Volksschüler im Klassenzimmer
ORF.at/Carina Kainz
Interview

„Scheindiskussionen über das Kopftuch“

Das Ziel von politischer Bildung in der Volksschule ist das Erzeugen von Empathie, sagt Philipp Mittnik. Im Interview mit ORF.at erzählt der Geschichts- und Politikdidaktiker, wie Schülerinnen und Schüler politisch handeln können und warum schon in der Volksschule über Gewalt gegen Kinder gesprochen werden muss.

ORF.at: Worauf sollte bei der Vermittlung von politischer Bildung bei Volksschulkindern aus didaktischer Sicht besonders geachtet werden?

Philipp Mittnik: Das Wichtigste – und das ist auch ein ganz zentrales politikdidaktisches Prinzip – ist die Gegenwarts- und die Lebensweltorientierung. Schüler und Schülerinnen müssen etwas als Problem – als Konflikt, wie man das in der politischen Bildung nennt – wahrnehmen. Das können Themen aus der Umwelt sein, Wohnungsmieten, die Wegschleifung eines Parks in der Gegend. Beiträge für Sportvereine, die so hoch sind, dass sie eine Belastung für Familien sind, oder Themen, die mit der Schule zu tun haben. Man sollte nur nicht zu sehr ins Persönliche eingreifen. Scheidung würde ich zum Beispiel nicht bearbeiten. Bei der Hälfte der Kinder sind die Eltern geschieden. Da reißt man Wunden auf.

Philipp Mittnik
Philipp Mittnik
Philipp Mittnik ist Geschichts- und Politikdidaktiker und leitet das Zentrum für Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Wien

ORF.at: In einer Ihrer Publikationen haben Sie geschrieben, politische Bildung soll Kinder auch „zum politischen Handeln in ihren Lebenswelten“ befähigen. Wie können Volksschulkinder politisch handeln?

Mittnik: Indem man zum Beispiel in der Schule eine Ausstellung zu dem Park, der weggeschleift werden soll, macht und zeigt, warum dieser Park für uns wichtig ist. Man kann auch so etwas wie eine kleine Demonstration in Absprache mit der Polizei machen: Kinder stellen sich in einer 30er-Zone auf die Straße und verteilen Zitronen an Autofahrerinnen und Autofahrer, die zu schnell fahren, und Äpfel an die, die sich an die Beschränkung halten. Nur das Ausgeben des Obstes ist noch kein politisches Handeln. Wenn man aber sagt, warum die Leute nicht schneller fahren sollen und dass es für die Geschwindigkeitsbeschränkung Gründe gibt, dann ist es politische Bildung.

In vielen Schulen war auch die Abschiebung von Flüchtlingskindern ein Riesenthema. Kinder aus einer Volksschule in Wien haben sich zum Beispiel auf die Straße gestellt mit einem Transparent, auf dem stand, wir wollen nicht, dass unser Freund abgeschoben wird. Dieses solidarische Element ist in diesem Alter etwas ganz Wichtiges. Damals hat „Wien heute“ darüber berichtet, und es hat einen Riesenbahö gegeben. Vielleicht sagt ein Vater, er will nicht, dass sein Kind mitmacht. Das sind dann diese Konflikte, vor denen sich viele Lehrerinnen fürchten.

ORF.at: Kennen Kinder ihre Rechte? Wissen sie etwa, dass sie per Gesetz nicht geschlagen werden dürfen?

Mittnik: Kinderrechte sind ein ganz wichtiges Thema. In den Schulbüchern findet man dazu oft den kleinen Samuel aus Burkina Faso, der auf der Kaffeeplantage unter schlechten Bedingungen arbeitet. Das kann man schon machen, das ist kein schlechtes Beispiel. Aber wenn man sich den Robert oder den Murat aus Wien-Simmering anschaut, dann ist das viel zielführender. Und gerade beim Thema Gewalt ist die Stärkung wichtig: zu sagen, eure Eltern dürfen das nicht. Und auch den Hintergrund zu vermitteln, warum man Kinder nicht schlagen darf. Es ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern es macht auch etwas mit Menschen. Es zeigt die Unterwürfigkeit, es zeigt die Nichtgleichberechtigung, was wieder auch unter demokratiepolitischer Perspektive schädlich ist.

ORF.at: Wird das in Volksschulen oft thematisiert?

Mittnik: Das glaube ich nicht.

ORF.at: Braucht es die Schule, damit Kinder wissen, was ihre Rechte sind?

Mittnik: Absolut. Die Erfüllung der Kinderrechte, der persönlichen Freiheiten, ein Recht auf Privatsphäre, ein Recht auf eine stressfreie Umgebung müssen ganz zentral eingearbeitet werden. Auch die Umsetzung dieser Thematiken in den Schulbüchern ist als katastrophal zu bewerten. Und ich glaube, die Schule müsste hier einen ganz massiven Teil einnehmen und das viel stärker umsetzen.

ORF.at: Welche Relevanz haben in der politischen Bildung in der Volksschule Themen wie Frauenrechte – besonders auch im Hinblick auf Kinder aus Familien, in denen die Gleichstellung von Frau und Mann nicht selbstverständlich ist?

Mittnik: Das ist ein Thema, das man sicher in den Fokus rücken muss. Gerade bei Buben im Alter von neun bis zehn Jahren, in dem sich so etwas wie eine vorgezogenen Männlichkeit entwickelt und oft schwachsinnige Aussagen der Eltern nachgeplappert werden. Das hat eine tiefe Relevanz für die politische Bildung. Über Menschenrechte darf man nicht diskutieren, und man darf auch nicht über die Gleichstellung von Mann und Frau diskutieren. Ich glaube, dass diese völlig falsch gelebte Toleranz in Geschlechterfragen genau das Gegenteil bewirkt. Damit wird der Eindruck vermittelt, dass man damit durchkommen kann. Wir werden viele Väter nicht dazu bringen, dass die Frau nicht mehr zu Hause auf die Kinder aufpasst und kocht. Wir wollen aber nicht den Vater ändern, sondern wir wollen den Kindern – und zwar ohne Vorwürfe zu machen – Alternativen aufzeigen. Dass es Väter gibt, die zu Hause kochen und die Hausarbeit erledigen. Dass es Mütter gibt, die in technischen Berufen arbeiten.

Dieses Öffnen der Weltsicht ist etwas ganz Wichtiges, gerade in den Geschlechterfragen. Und jegliche Toleranz, „das ist halt in der Kultur so“, ist völlig fehl am Platz. Und das ist natürlich konfliktbeladen. Wenn man diese Themen behandelt, dann steht vielleicht am nächsten Tag der Vater in der Klasse. Ich frage dann die Volksschullehrerinnen immer: Was kann er Ihnen tun? Wenn er Sie körperlich bedroht, rufen Sie die Polizei.

Diese Thematiken, wie zum Beispiel das Kopftuch in der Volksschule und im Kindergarten, das sind lauter Scheindiskussionen. Die wirkliche Diskussion ist, welches Frauenbild wird vermittelt. Das müsste in den Fokus gerückt werden, aber das passiert nicht. Bei Maturaaufgaben in AHS in Geschichte und politischer Bildung behandelt nicht einmal ein Prozent Geschlechterfragen, Gender Studies und Frauenforschung. Und wenn das nicht einmal auf Maturaniveau stattfindet, dann in der Volksschule schon gar nicht. Man muss den Schülern klar sagen, was hier angebracht ist. Und einer Lehrerin nicht die Hand zu geben ist inakzeptabel.

Ich habe lange im 16. Bezirk als Lehrer gearbeitet, damals hatten wir viele türkischstämmige Väter, die gesagt haben, die Tochter geht nicht Schwimmen, die Tochter geht nicht in den Sportunterricht, die Tochter fährt nicht mit auf Skikurs. Bis auf zwei Fälle haben wir alle Väter dazu gebracht, dass die Töchter mitfahren dürfen. Wir haben mit liberalen Imamen zusammengearbeitet. Wenn ein Vater gesagt hat, seine Tochter soll nicht auf Skikurs mitfahren, hat der Imam den Koran ausgepackt und gesagt, zeigen Sie mir bitte, wo das im Koran steht. Und der Vater konnte es natürlich nicht zeigen. Ich glaube, dass diese Art der wirklichen, effektiven Integrationsarbeit stattfinden muss und dass wir uns viel zu lange davor weggeduckt haben.

ORF.at: Bei älteren Volksschulkindern gibt es ja oft schon Interesse für Parteipolitik. Besonders im Wahlkampf, wenn überall Plakate hängen, beschäftigen sich Kinder damit. Wie empfehlen Sie Volksschullehrerinnen und -lehrern mit parteipolitischen Fragen umzugehen?

Mittnik: Lehrerinnen und Lehrer sollen nicht erklären, warum sie diese oder jene Partei wählen, sondern welche Positionen hinter den Parteien stehen. In den meisten Haushalten wird nicht politisiert, und schon gar nicht mit Kindern. Ich glaube, es ist die Pflicht von Lehrerinnen und Lehrern, ausgrenzende Elemente in der Politik aufzuzeigen. Weil die Erziehung zur Demokratie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen, so heißt es im Schulunterrichtsgesetz, gesetzlich festgeschrieben ist.

ORF.at: Studien zeigen, dass die Zustimmung zur Demokratie sinkt. Zudem gibt es vermehrt antisemitische und rechtsextreme Ausschreitungen. Kann und soll man mit diesen Themen schon in der Volksschule ansetzen?

Mittnik: Grundsätzlich schon. Wir wissen aber auch, dass gerade in der Volksschule der Anteil der weniger politisch interessierten Lehrerinnen und Lehrer relativ hoch ist. Es gibt vermutlich viele Lehrerinnen und Lehrer in Österreich, die werden mit ihrer Klasse nicht über Chemnitz sprechen, weil sie zu wenig darüber wissen. Und das muss geändert werden. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist: Man muss das nicht an Einzelfällen aufhängen, auch wenn es dramatisch ist, was da passiert. Aber man muss das am Themenfeld Ausgrenzung aufhängen. Dass jeder ganz leicht ausgrenzen kann. Dazu bedarf es keiner großen Intelligenz, Mut oder Kraft. Man muss fragen, was bedeutet Ausgrenzung für den Ausgegrenzten. Das zentrale Ziel in der politischen Bildung ist eben das Erzeugen von Empathie. Und das Gegenteil von Empathie ist Ausgrenzung. Und Ausgrenzung darf nicht als gesellschaftsfähig angesehen werden.