Kombinierte Fahne Großbritanniens und der EU
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Neuer Vorschlag

EU hofft auf „Brexit“-Durchbruch

Wochenlang sind die Verhandlungen über den britischen EU-Austritt praktisch auf Eis gelegen. Neue Vorschläge aus London sollen nun aber Bewegung in die Gespräche gebracht haben. Die EU macht indes weiter Druck und fordert noch mehr Tempo – bis Mitte Oktober will sie „maximalen Fortschritt“. Doch nicht alle geben sich so zuversichtlich.

Nach dem Parteitag der britischen Konservativen will die Europäische Union in nur zwei Wochen einen Durchbruch bei den „Brexit“-Verhandlungen erreichen. Nun „sollten wir zur Sache kommen“, forderte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Donnerstag. Auch die Abgeordneten fordern angesichts der Fristen eine Intensivierung der Verhandlungen, um ein Austrittsabkommen zu finalisieren.

Die Verhandlungen über den britischen EU-Austritt 2019 kamen in den letzten Wochen fast zum Stillstand – unter anderem wegen innerparteilichen Streitigkeiten bei den Torys. Am Mittwoch hatte die britische Premierministerin Theresa May beim Parteitag jedoch ihre heftig umstrittene „Brexit“-Strategie erneut verteidigt und ihre Partei zu Geschlossenheit aufgerufen. Bei der EU wächst nun die Hoffnung, dass bis zum EU-Gipfel am 17. Oktober eine Grundsatzeinigung gelingen kann. Auch das Europaparlament fordert einen raschen Abschluss.

Kreise: Annäherung in Irland-Frage

Die Irland-Grenzfrage ist eines der schwierigsten Probleme in den „Brexit“-Verhandlungen. Nach dem EU-Austritt entsteht zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland eine neue EU-Außengrenze. Die EU-Kommission, die die Verhandlungen mit Großbritannien für die übrigen 27 Mitgliedstaaten führt, will an der neuen Grenze Kontrollen vermeiden.

EU-Ratspräsident Donald Tusk
Reuters/Yves Herman
EU-Ratspräsident Tusk hat May aufgefordert, bei den Verhandlungen endlich „zur Sache zu kommen“

Die britische Regierung will das Problem durch eine Reihe von Verträgen mit der EU aus dem Weg schaffen. Die Torys sind in der Frage zerstritten. Während May sich um einen Vertrag mit der EU um die Modalitäten des Austritts bemüht, fordern Ex-Außenminister Boris Johnson und andere Konservative einen „harten ‚Brexit‘“ auch ohne Übereinkunft.

Falls es zu keiner Lösung kommt, bedingt sich die EU eine Notfallklausel aus, die Nordirland im Zollgebiet halten würde. Allerdings bestand Großbritannien bisher auf eine zeitliche Begrenzung. Brüsseler Diplomaten zufolge ließ die britische Seite nun durchblicken, dass man auch einer unbegrenzten Verlängerung der Klausel zustimmen könnte. Damit würde das gesamte Königreich in „einer“ Zollunion mit der EU bleiben und etwa für bestimmte Güter bei der Einfuhr EU-Zölle erheben. Die Ideen der britischen Regierung zur Vermeidung einer harten Grenze auf der irischen Insel seien „ein Schritt in die richtige Richtung“, sagte eine mit den Gesprächen vertraute Person der Nachrichtenagentur Reuters.

Kein Austrittsabkommen ohne „Backstop“

Eine feste Grenze mit Kontrollen soll jedenfalls vermieden werden, da eine Teilung der Insel den Nordirland-Konflikt wieder anheizen könnte. EU-Chefverhandler Michel Barnier verlangt eine rechtlich verbindliche und umsetzbare Garantie zur Vermeidung von Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland – den „Backstop“. Die „Brexit“-Steuerungsgruppe des Europaparlaments unter Vorsitz des liberalen Fraktionschefs Guy Verhofstadt warnte: „Ohne einen solchen ‚Backstop‘ wird das Europäische Parlament nicht in der Lage sein, seine Zustimmung zu einem Austrittsabkommen zu geben.“ Dieser Austrittsvertrag muss bis zum planmäßigen EU-Austritt Großbritanniens am 29. März 2019 sowohl vom britischen Parlament als auch vom Europaparlament ratifiziert werden.

EU-Unterhändler Michel Barnier
APA/AFP/Aris Oikonomou
Auch EU-Chefverhandler Michel Barnier verlangt den „Backstop“ als Voraussetzung für ein Austrittsabkommen

Der britische „Brexit“-Minister Dominic Raab hatte zuletzt neue Vorschläge angekündigt. Auch Barnier deutete Bewegung an. Tusk sagte nach einem Treffen mit dem irischen Premier Leo Varadkar in Brüssel, die EU stehe hinter Irland und der Notwendigkeit, den Friedensprozess zu bewahren: „Obwohl die britische Regierung unseren ursprünglichen Vorschlag für einen ‚Backstop‘ zurückgewiesen hat, geben wir nicht auf, eine umsetzbare Lösung zu suchen.“

Irland bleibt bei Forderungen

Varadkar betonte, Irland bleibe bei seinen Forderungen. Er wünsche sich eine Einigung „bis November, wenn irgend möglich“. Die Verhandlungen seien, so Varadkar, in eine „kritische Phase“ getreten. Irland wolle vier Dinge erreichen: den Weiterbestand des gemeinsamen Reiseraums mit Großbritannien, keine harte Grenze, die garantierten Rechte der irischen Bevölkerung in Nordirland, die auch nach dem „Brexit“ EU-Bürger seien, sowie so eng wie mögliche Handelsbeziehungen zu Großbritannien.

Tusk versicherte, die EU werde ihre Werte und Interessen verteidigen. Er wolle nicht „um den Brei herumreden“. Es gehe jetzt darum, praktische Auswege zu finden, um Schäden durch den „Brexit“ zu minimieren. „Emotionale Argumente klingen vielleicht attraktiv. Aber sie helfen nicht dabei, eine Vereinbarung zu erreichen.“ Er kenne selbst die Logik von Parteipolitik, sagte Tusk in Hinblick auf die innerbritische Debatte, doch nun sei es an der Zeit, sich der Arbeit zu widmen.

Gefahr eines harten „Brexits“ „unterschätzt“

Zweiter Knackpunkt für die nächsten Tage ist die geplante „politische Erklärung“ mit Eckpunkten der künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU. Sie soll das Austrittsabkommen begleiten. Wird man sich über beides einig, kommt unmittelbar nach dem „Brexit“ am 29. März 2019 eine knapp zweijährige Übergangsfrist, in der sich fast nichts ändert. Dann könnte man Details in Ruhe aushandeln. Scheitern indes die Verhandlungen, käme es in knapp einem halben Jahr wohl zu einem chaotischen Bruch, was der Wirtschaft zunehmend Sorge bereitet.

Die Gefahr eines harten „Brexits“ wird nach Einschätzung von EZB-Ratsmitglied Ewald Nowotny weiterhin nicht ernst genug genommen. „Ich glaube, dass das in Bezug auf die potenziellen Gefahren zum Teil immer noch unterschätzt wird“, sagte der Notenbanker am Donnerstag auf einer Konferenz der österreichischen Finanzmarktaufsicht in Wien. Es gebe Anzeichen, dass die Gefahr eines harten „Brexits“ relevant werde. Ohne eine konkrete Vereinbarung droht ein ungeregelter Abschied mit großen politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen.

„Kanada-plus“-Abkommen vs. „Chequers-Plan“

Tusk sagte, die EU stehe zum Angebot eines „Kanada-plus-plus-plus“-Abkommens. Gemeint ist ein Pakt wie das EU-Kanada-Abkommen CETA, nur wesentlich umfassender und enger. „Der EU ist es ernst damit, das bestmögliche Abkommen zu erreichen“, sagte Tusk.

May will allerdings noch mehr: Ihr „Chequers-Plan“ läuft im Warenverkehr auf eine Anbindung Großbritanniens an den EU-Binnenmarkt hinaus. Das lehnt die EU ab, weil London nicht mehr alle Regeln des gemeinsamen Marktes einhalten will, vor allem nicht die Vorgabe, dass EU-Bürger und -Bürgerinnen überall leben und arbeiten dürfen.

Die britische Premierministerin zeigte sich bei ihrer Parteitagsrede demonstrativ selbstbewusst und betrat tänzelnd zu dem ABBA-Song „Dancing Queen“ die Bühne. EU-Kommissionssprecher Margaritis Schinas kommentierte die Tanzeinlage am Donnerstag: „Wir mögen ein kleines Tänzchen. Für einen Tango braucht es immer zwei. Wir sind froh, dass es das Lied ‚Dancing Queen‘ war und nicht ‚The Winner takes it all‘. Und, was soll ich sagen: ‚Breaking up is never easy‘.“

Rücknahme des „Brexit“-Antrags?

Schottland dringt indes auf ein rasche richterliche Klärung der Frage, ob Großbritannien grundsätzlich auch ohne Zustimmung der anderen EU-Mitglieder den beantragten Austritt aus der Staatengemeinschaft rückgängig machen könnte. Das höchste Gericht Schottlands bat den Europäischen Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag hierzu um eine Vorabentscheidung. Eine mit dem Fall vertraute Person sagte, das Gericht mit Sitz in Luxemburg hoffe auf eine Entscheidung noch vor Weihnachten.

Mehrere schottische Abgeordnete hatten den Antrag in Edinburgh eingereicht. Darin argumentieren sie, dass Großbritannien zweifelsfrei den „Brexit“ mit Erlaubnis der anderen 27-EU-Staaten stoppen könnte, wenn es das wollte. Es sollte ihrer Auffassung nach jedoch auch juristisch möglich sein, das einseitig machen zu können – unabhängig davon, ob die anderen EU-Länder das gutheißen. Die Schotten hatten beim „Brexit“-Referendum im Juni 2016 klar für einen Verbleib in der EU gestimmt. In ganz Großbritannien votierten jedoch insgesamt mehr Wähler und Wählerinnen für einen Austritt aus der Staatengemeinschaft.