Zerstörte Synagoge in Wien
picturedesk.com/Imagno
Novemberpogrom

Medien als willfährige Helfer des Terrors

In der Nacht auf den 10. November 1938 mündete die Diskriminierung der Jüdinnen und Juden in offene Verfolgung, Terror und Entrechtung. In einer als „spontaner Volkszorn“ verbrämten Terroraktion rief das NS-Regime zur Menschenjagd auf. Das Pogrom war von langer Hand geplant. Maßgeblich beteiligt an Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung des Terrors waren die Medien.

Falls jemand noch an der Gewaltbereitschaft des Nationalsozialismus gezweifelt hatte, mussten diese Zweifel am Vormittag des 10. November endgültig ausgeräumt sein. In den späten Nacht- und frühen Morgenstunden hatten Nazi-Trupps im gesamten „Deutschen Reich“ damit begonnen, Synagogen und Bethäuser in Brand zu stecken. Sie demolierten jüdische Geschäfte und überfielen Jüdinnen und Juden in deren Wohnungen. Es war der Anfang einer tagelangen Welle von Gewalt und Terror – und Vorzeichen einer Verfolgung, die mit der Ermordung von Millionen endete.

„Reichskristallnacht“ nannte der Volksmund den Gewaltausbruch in den November-Tagen 1938. Als Sarkasmus der Betroffenen erklären den Begriff die einen, als Verharmlosung kritisieren ihn andere. Faktisch falsch ist er auf jeden Fall. Denn mit Tagesbeginn endete der Terror nicht, seine Intensität nahm sogar noch zu. „Entscheidend losgegangen“ sei die Gewalt erst nach dem Ende der Nacht, sagt der Wiener Historiker Gerhard Botz im Gespräch mit ORF.at. „Die Pogromzustände haben am Tag stattgefunden. Das war alles sichtbar.“

Willkommener Anlass für geplante Gewalt

Seit Monaten hatte das Nazi-Regime im Herbst 1938 auf eine Gelegenheit für ein gewaltsames Vorgehen gegen die Juden in Deutschland gewartet. Am 7. November lieferte der 17-jährige Herschel Grynszpan schließlich den willkommenen Anlass. Er schoss in der deutschen Botschaft in Paris auf den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath. Grynszpan wollte damit gegen die gewaltsame Abschiebung seiner Eltern und Tausender weiterer staatenlos gewordener polnischstämmiger Juden nach Polen protestieren. Die meisten von ihnen waren im Niemandsland zwischen den beiden Staaten gestrandet.

Ein Mann vor einem zerstörten jüdischen Geschäft in Berlin am 10. November 1938
AP
Der Gewaltausbruch war vom NS-Regime lange geplant worden

Die NS-Führung nutzte das Attentat umgehend für die eigenen Pläne: Noch am Krankenbett wurde vom Rath zum Gesandtschaftsrat Erster Klasse befördert. Das Regime machte aus dem Beamten auf Probezeit einen Spitzendiplomaten. Am Abend des 9. November – und damit genau 15 Jahre nach dem gescheiterten Putschversuch der Nationalsozialisten – erlag er seinen Verletzungen. Nur Stunden später kam aus Berlin der Befehl zum Gewalteinsatz.

Attentat auf allen Titelseiten

Zu diesem Zeitpunkt war der mediale Erregungspegel bereits sukzessive nach oben gefahren worden. Der Kommunikationshistoriker Fritz Hausjell spricht gegenüber ORF.at von einer „Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung des Novemberpogroms“ durch die Medien.

Am 8. November dominierte die Nachricht über das Attentat in der deutschen Botschaft die Titelseiten im „Deutschen Reich“. Das gilt auch für die in Wien erscheinenden Zeitungen: „Feiger Mordanschlag eines Juden“ stand auf der ersten Seite des „Kleinen Volksblatts“. Die „Kronen Zeitung“ schrieb auf ihrem Titelblatt von einem „Meuchelmordversuch“ eines „polnischen Juden“. „Hinterlistiger jüdischer Mordanschlag“ titelte die Wiener Ausgabe des „Völkischen Beobachters“.

Zufall war das keiner. Die Medien waren bereits im gesamten Nazi-Reich gleichgeschaltet. In täglichen „Pressekonferenzen“ instruierte das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda einen ausgewählten Kreis. Darüber hinaus ergingen an die Redaktionen schriftliche Anweisungen. Journalisten, im „Dritten Reich“ Schriftleiter genannt, die als besonders verlässlich galten, bekamen noch „vertrauliche Informationen“. Die „mussten nach Gebrauch auch vernichtet werden“, sagt Hausjell.

Soll übererfüllt

Die Kontrolle betraf nicht nur Berichte. Auch Inhalt und Linie der Kommentare wurde vorgegeben. Einer Übererfüllung des Solls stand freilich niemand im Weg. Sogar Zeitungen, „wo man es vom sonstigen Duktus her nicht erwartet hätte“, seien in ihren Kommentaren „besonders aggressiv“ gewesen, sagt Hausjell.

So brachte etwa die „Wiener Zeitung“ am 8. November auf der Titelseite nicht nur das Attentat auf vom Rath, sondern auch gleich einen mit „Jüdische Unterwelt“ übertitelten Kommentar. „Das Maß ist jetzt voll. Und die Juden werden das entsprechend zu spüren bekommen. Wir sind überzeugt, dass wir bei unserem Abwehrkampf gegen die Pest der jüdischen Unterwelt einer wahren Kulturmission gerecht werden“, ist darin unter anderem zu lesen.

Das entsprach ganz der Anweisung, die am 7. November in allen Zeitungsredaktionen eingelangt war: „In eigenen Kommentaren ist darauf hinzuweisen, dass das Attentat des Juden schwerste Folgen für die Juden in Deutschland haben muss“, war eine der darin aufgezählten Forderungen. Die Verwendung von Wörtern wie „Pest“ und „Abwehrkampf“ schrieb die Order nicht dezidiert vor.

„Besonders garstig und entsetzlich“

Warum Journalisten in Österreich teils „besonders garstig und entsetzlich“ schrieben, lasse sich in der Rückschau nur schwer beantworten, sagt Hausjell. Mit Sicherheit habe es bereits vor dem Machtergreifung der Nazis in Österreich einen ausgeprägten Antisemitismus gegeben. Nach dem März 1938 hätten sich dann einige „Leute schlicht ausgetobt“. Manche hätten womöglich auch versucht zu beweisen, dass sie hundertprozentig vom Regime überzeugt sind, vermutet der Medienhistoriker. Im November 1938 lief bei vielen Journalisten noch die Überprüfungen der Reichspressekammer auf ihre politische Zuverlässigkeit.

Dazu kommt, dass die Wiener Zeitungslandschaft bis zum Herbst 1938 stark dezimiert worden war. Das Subventionsverbot für die Presse habe zu einem Kahlschlag geführt, so Hausjell. „Da verschwinden dann viele Zeitungen von der Bildfläche.“ Das sollte auch Platz für die neu gegründeten Gauzeitungen und jene Blätter schaffen, die sich inzwischen ganz im Besitz der NSDAP befinden. Die „Wiener Zeitung“ stand noch einmal besonders unter Druck. Der Wiener Ableger des „Völkischen Beobachters“ hatte ein Auge auf die amtlichen Verlautbarungen der „Wiener Zeitung“ geworfen.

Buchcover von „Nationalsozialismus in Wien“ von Gerhard Botz
Mandelbaum-Verlag
Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung, Kriegsvorbereitung. 1938/39. Mandelbaum Verlag, 728 Seiten, 34,00 Euro.

Kriminalisierung als Ziel

Nicht erst in den Tagen vor dem Pogrom schrieben die Zeitungen flächendeckend gegen die Juden in Deutschland an. Auf deren angebliche Kriminalität, wurde verwiesen, wo es nur möglich war. Jede kleine Straftat, die sich mit jüdischen Bürgern in Verbindung bringen ließ, wurde medial breit ausgewälzt. In der letzten Oktober-Woche berichteten die Zeitungen blattübergreifend und groß über einen Überfall auf eine deutsche Reisegruppe in Antwerpen. Die mutmaßlichen Täter sollen passenderweise Juden gewesen sein.

Am 9. November hob die „Wiener Zeitung“ noch einen Bericht über „umfangreiche Waffenfunde bei Berliner Juden“ auf das Titelblatt. Direkt darüber war in einer kurzen Meldung von „spontanen Demonstrationen der Bevölkerung in Kurhessen gegen Juden“ zu lesen. Laut Hausjell kam auch hier aus Berlin die Order, die Meldung auf die Titelseite zu heben.

Opfer und Gewalt verschwiegen

So sehr die Zeitungen den Gewaltausbruch eingetrommelt hatten, so marginal fiel die Berichterstattung über die eigentlichen Gräueltaten aus. Im gesamten „Deutschen Reich“ wurden Tausende jüdische Geschäfte demoliert und geplündert. Jüdinnen und Juden wurden aus ihren Wohnungen geschleppt, gedemütigt und misshandelt. An die 30.000 Menschen verhaftete der NS-Terror-Apparat, die meisten wurden in Konzentrationslager verschleppt. Für Wien allein ist die Deportation von 4.000 Juden ins KZ Dachau belegt. Offiziell kamen 91 Menschen ums Leben – tatsächlich dürfte die Zahl der Ermordeten deutlich höher liegen. Nur für Österreich geht Historiker Botz nach der Durchsicht der Wiener Totenverzeichnissen von 20 bis 30 ermordeten Juden aus.

Feuerwehr vor der jüdischen Synagoge in der Fasanenstraße in Berlin am 10. November 1938
AP
Fotos von den Gewaltexzessen gibt es praktisch keine. Auf den wenigen Bildern sind vor allem Löscheinsätze zu sehen.

Davon war in den Zeitungen nichts zu lesen. In den überregionalen Medien fand sich laut Hausjell überhaupt nichts zu konkreten Ausschreitungen. Hier hatte das Regime die Weltpolitik im Auge. In den regionalen Zeitungen sei schon ein bisschen berichtet worden, um das „Bedürfnis der Bevölkerung zufriedenzustellen“, sagt Hausjell. Der „Völkische Beobachter“ habe „schon geschönte Berichte gebracht. Die haben das unübersehbare Zerstörungswerk benennen, beschreiben müssen“, stellt auch Botz fest.

Propaganda gegen das Mitleid

Traurige Berühmtheit erlangte die Radioreportage von Eldon Walli, aufgenommen am 10. November vor den Trümmern der Synagoge in der Wiener Leopoldstadt. Der Reporter freut sich über die Zerstörung, verhöhnt die Juden und gibt ihnen selbst die Schuld an der Gewalt. In seinem Zynismus mag der Radiobeitrag noch einmal hervorstechen. In seiner Argumentation ist er für Hausjell aber „nichts Außergewöhnliches“.

Zum einen sei es der Propagandastrategie darum gegangen, nur ja kein Mitleid mit den Juden aufkommen zu lassen. Zum anderen hätten die Medien erklärt, „den Juden geschieht ja nichts, sie werden eh ordentlich behandelt“, sagt der Medienhistoriker. Schnell waren auch Verweise auf Vorfälle anderswo in der Welt bei der Hand. Staaten, die Kritik an der Gewalt im „Deutschen Reich“ übten, wurden als Heuchler gebrandmarkt. In „Sammelmeldungen“ stellten die Zeitungen per Presseanweisung antisemitische Vorfälle aus der ganzen Welt zusammen.

Hausjell spricht von einer „Phase der Nachbearbeitung, die erstaunlich lange, mehrere Wochen lang anhält und fließend übergeht in die weiteren Schritte der systematischen Entrechtung“. Bereits am 11. November hatten alle Zeitungen den Erlass von Joseph Goebbels abgedruckt. Darin rief der Propagandminister zu einem Ende der Ausschreitungen auf und kündigte an: „Die endgültige Antwort auf das Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebung bzw. der Verordnung dem Judentum erteilt werden.“ Drei Jahre später begann der systematische Massenmord an Europas Juden.