Susanne Altschul im ORF.at-Interview
ORF.at/Carina Kainz
Interview

„Es hing immer an einem seidenen Faden“

Der österreichische Publizist Heinz Altschul (1920–2011) ist nach dem „Anschluss“ 1938 aus Wien nach London geflüchtet und von dort als „feindlicher Ausländer“ nach Australien deportiert worden. Seine Tochter, die Wiener Schauspielerin Susanne Altschul, hat mit ORF.at über das Leben ihres Vaters gesprochen.

ORF.at: Frau Altschul, Ihr Vater hatte eine unbeschreiblich wechselhafte Lebensgeschichte. Können Sie diese umreißen?

Altschul: Mein Vater ist in Wien aufgewachsen und hat bereits mit 15 oder 16, also nach dem Jahr 1934 (Machtergreifung der Austrofaschisten, Anm.), angefangen, sich politisch zu betätigen. Teilweise war er bei den Roten Falken, also der sozialistischen Jugendorganisation, teilweise bei der kommunistischen Jugend. Da haben sie Flugblätter gemacht, demonstriert, all diese Dinge.

Er hat sich politisch bereits als Jugendlicher sehr engagiert und wurde dann 1938 in Haft genommen. Daraufhin hat er nicht mehr zu Hause geschlafen, sondern nur mehr bei Freunden, und ihm wurde schnell klar, dass er aus Österreich wegmuss. Außerdem war er Jude – Jude und Kommunist, das war zu viel.

Foto aus dem Jahr 1944 zeigt Heinz Altschul mit seiner späteren Frau Elisabeth
Österreichischer Nationalfonds/ORF.at (Repro)
Heinz Altschul lebte nach seiner Flucht vor den Nazis und der Deportation von 1939 bis 1946 in Australien

Er hat dann von seinem besten Freund dessen tschechischen Pass mit seinem Bild darin bekommen. Anschließend ist er mit dem falschen Pass nach Prag gegangen, wobei er auf einen Schulkameraden gestoßen ist, der bei der SS war. Dieser hat zu ihm gesagt: „Ich verschaff dir ein Ausreisepapier.“ Dieses hat er auch gebracht. Allerdings war er nicht sicher, ob der Schulkamerad sein Versprechen einhalten würde. Er hätte ihn ja auch verraten können. Er hat ihm aber den Pass ausgehändigt, weil der Schulkamerad diesen für das Ausreisepapier gebraucht hat. Der ist am nächsten Tag tatsächlich mit dem Papier erschienen.

Mein Vater ist dann über die Tschechoslowakei nach London geflogen, dort musste er sich allerdings zu erkennen geben, weil sein Freund, von dem er den Pass hatte, auch wegmusste. Sie konnten ja nicht unter dem gleichen Namen dort leben. Er musste zur Polizei gehen, wurde sofort ins Gefängnis gebracht, und eine Rückführung wurde beantragt. Diese wurde aber durch ein Komitee, das junge geflohene Österreicher betreute, rückgängig gemacht. Er konnte dann in London bleiben.

ORF.at: Wie erging es Ihrem Vater in Großbritannien?

Altschul: Nach dem Ausbruch des Krieges 1939 wurden Österreicher und Deutschen in Großbritannien interniert, ob sie Nazis, Juden oder was auch immer waren. Sie waren dann „ausländische Feinde“, also „enemy aliens“. Auch mein Vater wurde interniert und anschließend deportiert. Die Briten stellten ihm und den anderen dann die Frage, ob er nach Kanada oder nach Australien „will“. Alle, die sich für Kanada entschieden, kamen nach Australien und umgekehrt – so auch mein Vater. Das war, weil die Engländer immer in Sorge waren, dass sich Spitzel unter den Deportierten befinden könnten.

Australisches Armeezertifikat von Heinz Altschul
Österreichischer Nationalfonds/ORF.at (Repro)
Altschuls Entlassungsdokument aus der australischen Armee

Mein Vater wurde dann mit dem Schiff „Dunera“ weggebracht, über das später auch ein Buch namens „The Dunera Scandal“ erschienen ist. Auf dem Schiff herrschte reines Chaos. Platz war für 800 Leute, an Bord waren aber 2.500, und diese wurden von der Besatzung sehr schlecht behandelt. Die Menschen mussten über Glasscherben laufen, man hat ihr gesamtes Gepäck über Bord geworfen, und sie kamen mit nichts, außer dem was sie anhatten, in Australien an.

Die britische Regierung hat sich für diesen Skandal sehr geschämt, und den Passagieren wurde später alles ersetzt. Woraufhin natürlich viele gesagt haben: „Ich habe einen Brillantring von meinem Vater, meiner Mutter, was auch immer ‚mitgehabt‘.“ Mein Vater hat brav gesagt: „Drei Paar Socken, zwei Unterhosen, drei Hemden“, und er hat zwei Pfund irgendwas bekommen. Es hat ja keiner geglaubt, dass sie das wirklich erstattet bekommen würden.

ORF.at.: In Australien wurden die meisten Passagiere der „Dunera“ anschließend interniert.

Altschul: So auch mein Vater. Aber nach einem Jahr wurde ihm freigestellt, ob er in die australische Armee gehen wolle. Das war für meinen Vater ganz klar, weil in dem Sinn konnte er ja auch gegen den Faschismus kämpfen. Aber sie durften nicht an die Front, sondern waren eher in der Versorgung tätig. „Durften“ unter Anführungszeichen … Gott sei Dank wahrscheinlich. Und so blieb er dann bis Ende des Krieges, beziehungsweise bis 1946, in Australien.

Dort hat er sich natürlich auch politisch engagiert, hat von Österreich und was der „Anschluss“ bedeutet hat, erzählt. Er hat andere Menschen getroffen, schließlich auch meine Mutter kennengelernt und sie dort geheiratet. Meine Mutter erklärte sich bereit dazu, mit ihm in das zerbombte Wien zurückzukehren. Denn für meinen Vater war es nie eine Überlegung, in Australien zu bleiben. Er wollte auf jeden Fall zurück nach Österreich. Wo auch seine Eltern im KZ umgekommen sind.

Er ist jedenfalls zurück nach Wien, hat sich dort auch sofort wieder am Aufbau beteiligt und für die Demokratie Österreichs eingesetzt. Er war bis 1968 in der Kommunistischen Partei tätig, bis ihn dann nach dem Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei die Zweifel übermannt haben. Danach ist er ausgestiegen. Anschließend war er in der APA jahrelang Redakteur beziehungsweise stellvertretender Chefredakteur.

Exil in Australien: Susanne Altschul über die Geschichte ihres Vaters

Als Kommunist und Jude musste der Publizist Heinz Altschul 1938 aus Wien flüchten. Über Umwege landete er in Australien. Seine Tochter Susanne Altschul über das bewegte Leben ihres Vaters.

ORF.at: Im Gegensatz zu den meisten anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im „Erinnerungen. Exil in Australien“-Band kam Ihr Vater unter direktem Zwang nach Australien. Wie hat das seinen Blick auf das Land geprägt?

Altschul: Das ist eine interessante Frage. Ich denke, dadurch, dass er Kontakt zu australischen Menschen hatte, zum Teil ja auch zu politisch Engagierten, und diese viel diskutiert haben, es durchaus ein interessantes Land war. Aber viele seiner Kollegen haben gesagt: „Wir gehen nicht zurück, wir bleiben hier.“ Das kam für meinen Vater irgendwie überhaupt nicht infrage.

Ich bin dann 1989 das erste Mal nach Australien gefahren, weil ich natürlich unbedingt das Land meiner Mutter kennenlernen wollte und wir ja auch noch Verwandte dort hatten bzw. haben, und muss sagen: Das ist ein großartiges Land! Als ich zurückgekommen bin, habe ich dann natürlich gefragt: „Wieso seid ihr nicht dort geblieben? So ein schönes Land!“ Er hat aber nicht viel erzählt, und ich weiß auch gar nicht, wie sehr er sich auf Australien eingelassen hat. Ich muss sagen, ich habe mir Australien dann selbst geholt.

Aber ich denke, dass meine Mutter in Europa nicht unglücklich war, weil es doch auch einen anderen kulturellen Background hat als Australien. Ich denke, das war mit ein Grund, warum sie dann doch immer in Europa geblieben ist. Unter anderem … natürlich auch wegen ihres Mannes und ihrer Kinder. Für die Eltern meiner Mutter, die sehr bürgerlich und „british“ waren, war das wahrscheinlich nicht sehr lustig, dass meine Mutter, die eine richtige Intellektuelle und politisch interessiert war, mit einem Kommunisten und Juden in das zerbombte Wien gegangen ist.

Exil in Australien: „Man vergisst, wie jung sie alle waren“

Über die Flucht in jungen Jahren, die Sorgen der Familien und die Heimat in der Ferne.

ORF.at: Ihr Vater war in Australien trotz seiner Internierung und der Zeit in der Armee politisch höchst aktiv. Wie hat er dabei gearbeitet und die Bande nach Österreich aufrechterhalten?

Er war viel mit Kollegen beisammen, die auch aus Österreich waren. Unter anderem hat mein Vater Klavier gespielt, sie haben Wiener Lieder gesungen. Ich glaube, das ist klar: Wenn man so weit weg ist von der Heimat, hält man besonders zu den Leuten Kontakt, die dieselbe Heimat haben. Und ich nehme an, sie werden auch Dialekt gesprochen haben, um sich ein bisschen mehr wie zu Hause zu fühlen.

Aber man darf ja auch nicht vergessen – und ich vergesse das sehr oft –, wie jung die alle waren. Wie mein Vater aus Österreich geflüchtet ist, war er noch nicht einmal 18! Wenn ich mir vorstelle, mein Sohn muss mit 18 weg! Abgesehen davon wussten ja auch seine Eltern nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen werden. Er wusste es ebenso nicht. Das muss eine sehr große Belastung gewesen sein.

Aber mein Vater war ein Mensch, der vieles von seiner humorvollen Seite gesehen hat. Die Geschichten, die er uns erzählt hat, waren immer von Humor geprägt. Er hat hauptsächlich von den komischen Seiten erzählt. Etwa, dass sie in den Streik getreten sind, weil sie jeden Tag in der Früh Steak bekommen haben. Und die wirklich dunklen Seiten, die natürlich da waren, hat er eher nicht so berührt. Das haben wir uns selbst zusammengefügt.

Über die vielen Seiten des Exils in Australien

„Ich weiß gar nicht, wie sehr er sich eingelassen hat auf dieses Land“

ORF.at: Wie hat Ihr Vater den Krieg an sich erlebt? Immerhin hatte er die Perspektive vom anderen Ende der Welt.

Altschul: Klarerweise hatten die eine andere Front, nämlich gegen Japan. Aber ich denke, dass die Nachrichten auch bis nach Australien gekommen sind. Ich habe nach dem Tod meines Vaters ein kleines Büchlein gefunden, ein Tagebuch. In diesem Buch, und das war wieder irgendwie typisch mein Vater, kam nicht ein privates Wort vor. Es war ein Tagebuch, das die jeweilige Situation des Krieges beleuchtet hat. Das hat er alles minutiös aufgeschrieben, wie eine Doktorarbeit.

Er hat sich seine Informationen durchaus zusammengeholt, auch durch Zeitungen, Rundfunk und so weiter, und das hat ihn natürlich brennend interessiert, wie die ganze Situation in Europa ist. Das hat er minutiös aufgeschrieben. Aber ich war eben sehr verblüfft, dass in diesem Buch nichts Privates vorgekommen ist. Das zeigt wieder, was für ein unglaublich politisch interessierter Mensch mein Vater war, und eben, um darauf wieder zurückzukommen, das auch der Auslöser für ihn war, zurück nach Österreich zu gehen.

ORF.at: Wenn Sie aus dem Blick der zweiten Generation die Lebensgeschichte Ihres Vaters und die anderer nach Australien Geflüchteter betrachten, zu welchem Resümee kommen Sie?

Altschul: Zu welchem Resümee ich komme, ist eigentlich klar: Der Nationalsozialismus war eine Katastrophe. Ich wurde schon sehr jung damit konfrontiert. Aber das hat mich natürlich auch sehr geprägt und geschockt, weil man ja eigentlich gar nicht nachvollziehen kann, was da passiert ist. Mein Vater hat unter schwierigen Umständen überlebt, und es hing immer an einem seidenen Faden. Er hätte auch jederzeit auf der Flucht, vor der Flucht auffliegen können. Ich verdanke seiner Flucht mein Leben, wenn man das so will.

Exil in Australien: Ein Resümee

Über die Konsequenzen der Flucht und das unsichere Schicksal

Für mich zeigt sich, wie nahe Glück und Unglück nebeneinanderliegen. Das ist immer so, aber in so extremen Zeiten noch viel mehr. Es zeigt auch, dass Menschen nicht freiwillig die Flucht ergreifen, was wir uns auch heute immer wieder ins Gedächtnis rufen sollten.