SV Hauptverband Sozialversicherungsträger
ORF.at/Christian Öser
Kassenreform

Offene Fragen und viel Kritik

Bringt die Reform der Sozialversicherung eine Milliarde Euro Entlastung, wie die Regierung ursprünglich versprochen hat, 33 Millionen, wie im Gesetzesentwurf steht, oder über eine Milliarde Belastung, wie Kritiker monieren? Die Kostenfrage ist nicht das einzig Umstrittene an dem Vorhaben – verfassungsrechtlicher Bedenken inklusive. Das Paket passiert am Mittwoch trotzdem den Ministerrat. Änderungen dürfte es aber noch geben.

Neue Munition gegen den Gesetzesentwurf wurde am Montag, drei Tage nach Ende der Begutachtungsfrist, publik: In seiner Stellungnahme weist der Verfassungsdienst im Justizministerium auf eine geplante Passage hin, wonach die Sozialministerin gegenüber dem künftigen Dachverband der Sozialversicherungen bestimmte Weisungen zu erlassen hat. Gemäß Artikel 120b der Bundesverfassung hätten die Selbstverwaltungskörper jedoch „das Recht, ihre Aufgaben [also die Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs] in eigener Verantwortung frei von Weisungen zu besorgen“.

Mögliche verfassungsrechtliche Turbulenzen befürchtet der Verfassungsdienst auch bei der Zusammenlegung einzelner Kassen. Das Gesetz sieht vor, dass es künftig statt 21 nur noch fünf Sozialversicherungsträger gibt: die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), zu der die neun Gebietskrankenkassen fusioniert werden, eine gemeinsame Versicherung für Beamte, Eisenbahn und Bergbau (BVAEB), eine für Unternehmer und Bauern (SVS) sowie die Pensionsversicherung (PV) und die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) in abgespeckter Form.

Höchst umstrittene Parität

Darüber wacht nicht mehr der Hauptverband der Sozialversicherungsträger, sondern ein Dachverband mit rotierendem Vorsitz. Waren in Generalversammlung und Vorstand der Gebietskrankenkassen bisher die Vertreter der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gegenüber den Arbeitgebenden im Verhältnis vier Fünftel zu einem Fünftel in der Überzahl (in der – mit Vetorecht ausgestatteten – Kontrollversammlung war es umgekehrt), so gibt es in der Gesundheitskasse künftig im Verwaltungsrat Parität von je sechs Dienstnehmer- und Dienstgebervertretern. Das ist einer der umstrittensten Punkte der Reform.

Das belegt auch ein am Montag von der niederösterreichischen Gebietskrankenkasse (NÖGKK) vorgelegtes Rechtsgutachten: Rudolf Müller, ehemals Verfassungsrichter auf einem SPÖ-Ticket, kommt darin zu dem Schluss, dass die geplante Parität verfassungswidrig sei. Selbstverwaltungskörper seien aus Vertretern der unmittelbar betroffenen Personengruppen gebildet, argumentierte er. In der Krankenversicherung der Unselbstständigen seien Dienstgeber – weil weder krankenversichert noch leistungsberechtigt – daher „Außenstehende“, dem sei mit der 4:1-Verteilung Rechnung im derzeitigen Kassenvorstand Rechnung getragen.

„Jedenfalls verfassungswidrig“

Dass im künftigen Verwaltungsrat jeweils sechs Repräsentanten der beiden Seiten vertreten sein sollen, scheidet für Müller „jedenfalls als verfassungswidrig aus“. Der Gesetzgeber könne den Dienstgeberanteil lediglich ein wenig höher ansetzen, die Grenze des nur schwachen Einflusses bei den geschäftsführenden Aufgaben müsse aber gewahrt bleiben. Konform geht Verfassungsrechtler Walter Berka: Von den insgesamt 15 verfassungsrechtlich bedenklichen Punkten in der Stellungnahme des Hauptverbandes stelle die Parität in den Gremien eines der größten Probleme bei der Reform dar.

Umstritten sind zuvorderst die finanziellen Auswirkungen: Bei der Präsentation der Projekts Mitte September hatte die Regierung von Einsparungen von einer Milliarde Euro bis zum Jahr 2023 gesprochen – aus einer „Funktionärsmilliarde“ werde eine „Patientenmilliarde", hieß es plakativ. Den Erläuterungen zum Gesetzesentwurf ist das aber nicht zu entnehmen, dort heißt es: „Die Jahre 2020 bis 2022 dienen neben der Durchführung der Fusion der Konsolidierung, der Harmonisierung und der Aufgabenbündelung. Diese Maßnahmen bewirken in der Sozialversicherung Mehraufwendungen im Leistungsrecht.“ 2023 soll es erstmals Einsparungen von 33 Millionen Euro geben, bis 2026 sollen sich diese auf 350 Millionen belaufen.

Rechnungshofpräsidentin Margit Kraker
APA/Herbert Pfarrhofer
Rechnungshof-Präsidentin Margit Kraker übte deutliche Kritik an der Reform

Rechnungshof sieht Zahlenspiele

Die Reaktion des Rechnungshofs (RH) fiel wenig freundlich aus: „Es fehlen transparente und nachvollziehbare Berechnungsgrundlagen", hieß es in der Begutachtungsstellungnahme. Präsidentin Margit Kraker sagte, die Darstellung der Kosten „ist unvollständig, basiert auf nicht nachvollziehbaren Grundlagen. Damit ist sie nicht geeignet, dem Gesetzgeber eine aussagekräftige Entscheidungsgrundlage zu bieten.“ Außerdem kritisierte sie, dass die Fusionskosten nicht bewertet seien – das Nettoergebnis der Zusammenlegung könnte in den ersten fünf Jahren nicht wie dargestellt positiv, sondern „deutlich negativ“ sein. Kraker erinnerte daran, dass etwa die Fusion der Pensionsversicherungsanstalten von Arbeitern und Angestellten im Jahr 2002 114,8 Millionen Euro kostete.

Noch pessimistischer lesen sich die Berechnungen der Arbeiterkammer (AK) – diese geht von 2,1 Mrd. Euro Mehrkosten aus, das sind nochmal um 500 Mio. mehr als in von Sozialversicherungsexperten vorgelegten Berechnungen. Allein durch die Einsparungen bei der AUVA entstehen den Krankenkassen Mehrbelastungen von rund 300 Mio., weitere 133 Mio. ergeben sich durch den Wegfall von Ausgleichszahlungen des Finanzministeriums für den fehlenden Vorsteuerabzug. Mit den von der Regierung angekündigten Einsparungen bei Funktionären wird sich die Mehrbelastung nicht kompensieren lassen: Die Aufwendungen für die Selbstverwaltung, dazu zählen Sitzungsgelder für Funktionäre und die Zahlungen für die Obleute und Direktoren sowie Fahrtkosten, betrugen 2017 rund 5,3 Mio. Euro.

Kundgebung gegen die geplante Krankenkassenreform in Linz
APA/Fotokerschi.at/werner Kerschbaum
Die versprochene „Patientenmilliarde“ ist Berechnungen zufolge in weiter Ferne

Zum Ende der Gesetzesbegutachtung sagte Sozialministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ), alle Sichtweisen beurteilen und „konstruktive positive Vorschläge“ einarbeiten zu wollen – insgesamt trafen knapp 60 Stellungnahmen ein. Kritik übten dabei nicht nur der Hauptverband, der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) und die rotgeführten Sozialversicherungsträger, sondern auch die beiden ÖVP-geführten Gebietskrankenkassen von Tirol und Vorarlberg. Einige kritische Anmerkungen kamen auch aus Salzburg und Niederösterreich.

Finanzminister Löger hält Krankenkassenreform für verfassungskonform

Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) betont, dass er den Begutachtungsentwurf der Krankenkassenreform für verfassungskonform hält.

Wöginger: „Eine oder andere Änderung“

Laut ÖVP-Klubchef August Wöginger wird die Reform am Mittwoch dem Ministerrat vorgelegt, Hartinger und Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) hatten das zuletzt noch offengelassen. Wöginger kündigte eine verfassungskonforme Umsetzung des Projekts an. Nach Sichtung der Stellungnahmen würde noch „die eine oder andere Änderung“ am Gesetzesentwurf vorgenommen, auch mit Ländervertretern und Sozialpartnern liefen weitere Gespräche. Vor allem bei den verfassungsrechtlichen Fragen der Sozialversicherungsreform gelte es „ganz, ganz sorgsam“ zu sein. „Da gehen wir jedenfalls auf die sichere Seite.“

Löger ritt am Montag zur Verteidigung eines weiteren umstrittenen Punktes bei der Reform aus – die geplante Übersiedlung der Beitragsprüfung von den Kassen zur Finanz. Dass auch der RH deutlich Kritik daran geübt hatte, bezeichnete Löger als nicht nachvollziehbar, schließlich gebe es bereits seit 2003 gemeinsame Prüfungen.

Zu den weiteren Kritikpunkten des RH merkte er an, dass man Hinweise aus der Begutachtung sehr ernst zu nehmen gedenke. Es werde Korrekturen geben, so sie sinnvoll und notwendig seien. Er gehe davon aus, dass seitens des Sozialministeriums „die Transparenz der Zahlen noch ausgearbeitet wird“, sagte Löger. Ansonsten könnte die Reform ein ähnliches Ende nehmen, wie jene unter der ersten ÖVP-FPÖ-Koalition: Der Verfassungsgerichtshof hob das im Jahr 2002 von der Regierung beschlossene Modell zur Sanierung der Krankenkassen auf. Alle wesentlichen Elemente wurden damals als verfassungswidrig erkannt.