Goldener Brautschmuck
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Indien

Bei hohem Goldpreis sterben mehr Mädchen

Gold – etwa in Form von Schmuck – hat in Indien traditionell einen besonders hohen Wert. Es ist kein Zufall, dass das riesige Land einer der weltweit größten Importeure von Gold ist. Einer Studie zufolge steigt mit dem Goldpreis in Indien aber auch die Zahl von Todesfällen bei neugeborenen Mädchen.

In der indischen Gesellschaft gelten männliche Nachkommen gemeinhin mehr als Töchter. Ein wichtiger Faktor dafür ist eine alte Tradition, die früher auch in Europa verbreitet war: die Mitgift für Frauen, wenn sie heiraten. Diese ist in Indien seit 1961 zwar gesetzlich verboten – doch de facto weiter Usus. Für eine Mitgift müssen Familien aber oft das Haushaltseinkommen mehrerer Jahre ansparen. Die Kosten für eine Tochter sind daher ungleich höher als bei einem Sohn. Umgekehrt ist die Mitgift für Familien, die einen Sohn verheiraten, oft eine wichtige Einnahmequelle.

Eine der Autorinnen der Studien, Sonia Bhalotra, ist überzeugt, dass der internationale Goldpreis – Goldschmuck ist ein wichtiger Bestandteil der Mitgift – diese Kosten bei Mädchen erhöht und dazu führt, dass Eltern Mädchen vernachlässigen oder abtreiben.

Gewalt gegen Ehefrauen

Die Mitgift hatte ursprünglich den Zweck, den Töchtern, die in den Haushalt ihrer Ehemänner wechselten, auch nach der Eheschließung einen Schutz zu gewähren, da früher nur die Frauen selbst Verfügungsgewalt über die Mitgift hatten. Längst haben aber in der Regel der Ehemann oder die Schwiegereltern den alleinigen Zugriff zur Mitgift. Das führt in zahlreichen Fällen zu Gewalt gegen verheiratete Frauen – etwa auch um nach der Eheschließung von den Eltern der Braut eine Aufbesserung der Mitgift zu erpressen.

Für viele nicht finanzierbar

Viele Familien müssen bereits bei der Geburt einer Tochter mit dem Sparen für die Mitgift beginnen – auch die seit Jahren vergleichsweise gute wirtschaftliche Lage in Indien ändert daran nichts. Die Höhe der Mitgift passt sich – neben Faktoren wie Region und Kastenzugehörigkeit – der Konjunktur an.

Nicht zuletzt weil sie illegal ist, gibt es keinerlei systematische Daten über die Entwicklung der Mitgift. Die Studie untersuchte daher die Frage, wie sehr die Mitgift Familien finanziell belastet, indem sie sich den internationalen Goldpreis über mehrere Jahrzehnte – von 1972 bis 2005 – ansah. Goldschmuck ist ein wichtiger Bestandteil der Mitgift – und da rund 90 Prozent des Goldes importiert werden, wirkt sich der internationale Goldpreis direkt auf die Kosten für die Mitgift aus.

Weisenhaus in Indien
Reuters
Die teure Mitgift ist für viele neugeborene Mädchen eine Frage von Leben und Tod

Sterblichkeit schwankt mit Goldpreis

Die Studie vergleicht den monatlichen Durchschnittspreis für Gold mit den Daten der Geburtenstatistik für den jeweiligen Monat. Dabei zeigt sich eine klare statistische Korrelation: einerseits bei dem durch den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan Ende 1979 ausgelösten rasanten Goldpreisanstieg. In den ersten Monaten des Jahres 1980 stieg die Zahl von Sterbefällen bei neugeborenen Mädchen um rund neun Prozent. Bei Buben blieb sie unverändert.

Aber auch kleinere Preisschocks bei Gold wirkten sich auf die Überlebenschancen neugeborener Mädchen aus: Von 1972 bis 1985 gibt es eine – vergleicht man eine Standardabweichung beim Goldpreis mit der Sterblichkeitsrate im selben Monat – klare Korrelation: Stieg der Goldpreis um 6,3 Prozent, so nahm die Sterblichkeit neugeborener Mädchen um 6,4 Prozent im selben Monat zu. Im gleichen Zeitraum gab es laut Bhalotra bei neugeborenen Buben dagegen keine auffällige Veränderung bei der Sterblichkeit.

Ein weiteres Ergebnis der Studie: Mädchen, die zum Zeitpunkt eines steigenden Goldpreises geboren wurden und überlebten – waren im Erwachsenenalter kleiner als der Durchschnitt. Das steht im Einklang mit anderen Studien, die zeigen, dass mangelhafte Ernährung in der Kindheit zu geringerem Wachstum führt und dass manche Eltern in Indien Töchter weniger gut ernähren als Söhne.

Basis für die Studie sind im Auftrag der Regierung durchgeführte regelmäßige Umfragen in Haushalten, bei denen demografische und gesundheitliche Daten erhoben werden (India Demographic and Health Surveys, DHS). Die Daten beinhalten mehr als 100.000 Geburten.

Veränderung mit Ultraschall

Ab Mitte der 1980er Jahre wurden Ultraschalluntersuchungen in Indien immer häufiger – und damit die Möglichkeit, das Geschlecht eines Babys bereits während der Schwangerschaft festzustellen. Bhalotra hatte eigenen Angaben zufolge in einer früheren Studie bereits aufgezeigt, dass das zu einer Änderung der Strategie führte: Statt Mädchen nach der Geburt zu vernachlässigen, werden seither unerwünschte weibliche Föten eher abgetrieben. Immer wieder wurde von Kliniken geradezu für die Abtreibung weiblicher Föten geworben – mit der Kostenersparnis für die Familie.

Bhalotra, Selim Gulesci und Abhishek Chakravarty sind überzeugt, dass Eltern in Indien oft auf steigende Goldpreise reagieren und die Aussicht, ein Mädchen großziehen zu „müssen“, möglichst minimieren. Der Goldpreis und die Auswirkungen auf die Mitgift sind demnach ein alltägliches Thema – in privaten Gesprächen wie in den Medien. Andere mögliche Erklärungen der Korrelation abseits der Mitgift verwarf das Team als nicht überzeugend.

Die Geburtenstatistik lässt vermuten, dass weiterhin weibliche Föten abgetrieben werden. So kommen in den Jahren 2013 bis 2015 auf 1.000 neugeborene Buben nur 900 Mädchen. Und das trotz eines kontinuierlichen Wachstums und einer schrittweisen Verringerung der Armut. Mehrere frühere Studien zeigten übrigens, dass das „Verschwinden“ von Mädchen vor allem ein Phänomen höherer sozialer Schichten bzw. Kasten ist.

Vitirine mit Goldschmuck
AP/Bikas Das
Goldschmuck ist häufig Teil der Mitgift

Besitzrecht als Wurzel des Übels

Bhalotra ist überzeugt, dass selbst eine effektive Überwachung des Mitgiftverbots durch die Exekutive – derzeit geschieht das kaum – nichts bringen würde. Diese sei so sehr in der Tradition verhaftet, dass Familien wohl zusammenarbeiten würden, um das Verbot zu umgehen. Bhalotra setzt vielmehr auf bessere Bildung von Frauen und Männern – und eine Gleichstellung von Frauen im Besitzrecht. Beides könne dazu führen, dass die für Mädchen und Frauen oft gefährliche Tradition der Mitgift langsam an Bedeutung verliere.

Die überwiegende Zahl der Ehen in Indien wird zwischen Familien vermittelt, Liebesheiraten sind die große Ausnahme. Verstöße gegen das Mitgiftverbot werden, so das US-Onlinemagazin Vox, nur selten gemeldet – bei zehn Millionen Hochzeiten 2015 gab es 10.000 Anzeigen. Dazu kommt es nur in Extremfällen: Wenn die Familie des Bräutigams zu hohe Forderungen stellt oder die Braut misshandelt oder ermordet wird. Häufiger kommen solche Fälle als häusliche Gewaltverbrechen zur Anzeige. 2015 wurden laut Vox im Durchschnitt täglich fast 21 Frauen von ihrem Bräutigam oder ihren Schwiegereltern ermordet, weil diese mit der Mitgift nicht zufrieden waren.

Kosten zentraler Faktor

Die Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen sind heute weiterhin ein zentrales soziales Problem im zweitbevölkerungsreichsten Land der Erde. Als eine der Ursachen gelten die Vererbungsregeln, die weitgehend Männer bevorzugen. Dazu kommen – religiös und sozial tradierte – Geschlechterrollen, die Frauen bis heute oft wenig Freiraum lassen. Die aktuelle Studie zeigt nun, dass wirtschaftliche Überlegungen – sprich der Goldpreis und die zu erwartenden Kosten für die Mitgift – ein wichtiger Faktor dafür sind, ob ein Mädchen geboren wird bzw. überlebt.