Gemälde „Die Rotarmisten des Nordens 1918“ von Boris Stepanowitsch Lukoschkow
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Historikerin Tamara Scheer

„In diesen Tagen konnte man losschlagen“

Die Wiener Historikerin Tamara Scheer forscht und lehrt an der Universität Wien zur Geschichte der Habsburger-Monarchie und Zentraleuropas, derzeit beschäftigt sie sich mit Sprachenvielfalt und nationalen Identitäten in der k. u. k. Armee. Im Interview mit ORF.at spricht sie über die „Siegerverlierer“ des Ersten Weltkrieges, den Mythos des Völkerkerkers und die neue Popularität Kaiser Franz Josephs in Bosnien-Herzegowina.

ORF.at: Frau Scheer, das Ende des Ersten Weltkrieges und die anschließende Neuordnung Europas gehören im großen Gedenkjahr 2018 zweifellos zu den wichtigsten Meilensteinen. Welchen Blick haben wir heute auf den November 1918?

Scheer: Die Zäsur 1918 wurde bisher oft vereinfacht dargestellt. Die übliche Lesart war: Der Krieg ist aus – der Frieden da. Doch das ist bei Weitem nicht der Fall. In vielen Regionen der Welt wurden nach 1918 über Jahre hinweg harte Konflikte ausgefochten. Relevant ist dabei auch, dass man nicht streng zwischen Verlierern und Gewinnern unterteilen kann. Vor allem hat man keine eindeutigen Verlierer. Noch eher hat man „Siegerverlierer“ – auch wenn sich diese damals gewehrt hätten, so genannt zu werden.

ORF.at: Wen darf man als „Siegerverlierer“ verstehen und warum?

Scheer: Etwa den Siegerstaat Italien und die neu gegründeten Staaten Jugoslawien und die Tschechoslowakei. „Siegerverlierer“ sind diese Länder deshalb, weil auch ein Großteil der Bevölkerung den Krieg verloren hat. Die Bevölkerung hat für ein Land gekämpft, das es dann nicht mehr gab, nämlich Österreich-Ungarn. Und dieses ging eben als Verlierer aus dem Krieg hervor.

Die neuen Nationalstaaten waren in sich ja auch nicht homogen, sondern eher kleine Imperien. Inhomogen waren sie auch insofern, als dass die Bevölkerung den Krieg auf sehr unterschiedliche Weise erlebt hat. Und das ist ein wichtiger Punkt für die anschließende Radikalisierung. So wurden etwa viele italienische Nationalisten aus dem Habsburger-Reich nach dem gewonnenen Krieg in Italien mit Misstrauen und Anfeindungen empfangen. In der Tschechoslowakei wurde nur Soldaten der Tschechischen Legion gedacht – zur Enttäuschung aller, die etwa in der k. u. k. Armee gedient hatten. Man findet Verlierer überall, durch alle Länder.

Historikerin Tamara Scheer
Tamara Scheer
Tamara Scheer lehrt und forscht am Institut für osteuropäische Geschichte der Universität Wien.

ORF.at: Überwog nicht die Erleichterung über ein Ende des Krieges?

Scheer: Wichtig ist dabei die Rückkehrerfahrung der Soldaten. Man kommt schon nach Hause. Aber das „Zuhause“ ist nicht mehr das, was es war, als man ausgezogen ist. Die Spanische Grippe wütete, es herrschten Hunger, Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit. Im schlimmsten Fall sind die Frau, die Eltern, die Kinder tot. Dazu kommen die vielen anderen Männer aus dem persönlichen Umfeld, die während des Krieges an der Front gefallen sind.

Man kommt in ein Zuhause, das ist aber nicht mehr dasselbe Zuhause. Man kommt in ein Land, das ist aber nicht mehr dasselbe Land. Die Menschen zogen aus für Kaiser und Vaterland in Österreich-Ungarn, kamen aber beispielsweise in die Tschechoslowakei zurück. Die Menschen leben immer noch im selben Dorf, aber die Grenzen haben sich über die Menschen bewegt.

ORF.at: Aus politischer und individueller Perspektive also eine Situation der enormen Unsicherheit.

Scheer: 1918 liest man heute immer als Zäsur. Erst Krieg, dann Frieden. In Wirklichkeit wussten die Menschen in diesen Oktober- und November-Tagen bis zu den Friedensschlüssen 1919 und 1920 nicht, in welchem Staat sie leben werden oder ob sie ihre Sprache weiter verwenden durften. In diesen Tagen weiß niemand, wie es weitergeht, und die Menschen versuchten einfach, den Alltag weiter zu bestreiten.

Ein gutes Beispiel für die Unsicherheit ist die Provinz Deutschböhmen, die Ende Oktober 1918 von Lokalpolitikern ausgerufen wurde, sich nach dem Kriegsende Deutsch-Österreich anschloss und später der Tschechoslowakei zugeschlagen wurde. Heute ist Deutschböhmen fast vergessen, für die Bevölkerung damals war ein deutsch-österreichisches Deutschböhmen aber eine reelle Möglichkeit. Es ist nicht so, dass – wie es sich manchmal in den Geschichtsbüchern darstellt – plötzlich Frieden ist und die Grenzen stehen.

ORF.at: Ungeachtet des Friedensschlusses waren die Nachkriegsjahre von einer unbeschreiblichen Brutalität geprägt. Bei Nachkriegskonflikten rund um die politische, ethnische und gesellschaftliche Neuordnung starben mehr Menschen als im Ersten Weltkrieg selbst. Woher kam die Gewalt?

Scheer: Gewalt kommt nicht von irgendwoher, und auch Vorurteile und Leiden hören nicht mit einem Schlag auf. Oft entstanden die Nachkriegskonflikte aus alten Vorurteilen und Animositäten, die seit Jahrzehnten zwischen Bevölkerungsschichten und ideologischen Gruppen schwelten. Nach dem Krieg ist dann der Moment gekommen, in dem diese Konflikte aufbrechen. Ein „Möglichkeitsrahmen“, in dem man Gelegenheit zum Losschlagen hat. Die alten Staaten sind weg, und dann bekämpfen sich eben Gruppen, die sich auch schon vor 1914 bekämpft haben oder hätten.

Gerade in Österreich-Ungarn ist das ein großes Thema. Solange konkurrierende Gruppen zu einem Staat gehören, ist es nicht einfach, die Konflikte gewalttätig auf der Straße auszuleben. Aber in diesen Tagen der Unsicherheit, der Neuordnung konnte man losschlagen. 1918 sehen die Menschen ihre Chancen, das Machtvakuum zu nützen, um gewisse politische Ziele zu verwirklichen. Jede Gruppe versucht, Fakten zu schaffen. Dazu kommt: Die Menschen kamen aus dem Krieg. Ihre Gewaltschwelle war wesentlich niedriger als vor 1914, dazu waren viele auch oft noch bewaffnet. Wenn man dann nach Hause kommt und das Leben in Trümmern liegt, hat man nichts mehr zu verlieren.

ORF.at: In Österreich ist das Erklärungsmodell des Völkerkerkers nach wie vor omnipräsent. Neuere Publikationen, etwa vom Historiker Pieter M. Judson (Europäisches Hochschulinstitut Florenz) oder seinem deutschen Kollegen Robert Gerwarth (University College Dublin) brachten dieses Bild zuletzt aber auch außerhalb von Fachkreisen zum Bröckeln. Wie steht die Forschung derzeit zum Konzept vom Völkerkerker?

Scheer: Hätte man vor zehn Jahren den Völkerkerker auch nur unter Anführungszeichen gesetzt, hätte es Empörung gehagelt. Heute und dank Judson kann ich aus den Quellen erzählen, was sich mir eben erschließt. Und dabei zeigt sich eindeutig: Es stimmt nicht, dass jeder Deutschsprachige weiterhin den Kaiser haben wollte und jeder Tscheche der Monarchie den Rücken kehren wollte. Es stimmt nicht, dass über Bausch und Bogen einzelne Nationalitäten auf keinen Fall mehr in der Monarchie, nur mehr einsprachig, unter sich und als homogener Nationalstaat leben wollten.

Ich sage, man konnte auch in der Monarchie ein stolzer Tscheche sein und trotzdem in der Monarchie leben. Das kann man eindeutig aus Tagebüchern und Briefen beleuchten. Allerdings lebt das Bild noch. Bei jeder Lehrveranstaltung frage ich meine Studierenden, was sie in der Schule über Österreich-Ungarn gelernt haben. Und jedes Mal kommt der Völkerkerker. In demokratischen Regierungssystemen braucht es offenbar länger, bis sich Schulbücher ändern. Das ist aber wohl auch eine politische Frage.

ORF.at: Stand das Modell Völkerkerker auch „im Dienst“ der neu geschaffenen Nationalstaaten?

Scheer: Eindeutig. Nationalstaaten, die eben keine waren, die nie welche gewesen sind, mussten eine eingeschränkte Sicht schaffen. Sie mussten für die Menschen eine Identität schaffen. Das war natürlich politisch motiviert, auch realpolitisch. Um zum Staat zu werden, musste man den Menschen im Land eine einfache Sicht auf ihre Geschichte vermitteln.

Aktuelle Publikation:

Rok Stergar, Tamara Scheer: Ethnic boxes: the unintended consequences of Habsburg bureaucratic classification. Nationalities Papers, 1.6.2018.

ORF.at: Wie hat sich das im Lauf der Zeit entwickelt?

Scheer: Es hat auch einen Denkwechsel in den ehemaligen Staaten der Habsburger-Monarchie gegeben. Wenn man in den vergangenen Jahren auf eine Konferenz in die Staaten Ex-Jugoslawiens, nach Tschechien oder Italien gefahren ist, war nicht viel Interesse da. Vor 20 Jahren war es vielleicht sogar noch peinlich, wenn man einen Großvater hatte, der in der k. u. k. Armee gekämpft hat.

Heute ist das völlig anders. Das sieht man unter anderem im Bosnien-Herzegowina: Dort gelten die Zeiten von Tito (Josip Broz, langjähriger Machthaber in Jugoslawien, Anm.) und Kaiser Franz Josef als die Zeiten, in denen die drei Ethnien friedlich zusammengelebt haben. Das entspricht natürlich auch nicht der Realität. Aber gewisse Dinge machen irgendwann wieder Sinn, wenn die politische Lage sich verändert. Das zieht man dann heran und gibt ihm ein neues Mascherl.