Screenshot zeigt Wikipedia-Seite von „WikiProject Women in Red“
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„Women in Red“

Die fehlenden Frauen in Wikipedia

Wikipedia ist das größte Lexikon der Welt – mit einem blinden Fleck: Frauen sind darin stark unterrepräsentiert. Prominentestes Beispiel ist aktuell die Physik-Nobelpreisträgerin Donna Strickland, der bis zu ihrer Preisverleihung ein Wikipedia-Artikel verwehrt blieb. Projekte wie „Women in Red“, die dieses Ungleichgewicht beseitigen wollen, gibt es einige – diese stoßen jedoch auf Gegenwind.

„Die angeführten Quellen zeigen nicht, dass diese Person die Kriterien für einen Wikipedia-Artikel erfüllt“ fand sich noch Ende Mai auf der Seite von Strickland, der zuvor erstellte Artikel über die Laserphysikerin wurde zur Löschung angemeldet. Erst kurz nachdem ihr der Nobelpreis verliehen wurde, wurde ein neuer Artikel über Strickland verfasst, der bis heute mehrfach überarbeitet und ausgebaut wurde.

Dass die Nobelpreisträgerin lange Zeit keinen Wikipedia-Eintrag hatte, ist bei Weitem kein Einzelfall, was sich auch im Geschlechterverhältnis der Einträge widerspiegelt. Da die Daten des Lexikons frei verfügbar sind, lassen sich diese relativ einfach auswerten – mit einem ernüchternden Ergebnis für die meisten Sprachversionen.

Rund 15 Prozent der Biografien über Frauen

So gab es laut den Wikidata Human Gender Indicators (WHGI) in der englischen Variante der Wikipedia Anfang Oktober über 1,5 Millionen Biografien – nur knapp 280.000 davon über Frauen. Das entspricht einem Anteil von unter 18 Prozent. Noch schwächer schneidet die deutsche Ausgabe des Onlinelexikons ab. Von über 695.000 Artikeln befassen sich nur 107.000 mit Frauen, das sind rund 15 Prozent aller Biografien.

Säulengrafiken geben Auskunft darüber, wie viele Biografien über weibliche Personen auf Wikipedia zu finden sind
Grafik: ORF.at, Quelle: Wikidata Human Gender Indicators (WHGI)

Eine mögliche Ursache für das Ungleichgewicht lässt sich unterdessen aus Umfrageergebnissen unter Benutzerinnen und Benutzerinnen von Wikipedia ablesen. Das Verhältnis von Benutzerinnen und Benutzern, die sich an der Erstellung von Einträgen beteiligen, sieht nämlich ähnlich aus: Die letzte Studie aus dem Jahr 2013 kam zum Ergebnis, dass bei den englischsprachigen Bearbeiterinnen und Bearbeitern der Männeranteil bei 84 Prozent liegt.

Projekte versuchen Gleichgewicht herzustellen

In traditionellen Lexika, etwa der Encyclopaedia Britannica, besteht ebenfalls eine Schieflage – im Gegensatz zu herkömmlichen Nachschlagewerken ruft Wikipedia jedoch aktiv dazu auf, sich bei der Erstellung und Erweiterung von Einträgen zu beteiligen. In den vergangenen Jahren befassten sich daher mehrere Projekte exklusiv mit der Erstellung von Artikeln über Frauen.

Die wohl größte Initiative heißt „Women in Red“, eine Anspielung darauf, dass nicht vorhandene Artikel in Wikipedia rot hervorgehoben werden. Als Ziel setzen sich die Betreiberinnen und Betreiber, den „Content Gender Gap“ zu reduzieren und möglichst viele Einträge von Frauen „blau“ zu machen, also mit Inhalten zu befüllen. So entstehen nach eigenen Statistiken rund 2.000 Artikel im Monat. Bei neuen Artikeln ist das Verhältnis zwischen Frauen und Männern damit deutlich ausgeglichener – dennoch liegt ein Gleichstand bei den Artikeln in weiter Ferne.

Physikerin verfasst einen Eintrag pro Tag

Die britische Physikerin Jess Wade hat sich vor rund einem Jahr zum Ziel gesetzt, täglich einen Artikel über eine Frau auf Wikipedia zu verfassen. Gegenüber ORF.at sagte sie, dass sie seither „rund 345 Seiten“ erstellt habe. In der wissenschaftlichen Zeitschrift „Nature“ legte sie ihre Beweggründe dar: Dabei geht es neben der Quantität vor allem auch um die Qualität. Sie verwies darauf, dass etwa die Nobelpreisträgerin Marie Curie lange Zeit einen Eintrag mit ihrem Mann Pierre teilen musste.

Wikipedia erlaube, „Geschichte zu schreiben und zu bearbeiten, während sie passiert“. Einträge in Wikipedia zu erstellen sei eine mögliche Antwort auf die ihr oft gestellte Frage „Wo sind die Frauen in der Wissenschaft?“, schrieb Wade.

Ihrem Aufruf sind „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der ganzen Welt“ gefolgt, sagte Wade gegenüber ORF.at. Es sei „sinnvoll, auf der Seite mit den fünftmeisten Zugriffen weltweit Biografien zu verfassen“. Allein ihre selbst verfassten Artikel haben „über 200.000“ Leserinnen und Leser erreicht.

Der schwere Weg von Rot zu Blau

In der großteils männlichen Wikipedia-Gemeinschaft gibt es jedoch auch Kritik an den Bemühungen. Wade sagte, dass die Community „interessant“ sei. Sie selbst könne mittlerweile Artikel verfassen, ohne erst die Zustimmung eines anderen Bearbeiters (oder entsprechend seltener: einer Bearbeiterin) abzuwarten.

Die „hauptsächlich männliche Gemeinschaft“ sei jedoch „nicht sehr offen“, so Wade. Ein Oxford-Student sagte ihr, sie würde durch ihre Versuche, Biografien in Wikipedia zu diversifizieren, der „Wikipedia-Gemeinschaft schaden“. Ein anderer Nutzer „verfolgt alles, was ich mache, in Twitter“ – zuletzt habe er sie dafür „öffentlich kritisiert“, dass Wade „nicht früher bemerkt“ habe, dass die Nobelpreisträgerin Strickland noch keinen Eintrag in dem Lexikon besitzt. Sie benutze Wikipedia nur als Plattform für Selbstpromotion, so der Vorwurf.

Wade fand es „seltsam“, dass es Fälle gebe, in der die Beteiligten vor Kritik, mit der „Bearbeiterinnen und Akademikerinnen konfrontiert sind“, „geschützt“ sind. So gab es etwa zuerst keinen Artikel zu dem vom CERN suspendierten Physiker Alessandro Strumia, der Anfang der Woche behauptete, die Physik sei „von Männern erfunden und aufgebaut“ worden. Jetzt gebe es einen Artikel, „und die Hälfte befasst sich mit dem sexistischen Vortrag“, so Wade. Das sei für die Physikerin „entmutigend“.

„Edit-a-thon“ als Gemeinschaftsaktion

Dennoch bezeichnete Wade das Interesse am Erstellen von Beiträgen in Wikipedia „wundervoll“. Das Onlinelexikon könne „gratis bearbeitet“ werden, man lerne dabei, „unparteiisch zu schreiben – mit ordentlichen Quellenangaben“, und werde „weltweit gelesen“. Anlässlich des Ada-Lovelace-Tages zu Ehren der Computerpionierin gibt es zahlreiche Veranstaltungen, bei der in der Gruppe Einträge verfasst werden – ein „Edit-a-thon“. Neben Wissenschaftlerinnen fänden sich dazu auch Komponistinnen zusammen, um mehr Artikel zu Musikerinnen zu verfassen, genauso wie Frauen in der Kunst und aus dem Bereich Recht, so Wade.

Der britische Chef der Wikipedia-Mutter Wikimedia, Sandy Balfour, schrieb in einem Brief an den „Guardian“, dass „Wikipedia das Problem des ‚Gender Bias‘ durchaus bewusst“ sei. Man arbeite „aktiv“ daran, das künftig zu ändern, so Balfour. Durch Initiativen wie das „Women in Red“-Projekt werde die Sichtbarkeit von Frauen in Wikipedia erhöht.