Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel
AP/Geert Vanden Wijngaert
Merkel-Rückzug

Wer übernimmt Führungsrolle in Europa?

Über ein Jahrzehnt galt die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) als Inbegriff der europäischen Stärke – bis sie mit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 zusehends an Einfluss verlor. Ihre schrittweise Rückzugsankündigung sorgt dennoch für großes Rätselraten in Europa. Denn ein Gegengewicht für den US-Präsidenten Donald Trump wird dringend gebraucht.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stärkte Merkel am Dienstag noch den Rücken: „Sie und Deutschland bleiben einflussreiche Akteure des europäischen Projekts und darüber hinaus“, sagte eine Sprecherin der EU-Kommission. Für Juncker ändere sich also nichts. Die Bundeskanzlerin werde weiterhin eine Hauptgesprächspartnerin des Kommissionspräsidenten bleiben.

Am Montag kündigte sie an, den CDU-Vorsitz abzugeben und 2021 nicht mehr als Kanzlerkandidatin antreten zu wollen. Ihre internationale Position sieht die Kanzlerin selbst aber nicht geschwächt, wie sie auf einer Pressekonferenz mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi in Berlin sagte. „Man kann sogar sagen, ich habe mehr Zeit, mich auf die Aufgaben als Regierungschefin zu konzentrieren.“

Kann Macron Merkels Vakuum füllen?

Dass der Einfluss der einstmals mächtigsten Frau Europas mit ihrer Rückzugsankündigung jedoch weiter schwinden wird, darüber sind sich mehrere Fachleute einig. „Ganz Europa wird das Gespräch mit dieser Person (Merkels Nachfolger, Anm.) suchen. Merkel wird nicht mehr wahnsinnig in den Umsetzungsmodus kommen“, so Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) im Gespräch mit ORF.at. Ähnlicher Meinung ist Eric Maurice von der Brüsseler Stiftung Robert Schuman: „In Brüssel gilt Merkel als ausgeschieden.“ Einen EU-Posten will Merkel nach Angaben aus CDU-Kreisen im Anschluss an ihre Amtszeit nicht übernehmen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron
Reuters/Toby Melville
Emmanuel Macron wird schon seit mehreren Monaten als neue treibende Kraft in Europa gehandelt

Bereits Monate vor ihrem eigentlichen Rückzug hat die mediale Suche nach einem neuen europäischen Stabilitätsanker begonnen. Als Merkel zwischen September 2017 und März 2018 damit kämpfte, eine Regierungskoalition auf die Beine zu stellen, wurde in Kommentaren immer wieder den französischen Präsidenten Emmanuel Macron als neue treibende Kraft in Europa genannt.

Eine Schwächung Merkels sei aber auch negativ für Macron, sagt Janis Emmanouilidis von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre (EPC) gegenüber ORF.at. Allein werde Macron die Lücke nicht schließen können, sagt der Experte: „Paris braucht Berlin, und Berlin braucht Paris – das wird auch weiterhin so sein.“

Häme aus Italien und Ungarn

Während der französische Präsident selbst sich über Merkels schrittweisen Rückzug enttäuscht zeigte und sagte, dass dieser „nichts Beruhigendes“ habe, sparte Italiens rechtsnationalistischer Innenminister Matteo Salvini nicht mit Häme. Botschaft der Hessen-Wahl sei, „dass die in Brüssel regierenden Parteien einen epochalen Hammerschlag abbekommen haben“. Ähnlich dürfte die Reaktion des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban, eines weiteren Migrationsgegners, ausfallen.

Matteo Salvini und Viktor Orban
APA/AFP/Marco Bertorello
In Ungarn und Italien sieht man sich durch das Ergebnis der Hessen-Wahl bestätigt

„An Merkel zeigt sich, wohin der vielfache Verrat führt. Gerade noch hat sie Orban in Sachen Europäertum, Demokratie, offene Gesellschaft, Solidarität und wer weiß was noch belehrt. Jetzt packt sie schön ihre Sachen und kehrt vielleicht in die ehemalige DDR zurück“, hieß es etwa in der regierungsnahen ungarischen Zeitung „Magyar Idök“. Auch Macron sieht man dort bereits als Wackelkandidaten.

Schmidt: Karten werden neu gemischt

Im Zuge der andauernden „Brexit“-Verhandlungen und der anstehenden Konsolidierung der Banken- und Fiskalunion sei Merkels Rückzug beunruhigend, schrieb die spanische Zeitung „El Mundo“. „Zusammen mit Frankreich verteidigt sie schon seit vielen Jahren standhaft jene Werte, die Europa zu einem der Räume der demokratischen Welt mit dem größten Wohlstand und Fortschritt gemacht haben.“

Schmidt von der ÖGfE, sagt im Gespräch mit ORF.at, dass gerade im Zusammenhang mit dem „Brexit“ neue Allianzen entstehen könnten. Neben Frankreich könnte Spanien eine bedeutendere Rolle bekommen. Zudem stellt sich laut Schmidt die Frage, ob Italiens populistische Regierung gegenüber Brüssel weiter auf Konfrontation setzt. An Einfluss gewinnen könnte seiner Ansicht nach auch die Gruppe der „Nettozahler“, darunter Österreich und die Niederlande.

Rechten kommt Sündenbock abhanden

Auf der anderen Seite könnte Merkels Abgang Emmanouilidis zufolge Europas rechten Kräften am Ende sogar schaden. Diese hätten die deutsche Kanzlerin – in der Migrations- und auch der Austeritätspolitik – zum Sündenbock gemacht. „Man hat argumentiert, dass die Bundeskanzlerin uns zu Dingen zwingt, die wir nicht tun wollen (etwa die Aufnahme von Flüchtlingen, Anm.). Damit hat man auch versucht auf nationaler Ebene zu punkten“, so Emmanouilidis.

Nicht nur für Europa an sich besteht ein Machtvakuum, sondern auch im Außenverhältnis – konkreter dem transatlantischen Verhältnis. Der Wandel, den die USA unter Trump durchmachen, wirkt sich auch auf die Beziehungen mit der EU aus – was sich im Streit um Zölle und die Iran-Sanktionen der USA zeigt. „Das Gegengewicht zu Donald Trump war nicht eine Person“, sagt Emmanouilidis mit Blick auf Merkels Rolle. Europa sei „dann stark, wenn man in der Lage ist, mit einer Stimme zu sprechen“.

Immer wieder scharfe Kritik von Trump

Das Weiße Haus hatte Merkels Entscheidung zuletzt als „interne Angelegenheit für die Kanzlerin und das deutsche Volk“ bewertet. Sprecherin Sarah Sanders kündigte am Montag in Washington an, dass die Regierung unter Trump weiter mit Merkel zusammenarbeiten und „diese Beziehung fortentwickeln“ wolle. Näher äußerte sie sich zu der Entscheidung Merkels nicht.

Trump hatte Merkel und die deutsche Regierung in der Vergangenheit immer wieder hart kritisiert, unter anderem wegen der deutschen Flüchtlingspolitik, der aus seiner Sicht „unfairen“ Handelsbeziehungen sowie der zu niedrigen Verteidigungsausgaben. In den vergangenen Monaten kritisierte er auch die geplante Pipeline „Nord Stream 2“ für Gaslieferungen aus Russland nach Deutschland.