Anti-Brexit Demonstranten
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„Brexit“-Sackgasse

EU fordert „neue Fakten“ aus London

Mittwochabend beraten die EU-Staats- und -Regierungsspitzen in Brüssel über das weitere Vorgehen bei den „Brexit“-Verhandlungen. Die Zeit läuft davon, eine Einigung ist weiter nicht in Sicht. EU-Ratspräsident Donald Tusk sah vor dem Gipfel „keinen Grund zum Optimismus“. Auf London machte er neuerlich Druck: „Neben gutem Willen brauchen wir neue Fakten.“

Er werde Großbritanniens Premierministerin Theresa May deshalb am Mittwoch fragen, „ob sie konkrete Vorschläge hat, wie wir aus der Sackgasse kommen“. Nur mit einer „kreativen“ Lösung könne es noch einen Durchbruch geben. Der Rest der EU müsse gleichzeitig sicherstellen, „dass wir vorbereitet sind, falls eine Einigung nicht möglich ist oder zurückgewiesen wird“, sagte Tusk. Die Vorbereitungen auf ein „No Deal“-Szenario müssten deshalb vorangetrieben werden. Das dürfe aber nicht dazu führen, dass keine Einigung mehr angestrebt werde. Ziel sei weiter „die bestmögliche Vereinbarung für alle Seiten“.

Eigentlich hätten die Verhandlungen bis Mittwoch abgeschlossen werden sollen. Am Wochenende hatte es zunächst auch danach ausgesehen. Der britische „Brexit“-Minister Dominic Raab war am Sonntag überraschend mit EU-Chefverhandler Michel Barnier in Brüssel zusammengetroffen. Doch auf Euphorie folgte Ernüchterung: Raab reiste noch am selben Abend mit leeren Händen aus der belgischen Hauptstadt ab.

Grenzfrage als „gordischer Knoten“

90 Prozent des Austrittsabkommens zwischen der EU und Großbritannien sind ausverhandelt. Bei den restlichen zehn Prozent spießt es sich dafür umso mehr. Der Knackpunkt ist weiterhin die Frage, wie eine „harte“ Grenze mit Kontrollen und Schlagbäumen zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland vermieden werden kann.

Schild vor der irisch-nordischen Grenze
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Warnhinweis an der Grenze zwischen Irland und Nordirland

Die EU fordert in diesem Punkt eine Absicherungsklausel, in der Diskussion als „Backstop“ bezeichnet. Nordirland würde dabei nach dem britischen Austritt in der Zollunion mit der EU bleiben. London lehnt das ab. Tusk sieht in der Nordirland-Frage „einen neuen gordischen Knoten, der durchschlagen werden müsste. Aber ich sehe keinen Alexander den Großen oder ähnliche Helden.“

Entscheidung über „Brexit“-Sondergipfel

Bundeskanzler und EU-Ratsvorsitzender Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich allen Widrigkeiten zum Trotz optimistisch, was das Zustandekommen eines Austrittsvertrags betrifft. In der Grenzfrage könnte man sich einig werden, „wenn beide Seiten wirklich wollen. Danach wird man sehen, ob es eine Mehrheit für die Einigung im britischen Parlament und im Europaparlament gibt. Das ist genauso wichtig wie die Frage, ob wir da mit May werden umgehen können oder nicht.“

Jean-Claude Juncker, Donald Tusk und Bundeskanzler Sebastian Kurz
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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Tusk, Kurz (v. l. n. r.): Die EU-Spitzen fordern von der britischen Premierministerin „konkrete Vorschläge“

Am Mittwoch wird laut Tusk die Entscheidung darüber fallen, ob es im November einen „Brexit“-Sondergipfel gibt. „Wir haben noch Hoffnung und müssten eigentlich eine bessere Lösung als keinen Deal finden“, sagte der Pole. EU-Kommissionspräsident Juncker machte ebenfalls deutlich, dass die EU jetzt noch nicht aufgeben will. „Ich hätte gern ein Abkommen, weil kein Abkommen heißt: Katastrophe“, sagte Juncker. Auch EU-Chefverhandler Barnier will konzentriert weiterarbeiten: Ein Abkommen mit London benötige mehr Zeit – und die werde man sich nehmen.

Längere Übergangsphase steht im Raum

Wie Reuters mit Verweis auf Teilnehmer eines Ministertreffens am Dienstag in Luxemburg berichtete, sei für Barnier nun der Dezember die „endgültige Deadline“, damit auch noch genug Zeit für die nötigen Ratifizierungen durch das Parlament in London und das Europäische Parlament vor dem Austrittsdatum 29. März bleibe. Zuvor war in diesem Zusammenhang immer wieder von einer bis spätestens Ende Oktober bzw. Mitte November notwendigen Einigung die Rede.

Barnier habe laut „Financial Times“ und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ den Briten zudem eine längere Übergangsfrist angeboten. Den bisherigen Plänen zufolge sollte das Vereinigte Königreich nach dem „Brexit“ bis Ende 2020 weiter im EU-Binnenmarkt und der Zollunion bleiben. Die vorgesehene Regelung sieht dabei vor, dass sich London in dieser Zeit ohne Mitspracherecht weiter an die EU-Regeln halten müsse.

Vorbereitungen für chaotischen „Brexit“

Nicht nur auf EU-Ebene, auch in den Mitgliedsstaaten laufen unterdessen die Vorbereitungen für einen chaotischen „Brexit“. May lehnt eine Verlängerung laut BBC aber ab, obwohl andere Regierungsmitglieder sich das sehr wohl vorstellen könnten. Sollte Großbritannien ohne Austrittsvertrag aus der EU ausscheiden, könnte das schwere wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen. Auch die Übergangsphase bis Ende 2020 würde dann entfallen.

Britische Premierministerin Theresa May
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Großbritanniens Premierministerin May: Ihr Kabinett stärkte ihr am Dienstag den Rücken

Er halte es zwar nach wie vor für unwahrscheinlich, dass die „Brexit“-Verhandlungen scheiterten, sagte etwa der irische Premier Leo Varadkar. Dennoch habe sein Kabinett die Vorkehrungen für diesen Fall am Dienstag erhöht. Ein deutscher Regierungsvertreter sagte, Berlin wappne sich sowohl für eine „Brexit“-Übergangsphase als auch für ein „No Deal“-Szenario. Entsprechende Gesetze seien in Vorbereitung, ebenso wie nicht gesetzliche Maßnahmen, etwa die personelle Aufstockung der Zollbehörden.

„Starke Unterstützung“ für May

May holte sich unterdessen die Rückendeckung ihrer Regierungsriege. Nach den Worten ihres Sprechers beschwor sie am Dienstag bei einer langen Sitzung in London die Einheit ihres Kabinetts. Dabei habe sie „starke Unterstützung“ von ranghohen Regierungsmitgliedern erhalten. Anders als kolportiert, gebe auch keine Rücktrittsdrohungen. May habe deutlich gemacht, dass kein Abkommen besser sei als ein schlechtes Abkommen. Und ein schlechtes Abkommen sei eines, das zu einem Bruch im Vereinigten Königreich führe.

Ob May die von Tusk ins Spiel gebrachte Heldin sein könnte, die den gordischen Knoten durchschlägt, ist offen. Wenig Heldentum attestierte Tusk dagegen dem ehemaligen britischen Außenminister Boris Johnson – auch wenn dessen zweiter Vorname Alexander ist. „Boris Johnson mit Alexander dem Großen zu vergleichen, schießt vielleicht doch übers Ziel hinaus“, sagte Tusk in Brüssel auf die Frage einer Journalistin. Er habe „da auch ein paar Bemerkungen teilweise dramatischer Art gehört, auch von Boris Johnson, dass die EU Großbritannien spalten möchte oder Nordirland sogar annektieren will. Naja, es handelt sich natürlich um ein schwieriges Thema.“