Buchcover
Österreichischer Nationalfonds
Von Wien nach Australien

Geflüchtet ans andere Ende der Welt

15.700 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Melbourne und Wien. Auf der Flucht vor dem Terror des NS-Regimes nahmen Jüdinnen und Juden auch diesen Weg auf sich. Rund 2.000 von ihnen kamen aus Österreich. Einige ihrer außergewöhnlichen Lebensgeschichten hat der Österreichische Nationalfonds nun in dem neuen Band „Erinnerungen“ festgehalten.

In drei reich bebilderten Büchern rekonstruieren 21 Frauen und Männer teils auf Deutsch, teils auf Englisch ihre Verfolgung in Österreich und ihr Leben vor, während und nach der Flucht nach „Down Under“. In den ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten spannt sich der Bogen immer wieder von der vielfach trügerischen Zwischenkriegszeit über das Katastrophenjahr 1938 bis hin zu einem neuen und oftmals ganz anderen Leben am anderen Ende der Welt.

Die Bücher bieten dabei ein ganzes Panorama von Erinnerungen: Etwa jene der Familie Duldig, die dank des Tennissports über die Schweiz und Singapur nach Melbourne flüchten konnte, und sich dort in Sport, Kunst und mit der Erfindung des ersten faltbaren Regenschirmes einen Namen machte. Oder jene der Familie des bekannten australischen Ethikers Peter Singer, in der zwei hochintelligente Frauen eine große Rolle spielen. Außergewöhnlich sind auch die Geschichten von Henry Teltscher und Heinz Altschul, die unter menschenunwürdigen Bedingungen als „feindliche Ausländer“ auf dem Schiff „Dunera“ von England nach Australien deportiert wurden.

Fotostrecke mit 4 Bildern

Heinz Altschul als junger Mann kurz vor seiner Flucht ins Exil
Österreichischer Nationalfonds/ORF.at (Repro)
Heinz Altschul als junger Mann kurz vor seiner Flucht ins Exil
Das britische Schiff „Dunera“
AP
Er wurde als „enemy alien“ zu Kriegsbeginn 1938 mit dem Schiff „Dunera“ nach Australien deportiert
Foto von heinz Altschul als junger Soldat in Australien
Österreichischer Nationalfonds
Dort schloss er sich nach einjähriger Internierung der Armee an
Susanne Altschul im ORF.at-Interview
ORF.at/Carina Kainz
„Ich verdanke seiner Flucht mein Leben, wenn man so will“, so seine Tochter Susanne Altschul

Eine Schiffsfahrt wie ein KZ

Mit Altschuls Tochter, der Schauspielerin Susanne Altschul, hat sich ORF.at zum Gespräch getroffen. Ihr Vater, der bereits als 15-Jähriger in kommunistischen und sozialistischen Jugendorganisationen aktiv war und sich gegen die Politik auflehnte, musste 1938 nach einer Verhaftung vor den Nazis fliehen. Mit einem falschen Pass und der Hilfe eines der SS zugehörigen Schulkameraden gelangte er über Prag nach London. Mit Kriegsbeginn wurde der erst 19-Jährige von dort mit der völlig überfüllten „Dunera“ nach Australien deportiert, obwohl er eigentlich nach Kanada „wollte“.

Exil in Australien: Susanne Altschul über die Geschichte ihres Vaters

Als Kommunist und Jude musste der Publizist Heinz Altschul 1938 aus Wien flüchten. Über Umwege landete er in Australien. Seine Tochter Susanne Altschul über das bewegte Leben ihres Vaters.

„Wie ein KZ“ sei diese Schiffsfahrt gewesen, so Altschul selbst in einem 1992 produzierten Interview über sein Leben, das in dem Band abgedruckt ist. „Die Menschen mussten über Glasscherben laufen, man hat ihr gesamtes Gepäck über Bord geworfen, und sie kamen mit nichts außer dem, was sie anhatten, in Australien an“, so Susanne Altschul. Dort wurde ihr Vater für ein Jahr interniert, danach schloss er sich der australischen Armee an: „Das war für meinen Vater ganz klar, weil in dem Sinn konnte er ja auch gegen den Faschismus kämpfen.“

„Sofort weiter!“ im zerbombten Wien

In Australien blieb der spätere Publizist Altschul politisch aktiv, gründete eine Gruppe für Exilösterreicher. „Er hat von Österreich und was der ‚Anschluss‘ bedeutet, erzählt“, so Susanne Altschul. Ihr Vater vernetzte sich mit Australiern, geflüchteten Österreichern und fand dort auch seine spätere australische Ehefrau. Den Krieg in Europa verfolgte er trotz allem, wie ein Tagebuch aus dieser Zeit beweist. Darin habe Altschul „die jeweilige Situation des Krieges beleuchtet. Das hat er alles minutiös aufgeschrieben wie eine Doktorarbeit“, so Susanne Altschul. Ihn habe „brennend interessiert, wie die ganze Situation in Europa ist“.

Und während sich andere dafür entschieden, in Australien zu bleiben, habe das für Altschul nie zur Debatte gestanden. Er kehrte 1946 mit seiner Frau in das zerbombte Wien zurück. „Als er nach Österreich zurückgekommen ist, hieß es: ‚Sofort weiter!‘“, so Susanne Altschul. „Er hat sich dort auch sofort wieder am Aufbau beteiligt und für die Demokratie Österreichs eingesetzt.“

Dort wurde er neben der Kriegszerstörung mit persönlichem Verlust konfrontiert, denn Altschuls Eltern waren während seines Exils im KZ ermordet worden. Er selbst setzte sich in den Nachkriegsjahren weiter politisch ein, wurde Sekretär des kommunistisch dominierten Friedensrats, brach aber 1968 nach dem Einmarsch der UdSSR in die Tschechoslowakei endgültig mit der Partei. Anschließend wurde er stellvertretender Chefredakteur der APA, wo er bis zu seiner Pension 1988 arbeitete. Altschul starb 2011 mit 90 Jahren.

Letzter Rettungsanker

Im Blick auf die anderen Schicksale im „Erinnerungen“-Band ist Altschuls Geschichte untypisch. Während er zwangsweise nach Australien gebracht wurde, erwies sich das Land für die meisten als letzte Möglichkeit zur Flucht, nachdem die Lage in Österreich nach dem „Anschluss“ im März 1938 immer gefährlicher geworden war. Zuvor hatte kaum jemand Australien als Exildestination auf dem Radar. Das Land empfing die Geflüchteten, die fast ausschließlich aus Wien stammten, auch nicht mit offenen Armen: Erst nach den Novemberpogromen 1938 durften 15.000 Menschen einreisen, so die Kultur- und Sozialanthropologin Margit Wolfsberger in dem Band.

Weitere Bände in Arbeit

Die Sammlung der Schicksale ist ein Ergebnis der Arbeit des Nationalfonds. Seit dessen Gründung 1995 wurde über die symbolischen Entschädigungszahlungen Kontakt zu NS-Opfern in 75 Ländern hergestellt. Daraus sei die Idee entstanden, Fluchtorte zu beleuchten, so Herausgeberin Renate Meissner gegenüber ORF.at. Bereits erschienen sind Bücher zur Flucht nach Asien und Afrika, gearbeitet wird an Bänden zur Flucht nach Neuseeland und Südamerika.

Möglich war die Flucht aber auch dann nur Vermögenden oder gut Vernetzten. „Charakteristisch ist die lange und meist beschwerliche Schiffsreise über mehrere Wochen, wobei nur ein eingeschränkter Personenkreis überhaupt die nötigen Mittel für diese Überfahrt und das zu leistende Landungsgeld in Australien aufbringen konnte“, so Herausgeberin Renate Meissner gegenüber ORF.at. Dieses allein betrug umgerechnet rund 20.000 Euro – dazu kamen noch die teure Schiffsfahrt um den halben Erdball und der Transport des übrig gebliebenen Hab und Gutes aus Österreich.

„Reffos“ argwöhnisch beäugt

In Australien angekommen, fanden sich die Schutzsuchenden unter kulturell und klimatisch vollkommen neuen Bedingungen wieder. Lokale Eigenheiten wie der „Six o’clock swill“ – der alkoholgeschwängerte Ansturm auf Bars, bevor diese um 18 Uhr schließen mussten –, der belebte Hafen von Sydney, Steak zum Frühstück und der im Vergleich zu Österreich lockerere Umgang in den Schulen blieben den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auf Jahrzehnten in Erinnerung, wie deren Anekdoten zeigen.

Exil in Australien: Eine Bilanz

„Wenn ich nicht all das erlebt hätte, all das erfahren hätte, all das durchgemacht hätte“: In einem Interview 1992 zog Heinz Altschul noch einmal Bilanz.

Vor große Herausforderungen stellte die Menschen der Aufbau neuer Existenzen. Es galt vor allem, sich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren. Das war aufgrund fehlender Anerkennungen aber nicht immer leicht: So mussten etwa fast alle geflüchteten Rechtsanwälte ihre Berufe aufgeben. Vor allem in der ersten Zeit waren viele Geflüchtete auf jüdische Hilfsorganisationen und andere Netzwerke angewiesen. Gleichzeitig lag seitens Australiens ein erheblicher Assimilierungsdruck auf den deutschsprachigen „reffos“, abgeleitet von „Refugees“.

fs
Österreichischer Nationalfonds/ORF.at

Renate S. Meissner (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus (Band 5). Wien, 976 Seiten (drei Bücher), 26 Euro. Für den Schulgebrauch kostenlos.

„1938 bis 1939 kamen aufgrund der Nazi-Verfolgung so viele Flüchtlinge, dass dies im Straßenbild bald erkennbar wurde. Es handelte sich bei den meisten von ihnen um Geschäftsleute und Angehörige gehobener Berufsgruppen. Ihre Kleidung, ihr Verhalten und ihr Geschmack wurden mit Reserviertheit – oder sogar Argwohn – zur Kenntnis genommen“, schreibt etwa der Zeitzeuge Ernest Weiss in seinen Erinnerungen. Dazu kamen die harten Erfahrungen der Internierung, die – wie Altschul – viele Flüchtlinge machen mussten.

„Was haben wir für ein Glück gehabt!“

Doch diese Härten eines neuen unbekannten Lebens werden in den 21 Lebensberichten von der Dankbarkeit überlagert, der Verfolgung durch die Nazis noch rechtzeitig entkommen zu sein. „Keine Worte können je ganz beschreiben, welche Qual und Terror wir alle in der Zeit zwischen der Nazi-Besetzung von Österreich und unserer sicheren Ankunft in Australien gefühlt haben“, schreibt etwa die heute 85-jährige Autorin Renate Yates. Das Manuskript ihres Vaters zu seiner Internierung im KZ Dachau gehört zu den aufwühlendsten Teilen des Sammelbands.

Dieser wird umso lesenswerter dadurch, dass er trotz des vielfach plastisch geschilderten Kampfes mit der fremden Sprache, des Traumas der verlorenen Heimat und der im Holocaust verstorbenen Angehörigen auch eine Sammlung von Erfolgsgeschichten ist. Den meisten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen gelang es trotz aller Widrigkeiten, sich neue Existenzen aufzubauen, Freundschaften zu knüpfen und neue Interessen in ihrer neuen Heimat zu finden. Das Resultat: Die Mehrheit blieb für immer in Australien. „Was haben wir für ein Glück gehabt!“, schließt der Zeitzeuge Ken Weiss bezeichnend seinen Lebensbericht.