EU-Fahne scheint durch britische Fahne
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„Brexit“

Alles hängt an Nordirland-Frage

Nachdem der Durchbruch bei den „Brexit“-Gesprächen ausgeblieben ist, herrscht auf beiden Seiten des Ärmelkanals Frust und Ernüchterung. Während die nordirische Partei DUP ein „No-Deal-Brexit“-Szenario erwartet, versucht London zu beruhigen. Indes wird auch der Sondergipfel im November immer fraglicher.

Von Dublin über London bis Brüssel war große Hoffnung in ein Treffen von EU-Chefunterhändler Michel Barnier und dem britischen „Brexit“-Minister Dominique Raab am Wochenende gesetzt worden. Doch Fortschritte bei den Verhandlungen gab es dort keine. Ein für Montag angesetztes Treffen auf EU-Expertenebene wurde daraufhin abgesagt, hieß es in EU-Ratskreisen.

Beim EU-„Brexit“-Gipfel, der am Mittwoch beginnt, hätte bereits ein Deal vorliegen – wenn nicht sogar beschlossen werden – sollen. Das Hauptproblem bei den Verhandlungen war bisher die Vermeidung einer harten Grenze zwischen Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland.

Nordirische DUP erwartet chaotischen „Brexit“

Alarmbereitschaft herrscht deswegen vor allem in Dublin und Belfast. Die nordirische Partei DUP geht inzwischen von einem Austritt Großbritanniens aus der EU ohne Vertrag aus. In Anbetracht des Verhaltens der EU gegenüber Premierministerin Theresa May sei für die DUP zwischen London und Brüssel kein „Deal“ vorstellbar, der im britischen Parlament eine Mehrheit bekommen würde, sagte ein Parteisprecher am Montag in Belfast. „Deshalb ist es vielleicht unvermeidlich, dass wir am Ende ein ‚No Deal‘-Szenario haben.“

Ähnlich frustriert zeigt sich die Regierung in Dublin. Der mangelnde Fortschritt sei „frustrierend und enttäuschend aus einer irischen Perspektive, als das Land, das von den EU-Staaten neben Großbritannien am meisten von den Folgen des ‚Brexit‘ betroffen ist“, sagte Außenminister Simon Coveney in Luxemburg.

„Brexit“-Sondergipfel fraglich

Während der britische Außenminister Jeremy Hunt nach wie vor an einen Durchbruch glauben will, zeigen sich die anderen EU-Außenminister deutlich skeptischer.

Er glaube, dass eine Einigung noch möglich sei, allerdings brauche es dafür mehr Zeit als erhofft. Der irische Regierungschef Leo Varadkar erwartet ein „Brexit“-Abkommen nicht vor November oder Dezember. Für Irland gehe es um die Einhaltung bisheriger britischer Zusagen. Die EU fordert eine Auffanglösung („Backstop“), nach der Nordirland teilweise weiterhin dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion unterworfen wäre. Im Dezember 2017 und im März habe Großbritannien diese akzeptiert, unterstrich der irische Minister.

London versucht zu beruhigen

Die Regierung in London versucht indes zu beruhigen. „Das ist natürlich eine schwierige Zeit“, sagte der britische Außenminister Jeremy Hunt am Montag in Luxemburg. „Wir sollten im Sinn behalten, welch riesige Fortschritte gemacht worden sind.“ Es gebe noch ein oder zwei sehr schwierige Themen. „Aber ich glaube, wir können es schaffen. Ob diese Woche oder nicht: wer weiß.“ Auch ein Sprecher von May versicherte, dass Brüssel und London nach wie vor entschlossen sind, eine Einigung zu erzielen.

Theresa May
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Die britische Premierministerin Theresa May steht innenpolitisch unter Druck

Auch der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) setzt noch auf einen Durchbruch. Er glaube, dass es noch möglich sei, einen Ausstiegsvertrag zwischen der EU-Kommission und Großbritannien zu schließen, so Maas. „Wir wollen ein geordnetes Verlassen Großbritanniens, aber nicht um jeden Preis. Wir dürfen uns den Binnenmarkt nicht zerstören lassen“, sagte die deutsche Kanzlerin Angela (CDU) Merkel kurze Zeit später.

Österreichs FPÖ-Außenministerin Karin Kneissl betonte nach wie vor einen „sehr konstruktiven Geist“ bei den Verhandlungen. 80 bis 90 Prozent des Austrittsvertrags seien ausverhandelt. Den „haarigen Rest“ gelte es nun zu lösen. Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft könne nur Barnier unterstützen, „das ist unsere Hauptaufgabe“.

Stillstand bis Mittwoch

Barnier werde die Minister der 27 verbleibenden EU-Staaten am Dienstag in Luxemburg bei einem allgemeinen Rat über den aktuellen Stand der Verhandlungen informieren, heißt es aus dem Büro des EU-Ministers Gernot Blümel. Dieser hatte zuvor ein „vertrauliches“ Telefonat mit Barnier geführt. Bis zum EU-„Brexit“-Gipfel am Mittwoch herrscht demnach Stillstand.

Michel Barnier
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Barnier will die EU-27 am Dienstag über den neuesten Stand der „Brexit“-Verhandlungen informieren

Keine Basis für Sondergipfel

Und mit ebendiesem Stillstand wird sich die EU-Kommission am Mittwochvormittag vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Abend befassen. „Höchstwahrscheinlich“ werde das bei der Mittwoch-Sitzung zur Sprache kommen, sagte ein Sprecher. Es werde in der Kommission weiter hart an einer Einigung gearbeitet, aber auch die Vorbereitungen für den Notfall würden intensiviert. Auf Details wollte der Sprecher nicht eingehen.

Jedenfalls dürfte es keine gemeinsame Erklärung zu dem Streitthema auf dem Gipfel am Mittwoch geben. Es gilt als wahrscheinlich, dass danach weiterverhandelt wird. Kommt doch noch rechtzeitig eine Einigung zustande, soll es im November einen EU-Sondergipfel geben, der das Ergebnis billigt. Gelingt das nicht, müssten die EU-Staaten ohne die britische Premierministerin beraten, wie es weitergehen soll.

Irische Grenze bleibt zentrales Problem

Die britische Regierung sprach am Sonntagabend zwar von „echtem Fortschritt“ der Verhandlungen, aber auch von „einer Anzahl ungelöster Fragen“ zur irischen Grenze. London strebe weiterhin Fortschritte auf dem EU-Gipfel diese Woche an.

„Wenn die Verhandlungen jetzt vertagt sind, wird es nach dem EU-Gipfel nicht leichter“, prognostizierte der „Brexit“-Beauftragte der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Elmar Brok. „Offenbar haben Machtfragen im britischen Kabinett die zentrale Rolle gespielt“, sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. May müsse jetzt „die parteitaktischen Überlegungen abhaken und endlich eine Einigung in der Sache voranbringen“.

Für die EU müsse die Einheit des Binnenmarktes „auf jeden Fall erhalten bleiben“. Für das EU-Parlament sei zudem die Vermeidung einer harten Grenze zwischen Irland und Nordirland als Teil des Austrittsvertrags wesentlich.

Sorge vor Wiederaufflammen des Bürgerkriegs

Auch nach Angaben Barniers wird vor allem genau über die Frage gestritten, wie Kontrollen an der Grenze auf der irischen Insel verhindert werden können. Eine Garantie dafür macht die EU zur Bedingung für ein Austrittsabkommen. Sie befürchtet, dass der Konflikt in der Ex-Bürgerkriegsregion wieder aufflammen könnte, sollten sich die Menschen nicht mehr ungehindert zwischen den beiden Teilen der Insel bewegen können. Derzeit ist die Grenze fast unsichtbar.

Grenzfrage zwischen Irland und Nordirland ungeklärt

Nach wie vor ist unklar, ob es nach dem „Brexit“ eine Grenze zwischen Irland und Nordirland geben wird. Diese hätte weitreichende Folgen für die Bevölkerung Nordirlands.

Zur Lösung des Problems war zuletzt im Gespräch, dass Großbritannien vorerst zeitlich unbefristet Mitglied der Europäischen Zollunion bleibt. Zahlreiche „Brexit“-Befürworter in Großbritannien lehnen eine solche Lösung allerdings ab. May muss nach Angaben ihres EU-kritischen Parteifreunds Jacob Rees-Mogg mit Gegenstimmen von mindestens 40 Abgeordneten ihrer Konservativen Partei gegen eine Zollunion-Lösung rechnen.

Koalitionspartnerin droht

Der frühere „Brexit“-Beauftragte David Davis forderte von May in der „Sunday Times“ eine völlig neue Verhandlungsstrategie. Die Nordirland-Partei DUP, auf deren Abgeordnete die Premierministerin im Unterhaus angewiesen ist, drohte ihr sogar mit einem Bruch, wenn sie ihre Zollunion-Pläne weiterverfolge. Als wahrscheinlich gilt, dass diese schwierige innenpolitische Lage der Regierungschefin die für Sonntag angestrebte Einigung mit Brüssel am Ende verhinderte.

Großbritannien will die EU nach derzeitigem Stand am 29. März 2019 verlassen. Der Austrittsvertrag und eine politische Erklärung über die künftigen Beziehungen müssen allerdings schon deutlich früher stehen, um Zeit für die Zustimmung der Parlamente auf beiden Seiten zu lassen. Wenn es keine Übereinkunft gibt, dann entfällt auch die vorläufig vereinbarte Übergangsfrist bis Ende 2020, in der sich fast nichts ändern soll. Das könnte schwerwiegende wirtschaftliche Konsequenzen haben.