfeltages in Salzburg

Die Debatte über die Verteilung von Flüchtlingen sei jedenfalls keine Lösung, so Kurz. Die Chance, so zu einer Lösung zu kommen, sei „überschaubar“. Wichtiger sei eine vertiefte Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Ländern. Der Vorschlag, „mit Ägypten und anderen“ in Gespräche zu treten, sei von allen Staats- und Regierungschefs unterstützt worden.

Erneute Absage von Ägypten

Bereits im Vorfeld des Salzburger Gipfels hatten EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kurz am Sonntag mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi erste Gespräche über eine mögliche Kooperation und einen Gipfel in Ägypten geführt. Tusk will Sisi erneut am Sonntag in New York darauf ansprechen.

Die EU will zwar enger mit Ägypten zusammenarbeiten, ein Flüchtlingszentrum für im Mittelmeer Gerettete wird das Land aber offiziell nicht beherbergen. Die ägyptische Regierung habe den Vorschlag, Asylzentren zu errichten, abgelehnt, sagte eine ranghohe Mitarbeiterin des Außenministeriums in Kairo laut der Zeitung „Egypt Today“ (Onlineausgabe).

„Keine nennenswerten Fortschritte“

Mit Ägypten habe sich erstmals ein Land in Nordafrika bereiterklärt, mit der EU vertieft über Migrationsfragen zu sprechen, sagte Kurz Donnerstagfrüh. Die Regierung dort verhindere seit 2016, dass Schiffe mit Flüchtlingen nach Europa ablegen. Bisher hatte sich kein afrikanisches Land bereiterklärt, ein „Anlandezentrum“ einzurichten, wie sie auf dem EU-Gipfel Ende Juni vorgeschlagen wurden.

Juncker sah zu Beginn des zweiten Gipfeltages bisher „keine nennenswerten Fortschritte“. Er erwartet aber noch für dieses Jahr eine Verständigung beim Außenschutz der Grenzen. Bisher gibt es Gegenwind zum Kommissionsvorschlag der vergangenen Woche, die Grenzschutzagentur Frontex bis 2020 auf 10.000 Einsatzkräfte aufzustocken und ihr Mandat zu erweitern. Kritisch zeigte sich dazu etwa Ungarns Premier Viktor Orban, der um die Souveränität und Hoheitsrechte seines Landes fürchtet.

Sitzungssaal
APA/AFP/Joe Klamer
Die Staats- und Regierungschefs nehmen einmal mehr die Themen „Brexit“ und Migration in den Fokus

Er legte einen Vorschlag zu mehr nationaler Souveränität in Bezug auf Frontex vor. Orban sprach sich konkret gegen jenen Passus des EU-Kommissionsvorschlags aus, wonach in Zukunft die Agentur im Notfall auch von sich aus tätig werden kann. Der Premier sagte laut der staatlichen ungarischen Nachrichtenagentur MTI, dass er der Ratspräsidentschaft einen Vorschlag unterbreitet habe, wonach „das Verteidigungsrecht bei den Mitgliedsstaaten verbleibt“.

Bettel: „Reden nicht über Teppiche“

Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel warnte vor einer Entmenschlichung der Debatte. „Wir sind nicht auf einem Markt. Wir reden über Menschen, nicht über Teppiche oder Waren“, so Bettel. Er sah im festgefahrenen Streit über die Zuwanderung in die EU zumindest etwas Fortschritt. „Ich habe das Gefühl, dass wir langsam, sehr langsam sogar, weiterkommen.“ Am Mittwochabend sei die Atmosphäre besser gewesen als in den vergangenen Wochen und Monaten.

„Brexit“-Positionen „sehr unterschiedlich“

Unverändert festgefahren sind die Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens. Die britische Premierministerin Theresa May hatte am Mittwochabend bei einem Arbeitsessen der 28 EU-Staats- und -Regierungschefs noch einmal für ihre Position geworben und ihrerseits Zugeständnisse der EU-Seite gefordert. Großbritannien habe sich bereits bewegt, jetzt sei die EU dran, sagte sie nach Angaben von Teilnehmern.

Beim „Brexit“ seien die Positionen zwischen Großbritannien und der EU noch „sehr unterschiedlich“, bestätigte Kurz Donnerstagfrüh vor dem Gipfel. Hier beharren sowohl Großbritannien als auch die EU auf der Forderung, die jeweils andere Seite müsse sich bewegen. Nur bei der Streitfrage, wie eine harte Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und Nordirland vermieden werden kann, hatte die EU zuletzt Nachbesserungen angekündigt.

Vorschläge Mays „nicht gut genug“

Die EU-Seite forderte neue Vorschläge aus London für einen Durchbruch. Der französische Präsident Emmanuel Macron bezog das am Donnerstag vor allem auf die Irland-Frage: Hier verlangt die EU eine klare Regelung, wie eine feste Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und der britischen Provinz Nordirland in jedem Fall vermieden werden kann. Gebraucht werde dazu ein britischer Vorschlag, sagte Macron.

Regierungschefs der EU anlässlich eines informellen Abendessens der Staats- und Regierungschefs im Rahmen eines Informellen Gipfels der Staats- und Regierungschefs am Mittwoch
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Die Atmosphäre bei dem Abendessen am Mittwochabend in der Felsenreitschule war offenbar besser als zuletzt

Auch der belgische Regierungschef Charles Michel sagte zu den Ideen Mays: „Die Vorschläge sind nicht gut genug, um zu einer Vereinbarung zu kommen.“ Nach Angaben des maltesischen Regierungschefs Joseph Muscat unterstützten die Staats- und Regierungschefs fast einmütig die Forderung nach einem zweiten „Brexit“-Referendum. „Wir wollen, dass das beinahe Unmögliche passiert, dass das Vereinigte Königreich ein weiteres Referendum abhält“, sagte Muscat am Donnerstag dem britischen Sender BBC.

Zweites Referendum „wäre besser“

„Ich glaube, dass die meisten von uns eine Situation begrüßen würden, in der das britische Volk die Möglichkeit hat, die Dinge zu relativieren, zu schauen, was ausgehandelt wurde, und die Optionen zu betrachten – und dann ein für alle Mal zu entscheiden.“

Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis äußerte sich ähnlich. Er sei von dem „Brexit“-Votum der Briten im Juni 2016 „schockiert“ gewesen, sagte er der BBC. Er sei „sehr unglücklich“, dass die Briten im März 2019 aus der EU austreten. „Es wäre besser, ein weiteres Referendum abzuhalten, vielleicht haben die Leute in der Zwischenzeit ihre Meinung geändert.“ Dann könne das „Problem recht schnell gelöst“ werden.