„Ein effektiver Grenzschutz kann nicht bedeuten, unsere Werte herauszufordern“, sagte Tusk in Helsinki. „Wenn du gegen Rechtsstaat und unabhängige Justiz bist, dann bist du kein Christdemokrat.“ Unter starkem Applaus der Delegierten geißelte Tusk auch Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, die Freundschaft mit Russlands Präsident Wladimir Putin gegen die Ukraine sowie die Tendenz, „die Nation über das Individuum“ zu stellen, als mit dem Status eines Christdemokraten unvereinbar.
„Niemand, zumindest nicht in unserer politischen Familie, hat das Recht, die liberale Demokratie und ihre Grundlagen anzugreifen“, sagte Tusk. „Der effektive Schutz der Grenzen und der Identität kann nicht bedeuten, dass unsere Werte herausgefordert werden.“
Juncker: „Müssen um Demokratie kämpfen“
Ohne Orban ein einziges Mal namentlich zu nennen, trat der polnische Ex-Premier auch Orbans Argumentation entgegen, dass die EVP nur dann siegreich sein werde, wenn sie auf die von ihm vertretene Politik einschwenke. „Bei dieser Wahl geht es nicht um Vorteile und Jobs, sondern um die Verteidigung unserer Werte“, sagte Tusk. Ein auf Kosten dieser Werte erzielter Sieg sei wertlos, mahnte er.
Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bekannte sich in seiner Rede zur Rechtsstaatlichkeit. „Wir müssen zu unseren Werten stehen“, sagte er. Die Verteidigung des Rechtsstaates sei „eine tagtägliche Aufgabe“. „Es gibt keine Demokratie ohne Respekt für den Rechtsstaat und Pressefreiheit. Wir müssen dafür kämpfen.“
Fast 80 Prozent für Weber
Die EVP war in Helsinki zur Kür ihres Spitzenkandidaten für die EU-Wahl im Mai nächsten Jahres zusammengekommen. Dabei setzte sich der Favorit durch: Der CSU-Politiker Manfred Weber erhielt fast 80 Prozent der Delegiertenstimmen. Sein Herausforderer, der ehemalige finnische Regierungschef Alexander Stubb, hatte vergeblich gehofft, die Wahlberechtigten bei der geheimen Abstimmung auf seine Seite ziehen zu können. Die EVP-Spitze hatte den Bayern unterstützt, ebenso die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
Weber, seit vier Jahren EVP-Fraktionschef und seit 14 Jahren Europaabgeordneter, galt als klarer Favorit für die Wahl zum Spitzenkandidaten. Er genießt den Ruf eines Vermittlers sowohl in der EVP als auch zwischen den Fraktionen im Europäischen Parlament.
Bundeskanzler Kurz lobte ihn in einer Aussendung als „leidenschaftlichen Europäer“, der die Kraft und den Mut habe, „notwendige Veränderungen anzugehen“. Das habe er bereits „bei vielen Themen und auch bei der Migrationsfrage auf europäischer Ebene immer wieder bewiesen“.
EVP kürt Weber zum Spitzenkandidaten für EU-Wahl
Nach seiner Kür zum Spitzenkandidaten der EVP hat Manfred Weber die allerbesten Chancen auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. Warum das so ist, berichtet ORF-Korrespondent Tim Cupal aus Helsinki.
„Der Wahlkampf beginnt hier in Helsinki“, sagte Weber nach Bekanntgabe des Ergebnisses. „Wir sind Brückenbauer, wir müssen dieses Momentum nutzen, dann werden wir im Mai 2019 gewinnen.“ Merkel begrüßte die Entscheidung und unterstützte zugleich Webers Anspruch, nach der Europawahl auch EU-Kommissionspräsident zu werden. Zuvor hatten etliche Redner mit Blick auf das Erstarken von Populisten appelliert, im Wahlkampf wieder verstärkt Werte zu betonen.
Merkel-Appell für Zusammenarbeit
Merkel warb eindringlich für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Noch mangle es an Einigkeit etwa gegenüber Russland, den USA und China, sagte sie in Helsinki. Das müsse sich ändern – „ansonsten werden uns die Menschen in Europa nicht ernst nehmen“.
Es war Merkels erster Auftritt vor der EVP seit der Ankündigung ihres Rückzugs als CDU-Vorsitzende. Die Delegierten begrüßten sie mit stürmischem und langanhaltendem Beifall. Merkel erinnerte an die Verhandlungen über einen Waffenstillstand nach dem Ersten Weltkrieg im November 1918, aber auch an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. „Die Verantwortung meines Landes wiegt bis heute schwer“, sagte sie.
Nach 70 Jahren Frieden und Freiheit stehe Europa heute vor großen Herausforderungen, auch bei der Europawahl im Mai 2019. „Es wird ganz besonders um Einstellungen und Haltungen gehen.“ Dabei werde sich zeigen, „ob wir wirklich aus der Geschichte gelernt haben“, sagte sie. „Wir wissen, dass Nationalismus schlussendlich zum Krieg führt.“