Schriftstellerin Min Jin Lee
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Min Jin Lee

Woran Integration scheitert

In ihrem Telefonat mit ORF.at ist Min Jin Lee überaus gut gelaunt. Kein Wunder – ihr Roman „Ein einfaches Leben“ wurde nach Startschwierigkeiten zum großen, internationalen Erfolg. Die geborene Koreanerin lebt in den USA. In ihrem Buch geht es um Menschen aus Korea, die im 20. Jahrhundert nach Japan eingewandert sind, wo sie niemals willkommen waren.

ORF.at: Sunja, Ihre Hauptprotagonistin, fühlt sich noch nach Jahrzehnten in Japan fremd und spricht die Sprache nur unzulänglich. Wie ist das möglich?

Min Jin Lee: Egal ob Immigranten, Flüchtlinge oder andere Fremde: Sie brauchen dann besonders lange, sich zu integrieren, wenn die Mehrheitsgesellschaft ihnen gegenüber feindselig eingestellt ist. Dazu kommt, dass du, wenn du arm bist, wenig Zeit und Geld hast, in das Erlernen einer Sprache zu investieren. Davon waren besonders viele Koreanerinnen der ersten Immigrationswelle betroffen. Hauptsächlich sind damals ja Männer gekommen und haben später die Frauen nachgeholt. Die gingen nie in die Schule. Wo hätten die Japanisch lernen sollen? Das ist ja immerhin eine sehr schwierige Sprache.

Wenn sie überhaupt Japanisch gelernt haben, dann oft nur einzelne Phrasen, die sie aufschnappten und imitierten, nie aber die geschriebene Sprache. Lesen und schreiben zu können gilt uns in entwickelten Ländern als selbstverständlich. Aber dazu braucht es die Schule. Der Schulbesuch war aber für diese Einwanderer nicht möglich. Es fehlte an Zeit und Geld.

ORF.at: Sie sind mit Ihrer Familie im Alter von sieben Jahren von Südkorea in die USA ausgewandert. Angeblich haben Sie die englische Sprache vor allem in einer Bibliothek gelernt. Wie kam es dazu?

Lee: Es fiel mir als Kind generell sehr, sehr schwer, mit anderen Menschen zu sprechen, auch in der Schule. Ich hatte keine Freunde, bis ich viel älter war. Das klingt immer so traurig. Aber ich war nicht unglücklich! (lacht)

Ich habe zwei Schwestern. Die sprachen am Anfang auch nicht Englisch, waren aber so extrovertiert, dass sie gleich ein paar Freunde hatten. Ich hatte immerhin meine Schwestern. Zu Hause war ich nicht einsam. Die Kinder in der Schule fand ich irgendwie … bizarr. Da zog ich mich lieber, wann immer es ging, in die Bibliothek zurück. Ich habe wahnsinnig schnell gelernt, Englisch zu lesen. Und in der Bibliothek war es gemütlich.

Ich las vor allem amerikanische und europäische Klassiker. Erst durch das lesen westlicher Literatur wurde ich zu einer normalen US-Bürgerin. Ich lernte aus den Büchern, wie man sich richtig auf Partys oder in der Schule benimmt oder welche Gesetze ich beachten muss. Heute gibt es für so etwas das Netz. Ich werde heuer 50 Jahre alt. Ich lernte aus Büchern.

ORF.at: Das haben Sie auch im Buch verarbeitet. Noa, Sunjas Sohn, verschlingt Klassiker, vor allem Dickens.

Lee: Oh ja. Noa ist eine sehr spezielle, wichtige Figur für mich. Er ist der Einwanderer, der alles richtig machen will. Er wäre so gerne genau wie die Durchschnittsjapaner und fragt sich andauernd, wie er das bewerkstelligen könnte. Er merkt schon bald, dass das nicht funktioniert. Also verkriecht er sich in seine Klassiker und vor allem arbeitet er sehr hart. Aber natürlich bringt das nichts. Das ist nicht gerecht. In meinem Buch geht es durchaus um moralische Gerechtigkeit. Ich finde, in großen Romanen muss es letztendlich immer um moralische Gerechtigkeit gehen.

ORF.at: Gibt es so etwas wie das „richtige Verhalten“ von Zuwanderern überhaupt? Ein Verhalten, das zielsicher zur Integration, zu Akzeptanz führt?

Lee: Ha. Doch, ja. Es gibt doch universelle Werte: Freundlichkeit, Großzügigkeit, Geduld. Es gibt aber auch Unterschiede, wie ich weiß, als jemand, der sich viel mit Anthropologie und Soziologie beschäftigt hat. Zum Beispiel gibt es große Unterschiede in verschiedenen Kulturen, wie mit Zeit umgegangen wird. In Deutschland und Japan, überhaupt im Westen, ist Zeit etwas sehr Starres. In anderen Kulturen ist Zeit etwas Relatives.

Solche Unterschiede fallen leider ins Gewicht. Nehmen wir ein Vorstellungsgespräch. Wenn man da nicht pünktlich ist, wird jemand aus der westlichen Kultur wütend sein. Aber die Person aus einem anderen Kulturkreis wird sagen: Na und, was wollen Sie, jetzt bin ich ja hier! (lacht) Das ist ein neutrales Beispiel, aber auch bei so etwas dauert es lange, bis man als Zuwanderer begreift, dass man sein Verhalten ändern muss.

Mein Vater hat zu mir immer gesagt: „Wir sind hier nicht geboren, wir müssen nach und nach herausfinden, wie man sich hier richtig verhält – und du, als Frau, musst besonders hart daran arbeiten!“ Er hat nicht gesagt: „Studiere nicht!“ Er hat gesagt: „Du musst dich beim Studium besonders anstrengen!“ Ich komme ja aus Korea, das ein Land ist, in dem Bildung überaus ernst genommen wird. Ich hatte es deshalb in den USA leichter.

ORF.at: Yanging und Sunja sind die zwei Hauptcharaktere Ihres Buches. Ist Geschichte, gesehen durch die Augen von Frauen, anders, als gesehen durch die Augen von Männern?

Lee: Ja! Absolut! Ganz anders, obwohl das eine natürlich mit dem anderen eng verwoben ist. Ich bin Feministin. Ich glaube aber auch an eine Welt, in der Frauen nicht alleine existieren können. Wenn wir wirkliche, strukturelle Veränderungen wollen, müssen wir einander sehr gut verstehen. Wenn wir über die Ermächtigung von Menschen sprechen, die sich als Außenseiter sehen, müssen wir auch auf das Tempo des Wandels achten.

Die Menschen haben Angst. Dinge brauchen Zeit. Wir müssen uns überlegen, wodurch wir den Status quo ersetzen. Das Matriarchat? Das wäre auch nicht richtig. Wir müssen darüber sprechen, welche Zukunft wir wollen und wir müssen alle betroffenen Gruppen miteinbeziehen: Männer, Frauen, Kinder, Reiche, Arme, Fremde, Einheimische – alle sind betroffen.

ORF.at: Kochen und Essen spielen eine riesige Rolle in Ihrem Roman. Was macht das Essen so wichtig, gerade für Zuwanderer?

Lee: Vor allem ist das Essen für arme Menschen ein großes Thema, weil sie so viel Zeit und Energie darauf verwenden müssen, zu Essen zu kommen. Es dreht sich alles um die Basics: Wohnen, Ernährung, die Familie. Gleichzeitig kannst du gerade durch das Essen so etwas wie Luxus oder zumindest Freude in dein Leben und das deiner Familie bringen. Die Armen haben immer die beste Küche gehabt. Ich meine, warum sollte man eine Trüffel essen, wenn man nicht gerade am Verhungern ist?

Noch etwas: Wenn du keine formale Bildung und noch dazu wenige Ressourcen hast, ist das Essen eine relativ einfache Möglichkeit, Geld zu verdienen. Essen muss jeder. Wenn du wenig Kapital hast, ein Business zu starten, gerade als Frau, kannst du zumindest Maiskolben kochen und zum Verkauf anbieten. Mir war es wichtig, diesen Aspekt der Armut zu zeigen. Er spielt weltweit eine Rolle.

ORF.at: Es fällt auf, dass Sie in ihrem Roman gerade bei besonders emotionalen Ereignissen einfach aussteigen, sie nicht erzählen, sondern nur ganz kurz erwähnen. Etwa Todesfälle in der Familie, Geburten, ein Wiedersehen nach Jahrzehnten. Das alltägliche Leben beschreiben Sie jedoch akribisch. Wieso?

Lee: Ich glaube, es gibt Momente, vor allem jene der Krise, die kennen alle Leser, beziehungsweise diese können sie sich vorstellen. Gerade gewalttätige Szenen habe ich ausgelassen. Wir haben alle so etwas schon erlebt oder gesehen. Es hätte sich für mich zu reißerisch angefühlt, alle solche Szenen weidlich auszukosten. Ich war also sehr wählerisch darin, wo ich dranbleibe und wo nicht.

Das Buch ist sehr emotional. Aber ich wollte auch, dass es ein philosophisches, politisches Buch ist. Ich schreibe nur dann, wenn ich Gedanken nachforschen will – auf emotionale Weise. Das darf dann auch lange dauern. Ich schreibe schon seit 25 Jahren – und gerade ist mein zweites Buch erschienen. Ich stelle intellektuell anspruchsvolle Fragen, ich erforsche ganze Themenbereiche. Gerade deshalb muss ich dann umso besser aufpassen, dass das Ganze nicht in Sentimentalität abgleitet.

Ich denke da viel drüber nach: Was beschreibe ich, das Gefühle aufwühlt – aber eben nicht zu viele Gefühle? Gerade bei diesem Buch musste ich sehr selektiv sein. Ich beschäftige mich immerhin mit fast 100 Jahren persönlicher und politischer Geschichte. Ich habe das sehr ernst genommen.

So viele Jahre habe ich an diesem Buch gearbeitet. Es war schon fast peinlich. Letztes Jahr hat mein Mann seinen Job verloren. Ich bekam lauter tolle Buchbesprechungen – aber das Hardcover meines Buches wollte sich nicht so wirklich verkaufen. Jetzt läuft es großartig! Aber letztes Jahr dachte ich: „Oh mein Gott – alles falsch gemacht! Ich muss mir schnell einen ordentlichen Job suchen.“ Jetzt ist alles gut. Und mein Mann hat einen neuen Job. Ich habe außerdem ein Stipendium bekommen.

Aber am Anfang … In allen großen Medien diese tollen Besprechungen, und wir mussten uns trotzdem noch eine ganze Zeit lang Sorgen darüber machen, wie wir unsere Krankenversicherung bezahlen sollen.

Aber jetzt ist ja alles gut. Es war verdammt schwer für mich, dieses Buch zu schreiben, einen historischen, ethischen Roman, über so viele Generationen hinweg. Ich habe mir das selbst beigebracht, vor allem durch das Lesen. Das kann dir keiner beibringen, so einen Roman zu schreiben. Da musst du experimentieren. Und dann habe ich das Buch eben so angelegt, wie ich es angelegt habe. Mir ist das Thema Immigration so wichtig. Ich dachte immer: Wenn ich damit fertig bin, habe ich’s geschafft. Gott, war ich glücklich, als ich endlich fertig war …

ORF.at: Wie lange haben Sie genau an dem Buch gearbeitet?

Lee: Die Idee dazu ist mir gekommen, da war ich 19 Jahre alt. Zu schreiben begonnen habe ich dran mit 26. Zuerst habe ich von 1996 bis 2003 einen schrecklichen Roman über die koreanische Emigration nach Japan geschrieben. Nur ein Kapitel davon habe ich aufgehoben. Ich habe es nicht einmal an Verleger geschickt. Es war viel zu akademisch – und zwar auf die falsche Weise. Manche akademischen Bücher sind großartig, meines war es nicht. (lacht) Es war einfach fad.

Dann habe ich mein erstes richtiges Buch geschrieben, das auch veröffentlicht wurde: „Free Food for Millionaires“. Danach bin ich nach Japan gezogen – und hatte keinen Job. Also dachte ich: OK, wenn ich schon hier in Japan bin, könnte ich es ja noch einmal versuchen mit dem Buch über die koreanische Emigration nach Japan. Ich habe Leute interviewt und bin sofort draufgekommen, dass mein erstes Manuskript völlig daneben war, weil ich die Menschen, über die ich schrieb, nicht gekannt hatte.

Plötzlich bin ich draufgekommen: Oh, das sind nicht irgendwelche traurigen Opfer. Die sind interessant und leidenschaftlich, ganz anders, als ich dachte, anders auch als Koreaner in Europa oder in den USA.