Szene aus „Babylon Berlin“
ORF/Beta Film/X Filme Creative Pool Entertainment GmbH/Frédéric Batier
„Babylon Berlin“

Die Abgründe der „goldenen“ Zwanziger

Es ist ein Serienepos der Superlative, das am Sonntag ab 20.15 Uhr in ORF eins seine Free-TV-Premiere auch im ORF erlebt: „Babylon Berlin“ ist als deutschsprachige Antwort auf „Mad Men“ und „Boardwalk Empire“ die bisher teuerste deutsche Produktion überhaupt.

Im Mittelpunkt stehen die „goldenen“ Zwanziger zwischen Halbseidenem, kultureller Blüte und kriminellen Machenschaften am Vorabend der Machtergreifung der Nazis. Zur Pay-TV-Premiere gab es hymnische Kritiken – und das durchaus berechtigt. Der Schauplatz ist das Berlin des Jahres 1929: Was heute der Szeneschuppen Berghain ist, ist hier das Moka Efti.

Im Obergeschoß eine schillernde Crowd, deren Körper zu Swing und Jazz zucken, als gäbe es kein Morgen, unten im Keller die verruchten Sex-Separees. Hier steppt der Bär – vor allem, als zum Höhepunkt des Abends die androgyne Sängerin Nikoros (Severija Janusauskaite) auf der Bühne erscheint, mit dünnem Schnauzer, schwarzem Bubikopf und schwarzem Ledermantel und mit Lady Gaga-, Kraftwerk- und Marlene-Dietrich-Anleihen den Titelsong performt: „Zu Asche, zu Staub. Zu Asche, zu Staub. Dem Licht geraubt, doch noch nicht jetzt. Ich suche die Unsterblichkeit.“ Die Masse geht ab.

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Szene aus „Babylon Berlin“
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Gereon Rath auf Verfolgungsjagd auf den Dächern Berlins
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Das Pornogeschäft boomt im Goldenen Berlin der 20er Jahre
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Die Sittenpolizei (Mitte: Peter Kurth) lässt nicht alle schalten und walten
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Gräfin Nikoros (Severija Janusauskaite) spielt ein gefährliches Spiel
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Am 1. Mai kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen und Kämpfen zwischen Polizei und Arbeiterschaft
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Im „Moka Efti“ wird allabendlich ausgelassen gefeiert
Szene aus „Babylon Berlin“
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Ein mysteriöser Zug mit einem Wagon voller Gold, nach Berlin gebracht von einer revolutionären Gruppe von Stalin-Gegnern
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Karl Markovics spielt den umtriebigen Journalisten Samuel Katelbach
Szene aus „Babylon Berlin“
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Fritzi Haberlandt mimt eine Kriegswitwe

Bildgewaltig und hochdynamisch

Die Szene aus dem Finish der zweiten Folge ist der Höhepunkt des ersten ORF-Sendetermins und fasst gut zusammen, was „Babylon Berlin“ insgesamt ausmacht: Die Krimiserie ist bildgewaltig, opulent und hochdynamisch – auf eine Art, wie sie das deutsche Fernsehen tatsächlich noch nicht gesehen hat. Der Stoff ist dafür denkbar gut geeignet: „Babylon Berlin“ handelt, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb, von der „unverwüstlichsten aller Sehnsuchtszeiten“.

Eine Metropole in Aufruhr

„Babylon Berlin“ gilt als die teuerste deutschsprachige TV-Serie, waren doch die ersten beiden Staffeln mit einem Budget von satten 40 Millionen Euro ausgestattet.

Berlin – das war damals ein brodelndes Kulturlabor, ein Hort des Gegensätzlichen, mit hemmungsloser Vergnügungssucht und Verelendung, sexueller Freizügigkeit und autoritärer Wende, Straßenschlachten und Charleston, die da aufeinanderprallten, in diesem Epizentrum einer, wie es gerne heißt, auf dem Vulkan tanzenden Republik. Das Regietrio bestehend aus Tom Tykwer („Lola rennt“, „Das Parfum“), Achim von Borries und Henk Handloegten weiß das entsprechend auszuschlachten. Ein „Monster“ nannte Handloegten das Serienepos – was aber wohl weniger mit der Bombastik von „Babylon Berlin“ zu tun hat als mit dem ungeheuren Aufwand, der da betrieben wurde.

Die teuerste deutsche Serie

Ein paar Zahlen dazu: Mit 40 Millionen Euro ist die Produktion die teuerste deutsche Serie überhaupt. Ganze vier Jahre wurde geplant, getüftelt und schließlich gedreht, mit 5.000 Komparsinnen und Komparsen, 250 Sprechrollen, in 8.000 Quadratmeter gebauter Außenkulisse, in fast 200 Tagen und an knapp 300 Orten, allein für die erste Staffel. Ausgezahlt hat es sich: Die Serie wurde sogar in die USA verkauft.

„Babylon Berlin“ im ORF

Am Sonntag (20.15, 21.00, 21.50 Uhr) sind die ersten drei Folgen in ORF eins und im Livestream in tvthek.ORF.at zu sehen – mehr dazu in tv.ORF.at.

Die Kritiken sind einhellig positiv: „‚Babylon Berlin‘ schnurrt als Verschwörungsszenario ab wie die besten US-Serien – und steht doch voll in der Tradition eines urdeutschen Angstkinos“, schrieb der „Spiegel“, „ein fantastisches Sittengemälde“ mit einem „rauschhaften Auftakt, der süchtig macht“ meint „Die Zeit“. Das Rauschhafte würden wahrscheinlich auch weniger euphorische Kritikerinnen und Kritiker bezeugen: Farbgesättigte Szenerien, geheimnisvolle Figuren und eine sich langsam entrollende Thriller-Handlung geben den beiden ersten Staffeln nämlich einen ziemlichen Drive. Staffel drei und Staffel vier sind übrigens bereits in Arbeit.

In den Untiefen der Unterwelt

Im Zentrum des 20er-Jahre-Panoptikums steht jedenfalls Gereon Rath (Volker Bruch), ein Kommissar, der von Köln nach Berlin versetzt wurde, um dort bei der Sittenpolizei einen kompromittierenden Film aufzuspüren. Ein hochrangiger Politiker beim SM-Sex, eine vertrauliche Sache, die aber weite – und ziemlich gefährliche – Kreise zieht, zur Mafia, zu Drogen- und Waffenhandel und politischen Intrigen, die selbst das Polizeipräsidium von Berlin zum Kampfplatz einer dem Untergang geweihten Demokratie werden lassen.

Dieser Rath ist kein strahlender Held, sondern ein Zugeknöpfter und Taumelnder, ein vom Ersten Weltkrieg schwer gezeichneter Typ – und in diesem Sinne beginnt auch der Flirt mit der Stenotypistin Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries) nicht etwa harmlos im Großraumbüro, sondern in der Herrentoilette, in der Rath zitternd und schwitzend auf dem Boden liegt. Charlotte bringt ihn mit zwei Ampullen Morphium wieder auf Vordermann. Die beiden vereinbaren Stillschweigen.

Eine historische „Lola rennt“

Diese Charlotte Ritter ist so etwas wie die historische Titelfigur aus „Lola rennt“ und der deklarierte Lieblingscharakter der drei Regisseure: bettelarm, aber immer glamourös und kerngesund, ob in der heruntergekommenen Großfamilienwohnung oder als heimlicher Star des Moka Efti, wo sie auch als Gelegenheitsprostituierte arbeitet. Beide – sowohl Bruch als auch Fries – füllen ihre Rollen perfekt aus. Die großen Stars wie Karl Markovits, Fritzi Haberlandt, Lars Eidinger und allen voran Peter Kurth – grandios als zwielichtiger Sittendezernatsleiter – glänzen dagegen aus der zweiten Reihe. Ein kluges Besetzungskonzept, das absolut aufgeht.

Verfasst wurde „Berlin Babylon“ übrigens auf Basis des Bestseller-Krimis „Der nasse Fisch“ des deutschen Autors Volker Kutscher. Von Anfang an im Visier hatte man dabei die filmisch bisher unterbelichteten Zwanziger – wobei das Regietrio nicht ahnte, wie sehr die Serie von der Gegenwart eingeholt werden sollte.

„Demokratie ist angeschossen“

Tom Tykwer spricht von einer wachsenden Beklemmung, die er auch gegenwärtig spüre: „Das Gefühl, dass die Demokratie angeschossen ist, dass sie humpelt.“ Auch heute werde „Der Ruf nach der eisernen Faust lauter und lauter“, ergänzt Kollege Handloegten, „unsere Serie ist von zwingender Aktualität.“ Beklemmung, Glamour, Gewalt und Sex – sie ergeben in jedem Fall eine explosive Mischung, und die ist es auch, die „Berlin Babylon“ so packend macht.