Interview

„In Europa herrscht eine humanitäre Krise“

Apostolos Veizis ist medizinischer Einsatzleiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Griechenland. Im Interview mit ORF.at spricht er über die katastrophalen Bedingungen in den Flüchtlingslagern, über die fehlgeschlagene Flüchtlingspolitik der EU und darüber, warum er die Hoffnung dennoch nicht aufgegeben hat.

ORF.at: Herr Veizis, Ärzte ohne Grenzen leistet bekanntlich medizinische Nothilfe in Krisen- und Kriegsgebieten. Nun sind Sie in Europa tätig. Wie passt das zusammen?

Apostolos Veizis: Es stimmt, wir hätten nie gedacht, dass wir einmal in Europa gebraucht werden. Wissend, dass Europa die Ressourcen hätte, um Menschen in Not zu helfen. Umso schockierender ist es, diese Lager zu sehen. Kollegen in Griechenland meinen, es sei einer der schwersten Einsätze in ihrem Leben.

ORF.at: Wie kann man sich diese Lager vorstellen?

Veizis: Wenn ich Ihnen Bilder davon zeigen würde, würden Sie denken, das ist in Indien – und nicht mitten in Europa. Es ist wie in einem schlechten Traum. Die Bedingungen in den Lagern sind unmenschlich. Es herrscht völliges Chaos. Und es wird immer schlimmer. Ein gutes Beispiel ist das Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos. Dort leben mittlerweile mehr als 9.000 Menschen, 3.500 davon sind Kinder. Ursprünglich war das Lager für 3.000 Menschen gedacht.

ORF.at: Wie konnte das geschehen?

Veizis: In der Vergangenheit blieben Flüchtlinge außerdem nur ein oder zwei Tage im Camp, einige leben nun aber schon seit zwei Jahren hier. Dementsprechend gibt zu wenig von allem – zu wenige sanitäre Einrichtungen, zu wenig medizinische Versorgung, zu wenig Wasser, zu wenig Nahrung.

ORF.at: Sie bezeichnen die Lager oft als Gefängnisse.

Veizis: Ja, für mich sind Lager auf den griechischen Inseln Europas offene Gefängnisse. Ich würde sogar so weit gehen, sie als Konzentrationslager zu bezeichnen. Der einzige Fehler, den diese Menschen begangen haben, war, dass sie versucht haben, ihr Leben zu retten. Dabei sind sie immer mit Gewalt konfrontiert – zuerst in ihrer Heimat, dann auf ihrer Reise und nun in den Camps.

ORF.at: Welche Form von Gewalt herrscht in den Lagern?

Veizis: Ein Vater erzählte mir, dass er seine Familien zwar von den Bomben in Aleppo beschützen konnte, aber nicht vor sexuellen Übergriffen in europäischen Camps. Frauen fragen uns nach Windeln, weil sie sich nachts nicht mehr auf die Toilette trauen – aus Angst, vergewaltigt zu werden.

ORF.at: Wie wirkt sich das auf die Psyche der dort lebenden Menschen aus?

Veizis: Viele der Geflohenen kommen bereits traumatisiert an. 80 Prozent der Flüchtlinge, die wir behandeln, leiden unter psychischen Gesundheitsproblemen, die meisten unter Depressionen. Ihr psychischer Zustand verschlechtert sich in den Lagern aber zusätzlich – schließlich wissen viele nicht, ob, wie, wann oder wohin es für sie weitergeht. Sogar Kinder begehen hier Selbstmordversuche.

ORF.at: Wieso werden die Lebensbedingungen in den Lagern nicht verbessert?

Veizis: Viele europäische Politiker meinen, wenn die Bedingungen verbessert würden, kämen noch mehr Menschen. Aber dabei wird vergessen, dass der Push-Faktor „Krieg“ heißt. Und der ist stärker als der Pull-Faktor. Auf den griechischen Inseln herrscht eine humanitäre Krise, die durch die Politik der Europäischen Union verursacht wurde. Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge ist nicht so hoch, dass sie nicht zu managen wäre.

ORF.at: Aus Ihrer Sicht handelt es sich also um keine Flüchtlingskrise?

Veizis: Nein. Auch 2015 gab es keine Flüchtlingskrise. Es war eine von der Politik verursachte Managementkrise. Und es gibt keine Rechtfertigung, warum die Menschen in den Lagern kein Wasser und keine medizinische Versorgung bekommen. Denn das Geld dafür gäbe es. Es wird eben nur für andere Dinge wie Grenzschutz und Grenzzäune verwendet. Ich finde, das ist eine große Blamage für die EU.

ORF.at: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz nennt die Schließung der Balkan-Route einen seiner größten Erfolge.

Veizis: Die Schließung und das nicht funktionierende EU-Türkei-Abkommen hat nur zu noch mehr Leid geführt. Es hat zwei Weltkriege gebraucht, um eine Genfer Flüchtlingskonvention ins Leben zu rufen, die besagt, dass jeder, der Schutz benötigt, Schutz bekommt. Aber es gibt keine legalen Wege. Nicht nur Flüchtlinge werden mittlerweile kriminalisiert, sondern sogar Nichtregierungsorganisationen, die Flüchtlingen helfen.

ORF.at: Das Argument ist ja, dass durch Schutz der Außengrenzen weniger Flüchtlinge kämen und Schleppern somit das Handwerk gelegt werden könne.

Veizis: Es stimmt, dass weniger kommen. Nur sterben eben auch mehr bei der Überfahrt nach Europa, weil es keine Hilfe mehr gibt. Aber egal, ob Grenzzäune, militärische Einsätze, Frontex – all das kann Flüchtlinge nicht aufhalten. Sie sind immer gekommen und sie werden immer kommen. Ein Syrer sagte einmal zu mir: „Ihr könnt uns nicht verstehen. Ihr wisst nicht, wie es sich anhört, wenn Menschen aus Verzweiflung und Hunger Gras essen. Ihr kennt den Geruch toter Menschen nicht.“

ORF.at: Und was ist mit den Schleppern?

Veizis: Die Schlepper selbst sehen sich als die Guten. Schließlich seien sie es, die Menschen in Not Lösungen bieten. Auch sie werden immer neue Wege finden – wenn auch gefährlichere und teurere. Die EU ist der Arbeitgeber der Schlepperbanden. Nur wenn es legale Wege gäbe, würde es keine Schlepper mehr geben.

ORF.at: Das Motto der EU-Ratspräsidentschaft lautet „Ein Europa, das schützt“ – was sagen Sie dazu?

Veizis: Die Frage ist, wer sollte vor wem geschützt werden? Fürchten wir uns vor Menschen, die vor Krieg fliehen? Vor Frauen? Vor Kindern? Ich sage nicht, dass es in unserer Gesellschaft keine Probleme gibt, wie etwa Arbeitslosigkeit, aber die Probleme sollten nicht immer mit der Flüchtlingsthematik vermischt werden.

ORF.at: Was denken Sie über die in der EU diskutierte Einrichtung von Aufnahmezentren?

Veizis: Wenn schon die Lager innerhalb der EU-Grenzen nicht funktionieren, wieso sollten sie es dann außerhalb der Grenzen tun? Wieso denkt man, dass andere Ländern das managen könnten? Europa kann die Verantwortung, die es hier zu tragen hat, nicht einfach so abgeben. Es ist das gleiche Leid – es passiert dann eben nur ein bisschen weiter weg – vielleicht so weit, dass man es nicht mehr sehen muss.

ORF.at: Was wären alternative Lösungen?

Veizis: Es braucht hier dringend eine Intervention der Europäischen Union – besser gestern als heute. Die Menschen auf den Inseln müssen aufs Festland gebracht und verteilt werden. Und die Asylverfahren müssen beschleunigt werden.

ORF.at: Auf der Website der WHO haben Sie geschrieben: „Ich bin frustriert. Aber ich bin nicht ohne Hoffnung.“ Was lässt Sie die Hoffnung nicht verlieren?

Veizis: Private Spenden sind unsere wichtigste Einnahmequelle. Das heißt, wir bekommen die Hoffnung von jenen, die uns unterstützen. Ich glaube daran, dass die positive Seite unserer Gesellschaft überwiegt.

ORF.at: Warum?

Veizis: Letztes Jahr demonstrierten in Barcelona 300.000 gegen die europäische Flüchtlingspolitik. Ich erinnere mich an Bilder aus Österreich und Deutschland, als Einheimische Flüchtlinge mit Blumen auf Bahnhöfen begrüßt haben. Ich glaube, es ist wichtig, Menschen wieder zu mobilisieren.

ORF.at: Und wie lässt sich das erreichen?

Veizis: Es gibt heutzutage keine Rechtfertigung mehr, niemand darf sagen „Ich habe von nichts gewusst“. Steuerzahler müssen wissen, wie ihre Gelder verwendet werden. Und sagen: „Nicht in unserem Namen.“ Ich glaube, es ist Zeit für Taten. Wir dürfen uns nur nicht einschüchtern lassen.

Das Gespräch führte Tamara Sill, ORF.at