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Gig-Economy

Die neuen Arbeiter in der Grauzone

Der Arbeitsmarkt hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Phänomene wie das Aufkommen der Gig-Economy haben viele Beschäftigte in eine Grauzone zwischen scheinbarer und tatsächlicher Selbstständigkeit geführt. Die EU will Betroffenen mit einem neuen Regelwerk zu mehr Rechten verhelfen. Ein zentraler Punkt ist die Neudefinition eines alten Begriffs – dem des „Arbeiters“.

„Die Grundfrage des Arbeitsrechts ist immer: Wer ist geschützt und warum braucht jemand besonderen Schutz?“, erklärt Martin Risak, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Wien. „In der Vergangenheit hat man gesagt: Wir müssen Personen schützen, die nicht in der Lage sind, sich ordentliche Entgelt- und Arbeitsbedingungen auszuhandeln.“ Früher seien das meist Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Vollzeitstelle und fixer Zugehörigkeit zu einem Betrieb gewesen, sagt Risak. Eine Antwort für den modernen Arbeitsmarkt zu finden, ist ungleich schwieriger.

Viele Beschäftigte verlangen nach flexiblen Arbeitszeiten, auch der Stellenwert der Freizeit steigt. Auf der anderen Seite gebe es „immer mehr Beschäftigte, (…) die wie Selbstständige arbeiten und ihre Entgelt- und Arbeitsbedingungen trotzdem nicht gut aushandeln können“, sagt der Arbeitsrechtler. Zu finden sind sie nicht nur in der Kreativbranche, sondern auch im Niedriglohnsektor: Sie putzen Büros, führen Fahrten zum Flughafen durch, liefern Pakete und Essen aus und arbeiten als Securitys nächtelang durch.

„Revolutionäre“ oder österreichische Lösung

Diese neuen „Schutzbedürftigen“ stehen im Zentrum einer Studie, die Risak mit seinem Kollegen Thomas Dullinger im Auftrag der Arbeiterkammer (AK) und des Europäischen Gewerkschaftsbunds verfasst hat und die in Brüssel vorgestellt wurde. Darin loten sie Möglichkeiten aus, den Begriff „Arbeiter“ im EU-Recht neu zu definieren. Die „revolutionärste wäre eine Neudefinition des Begriffs ‚Arbeiter‘“, sagt Risak. Ein andere findet bereits in Österreich und Deutschland Anwendung. Manche Gesetze für Beschäftigte bieten hierzulande auch „Kleinstselbstständigen“ Schutz.

Gig-Economy

Unter dem Begriff Gig-Economy versteht man einen Teil des Arbeitsmarktes, bei dem kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Freiberuflerinnen und Freiberufler oder an geringfügig Beschäftigte vergeben werden. Als Vermittler zwischen Kundschaft und Auftragnehmerinnen und Auftragnehmern dienen häufig Onlineplattformen. Bekannte Beispiele sind Uber und Foodora.

Die Studie soll ihren Auftraggebern Argumente liefern in der Diskussion über EU-weit einheitliche Kriterien für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. „Derzeit haben wir in vielen Bereichen Scheinselbstständige“, sagte die Präsidentin der AK Österreich, Renate Anderl, gegenüber ORF.at, „das heißt Personen, die als Selbstständige geführt werden, aber in Wirklichkeit wirtschaftlich abhängig sind.“ Man sei der Überzeugung, dass „jemand, der wirtschaftlich von Arbeitgeber oder Auftraggeber abhängig ist, unter das Arbeits- und Sozialrecht fallen muss. Daher braucht es eine neue Definition des Begriffes ‚Arbeitnehmer‘.“

„Grundsatzentscheidung“

Arbeitsrechtler Risak sieht hinter der Debatte eine „Grundsatzentscheidung“ für Europa: Ist der Niedriglohnsektor ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit? In Deutschland hat dieser Bereich in den vergangenen Jahren enorm an Bedeutung gewonnen und ist einer der wichtigsten Gründe für die geringe Arbeitslosenquote.

Co-working space
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Nicht nur die Beschäftigten in der Kreativbranche sind betroffen, auch jene im Niedriglohnbereich

Wie weit die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gehen kann, zeigt sich unterdessen in Großbritannien. Dort gibt es „Nullstundenverträge“. Beschäftigte schließen dabei tageweise Verträge ab: „Wenn du für mich arbeiten möchtest, kannst du arbeiten. Aber wenn ich keine Arbeit für dich hab, dann muss ich dir auch nichts anbieten“, erklärt Risak das Modell. „In Wirklichkeit sind diese Personen bessere Tagelöhner.“

Neue Regeln für die Gig-Economy

Ein erster Schritt in Richtung einer EU-weiten Lösung wurde vergangenen Donnerstag gemacht, als die „Richtlinie über transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen“ den Ausschuss für Beschäftigung und Soziales im Europaparlament passierte. Das Regelwerk ist stark auf die Gig-Economy zugeschnitten, auf Plattformen wie Uber und Foodora. Zwei Prozent der Arbeitskräfte in ganz Europa – die Zahlen variieren in den einzelnen Staaten – verdienen 50 Prozent ihres Einkommens über Plattformen, so Risak – Tendenz steigend.

Fahrradbote
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Mit der Richtlinie sollen die Rechte von Essenslieferanten und anderen Beschäftigten in der Gig-Economy gestärkt werden

Im Zentrum der Richtlinie steht das Recht auf mehr Information: Beschäftigte sollen künftig darüber Auskunft erhalten, in welchem Umfang sie garantiert bezahlte Stunden haben und wann der Betreiber einen Auftrag absagen kann, ohne dafür bezahlen zu müssen. Zudem soll es den Plattformbetreibern untersagt werden, Beschäftigte vertraglich zu binden, was den Wettbewerb ankurbeln soll. Regelungen enthält sie auch in anderen Bereichen, etwa was die Maximaldauer der Probezeit betrifft. Bevor die Richtlinie in Kraft treten kann, kommen das EU-Parlament und der Europäische Rat zu Verhandlungen zusammen. Dabei könnte es noch einschneidende Änderungen geben.

Aber warum braucht es überhaupt eine EU-weite Lösung? Darf Brüssel hier überhaupt eingreifen – Stichwort Subsidiarität? „Die Mitgliedsstaaten sind offensichtlich sehr unterschiedlich in der Lage oder willens, hier für Bedingungen zu sorgen, die faire Beschäftigungsbedingungen sicherstellen“, sagt der Vorsitzende des Beschäftigungsausschusses, Thomas Händel (Linke). „Deshalb darf und sollte hier die Kommission Vorschläge erarbeiten, wie ein faire Beschäftigung hergestellt werden kann“, so der deutsche Abgeordnete.

Warnung vor ausufernder Bürokratie

Einen gänzlich anderen Standpunkt vertritt die Arbeitgeberseite. Die Vizepräsidentin der Wirtschaftskammer (WKO) und Präsidentin des europäischen KMU-Verbandes, Ulrike Rabmer-Koller, warnte im Gespräch mit ORF.at vor einem enormen bürokratischen Aufwand für kleine und mittlere Unternehmen. Rabmer-Koller vergleicht die Richtlinie über verlässliche Arbeitsbedingungen mit der Datenschutzgrundverordnung, die für kleine Wirtschaftstreibende ebenfalls eine Mehrbelastung gebracht hätte: „Diese Richtlinie zeigt einmal mehr, dass eigentlich gut gemeinte Initiativen dann im Prozess der Rechtswerdung in enorme bürokratisch Mehrbelastungen ausufern.“

Der ursprüngliche Gedanke sei gewesen, dass diese Richtlinie neu definiert wird, um den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt standzuhalten, sagt Rabmer-Koller. „Der am Tisch liegende Vorschlag (…) geht weit über das hinaus.“ Sie plädiert dafür, das Arbeitsrecht weiter auf nationaler Ebene zu belassen, weil „schon jetzt unterschiedliche Bedingungen herrschen und unterschiedliche Erfordernisse da sind“.