Im Herbst 1918 war Europa nach vier Jahren Kriegsgräueln mit weltweit geschätzten 17 Millionen Toten am Limit angelangt. Das Ende des Krieges und die Niederlage der Mittelmächte hatten sich längst abgezeichnet. Bulgarien, das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn hatten bereits kapituliert, die letzten militärischen Vorstöße des Deutschen Reichs erwiesen sich als Desaster. In der Bevölkerung herrschte Massenelend, unter den Soldaten Revoltenstimmung. Die einen wie die anderen litten an Hunger und Krankheit.
In diesem Klima überschlugen sich in den ersten November-Tagen die Ereignisse. In Österreich-Ungarn endete – ebenfalls am 11. November – die jahrhundertelange Herrschaft der Habsburger, als Kaiser Karl I. auf alle Regierungsgeschäfte verzichtete. Bereits am nächsten Tag wurde die Erste Republik, Deutsch-Österreich, ausgerufen. Der Vielvölkerstaat zerbrach, an seiner Stelle entstanden neue Nationalstaaten. Über das Deutsche Reich fegte unterdessen die Novemberrevolution hinweg, die zur Ausrufung der Republik und dem Rücktritt Kaiser Wilhelms II. führte. Zwei Tage später unterfertigte die neue Regierung den Waffenstillstand – und der Erste Weltkrieg wurde für beendet erklärt.
Die Gewalt hält an
In der epochalen Umwälzung des Weltkriegsendes, der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, wurden die Landkarte neu gezeichnet, Imperien begraben und Nationalstaaten geschaffen. Doch der Frieden, den man heute mit 1918 verbindet, blieb in Europa für Jahre eine Illusion – er kehrte am ehesten noch in den Siegerstaaten Frankreich und Großbritannien ein. „1918 liest man heute immer als Zäsur: auf der einen Seite der Krieg, dann plötzlich Frieden. Doch das ist bei Weitem nicht der Fall. In vielen Regionen der Welt wurden über Jahre hinweg harte Konflikte ausgefochten“, so die Historikerin Tamara Scheer vom Institut für osteuropäische Geschichte der Universität Wien gegenüber ORF.at.

Tamara Scheer lehrt und forscht am Institut für osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Das Interview in voller Länge.
Die Realität ist: Bewaffnete Gewalt blieb auch in der vermeintlichen Zwischenkriegszeit allgegenwärtig. Revolutionen und Gegenrevolutionen, (Bürger-)Kriege, Konflikte, Vertreibungen und Pogrome in ganz Europa kosteten in den ersten fünf Nachkriegsjahren ähnlich viele Menschenleben wie der gesamte Erste Weltkrieg. Allein zwischen 1917 und 1932 gab es in Europa 27 gewaltsame Wechsel von Regimen, wobei sich der Bogen vom Baltikum über den Balkan bis nach Griechenland und Irland spannte.
Am fatalsten war die Lage in Russland, wo die bolschewistische Machtübernahme durch Lenin im Jahr 1917 in einen Bürgerkrieg zwischen den Bolschewiken und ihren Gegnern mündete. Die Kampfhandlungen zwischen der Roten und Weißen Armee, politischer Terror, „Säuberungen“ und Pogrome, nicht zuletzt gegen Jüdinnen und Juden, kosteten acht bis zehn Millionen Menschen das Leben. Unzählige weitere wurden vertrieben. Heute sind diese Konflikte im westeuropäisch dominierten Blick auf die Geschichte oftmals vergessen, dabei wirken manche von ihnen bis heute nach.
„Europa die gewalttätigste Region der Welt“
Europa sei „nach Ende des Ersten Weltkrieges und dem Lausanner Abkommen von 1923 die gewalttätigste Region der Welt gewesen“, so der deutsche Historiker Robert Gerwarth vom University College Dublin in seinem Buch „Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs“, in dem er mit Weitsicht die Gewaltspirale der Nachkriegsjahre analysiert.
Darin beschreibt er, wie die europaweit grassierende Angst vor dem Bolschewismus, Revolutionen und Konterrevolutionen und der Zerfall der Imperien zu heftiger Gewalt bei der Neuordnung des Kontinents führten. Dabei sieht Gerwarth das Erlebnis der Kriegsniederlage und ihre destabilisierende Wirkung als Schlüssel für das Verständnis des 21. Jahrhunderts. Denn es sei auffällig, dass sich in weiterer Folge vor allem in den Verliererstaaten totalitäre Regime durchsetzen konnten, so der Historiker.
Das Schicksal der „Siegerverlierer“
Auch Scheer greift auf den Kriegsausgang zurück, um die Dynamik der Gewalt und der Radikalisierung in den Nachkriegsjahren zu erklären. Sie verweist darauf, dass es nicht nur Sieger und Verlierer, sondern auch „Siegerverlierer“ gegeben habe. Staaten wie Jugoslawien und Italien seien zwar vordergründig Gewinner des Krieges gewesen. Dabei werde aber vergessen, dass auch ein Großteil der Bevölkerung den Krieg verloren habe.
„Die Bevölkerung hat für ein Land gekämpft, das es dann nicht mehr gab, nämlich Österreich-Ungarn. Und dieses ging eben als Verlierer aus dem Krieg hervor.“ Dabei hätten die Menschen den Krieg auch in den neuen Nationalstaaten (die letztlich de facto eher kleine Imperien waren) sehr unterschiedlich erlebt – die einen beispielsweise als Anhänger die Monarchie, die anderen als Nationalisten. Unter diesen Bedingungen seien die Verliererstaaten wesentlich anfälliger für Gewalt gewesen als die Siegerstaaten.
„Grenzen haben sich über die Menschen bewegt“
Die extreme Unsicherheit im zerrütteten Europa und die persönlichen Erfahrungen der heimkehrenden Soldaten hätten dann ihr Übriges getan: „Man kommt schon nach Hause. Aber das ‚Zuhause‘ ist nicht mehr das, was es war, als man ausgezogen ist“, beschreibt die Historikerin die damalige Situation. Denn bis zu den Friedensschlüssen 1919 und 1920 wusste in den zerfallenden Gebieten kaum einer, in welchem Staat er oder sie leben würde, welche Sprache künftig gesprochen werde und wie die neuen Grenzen gezogen werden.
„Man kommt in ein Zuhause, das ist aber nicht mehr dasselbe Zuhause. Man kommt in ein Land, das ist aber nicht mehr dasselbe Land. Die Menschen zogen aus für Kaiser und Vaterland in Österreich-Ungarn, kamen aber beispielsweise in die Tschechoslowakei zurück. Die Menschen leben immer noch im selben Dorf, aber die Grenzen haben sich über die Menschen bewegt“, so Scheer. Dazu wütete die Spanische Grippe, der mehr Menschen zum Opfer fielen als den Schlachtfeldern. Es herrschten Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit, und die oft kriegsinvaliden Männer kehrten in eine Welt zurück, in der selbst die Gesunden um ihr Leben kämpfen mussten.
Der radikale Möglichkeitsraum
Politisch konnten sich in diesem Klima aus Kriegsmüdigkeit und Instabilität in vielen Verliererstaaten Kräfte aller möglicher Coleurs durchsetzen, die unter großer Gewaltbereitschaft ihre Agenden verwirklichen wollten. Scheer spricht von einem „Möglichkeitsraum“, in dem lange schwelende Konflikte aufbrechen konnten: „Die alten Staaten sind weg, und dann bekämpfen sich eben Gruppen, die sich auch schon vor 1914 bekämpft haben oder hätten. Gerade in Österreich-Ungarn ist das ein großes Thema. Solange konkurrierende Gruppen zu einem Staat gehören, ist es nicht einfach, die Konflikte gewalttätig auf der Straße auszuleben. Aber in diesen Tagen der Unsicherheit, der Neuordnung konnte man losschlagen.“
Ob im finnischen Bürgerkrieg, bei der Neuordnung im Osten Europas oder dem gescheiterten Versuch, in München eine sozialistische Räterepublik zu errichten: Das Machtvakuum von 1918 sollte dazu genutzt werden, gewisse politische Ziele zu verwirklichen. Jede Gruppe habe laut Scheer versucht, im Chaos der Nachkriegsordnung Fakten zu schaffen. Verschärft sei die Situation dadurch worden, dass die Menschen aus dem Krieg gekommen seien: „Ihre Gewaltschwelle war wesentlich niedriger als vor 1914, dazu waren viele auch oft noch bewaffnet. Wenn man dann nach Hause kommt und das Leben in Trümmern liegt, hat man nichts mehr zu verlieren.“
Vergessene Jahre mit Folgen
Die Nachkriegsregierungen waren in vielen Fällen entweder aktiv an Konflikten beteiligt oder konnten diese nicht bremsen. Sie kämpften ohnehin mit den Kriegsfolgen und konnten der Bevölkerung auch den erhofften „günstigen Frieden“ meist nicht bieten. Sie wurden, wie Gerwarth im vergangenen Jahr gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ sagte, oftmals in Teilen der Bevölkerung „unverschuldet delegitimiert“. Nicht zuletzt das legte die Saat für die katastrophalen Entwicklungen der kommenden Jahrzehnte.
Literaturhinweis
Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. Pantheon Verlag, 480 Seiten, 20,60 Euro.
Rok Stergar, Tamara Scheer: Ethnic boxes: the unintended consequences of Habsburg bureaucratic classification. Nationalities Papers, 1.6.2018.
Dass die blutigen Jahre nach 1918 für die weitere Entwicklung Europas maßgeblich waren, davon sind sowohl Scheer als auch Gerwarth überzeugt. „Ich argumentiere, dass die Wurzeln des Faschismus und auch des Zweiten Weltkriegs sehr viel stärker im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu finden sind als zwischen 1914 und 1917“, so der Historiker zur „Süddeutschen Zeitung“. Vergessene Krisenjahre, deren Ereignisse sich nicht viel später in den katastrophalen 1930er Jahren spiegeln sollten. Der Zweite Weltkrieg sei dann „nicht unvermeidlich, aber folgerichtig“ gewesen.