Die britische Premier-Ministerin Theresa May
Reuters/Toby Melville
„Brexit“-Deal

May muss Kabinett auf Linie bringen

Die Unterhändler der EU und Großbritanniens haben sich auf einen Entwurf für ein EU-Austrittsabkommen geeinigt. Die Übereinkunft ist aber nur der erste Schritt. Dringend braucht die britische Premierministerin Theresa May nun die Zustimmung ihrer Regierung. Den ganzen Mittwoch schon versucht sie, die Skeptiker in den eigenen Reihen überzeugen.

Britische Medien sprechen bereits von einem „Showdown“: Am Nachmittag kam das Kabinett zusammen, um über den Entwurf für den Ausstiegsvertrag zu beraten. Bereits seit dem Vormittag empfing May die Kabinettsmitglieder einzeln in Downing Street 10. Vor allem die „Brexit“-Befürworterinnen und -Befürworter in Mays Regierung stellten sich bis zuletzt gegen die von der EU in den Verhandlungen vorgebrachten Vorschläge. Im Raum standen am Mittwoch auch mögliche Rücktritte.

Um 19.00 Uhr will May ihrem Dienstsitz in der Londoner Downing Street eine Erklärung abgeben. Zu Beginn wurde die Erklärung für 18.00 Uhr angekündigt. Britische Medien erwarteten hingegen eine Verschiebung auf mindestens 20.00 Uhr.

Der Text, auf den sich am Dienstag die Verhandler Großbritanniens und der EU verständigt haben, sieht unter anderem eine Lösung der schwierigen Irland-Grenzfrage vor. So soll eine harte Grenze zwischen der zur EU gehörenden Republik Irland und dem britischen Nordirland vermieden werden, indem Großbritannien zeitlich befristet in der Zollunion und Nordirland auch weitgehend auf dem Binnenmarkt verankert bleibt. Bis zu einem neuen Freihandelsabkommen soll eine 21-monatige Übergangsfrist gelten, in der Großbritannien nicht mehr in den EU-Institutionen vertreten ist, aber wie ein Mitglied weiterhin alle Verpflichtungen erfüllen muss. Genau das lehnen die „Brexit“-Hardliner innerhalb der Torys aber ab.

25. November als möglicher Gipfeltermin

Sollte es May nicht gelingen, ihr Kabinett hinter dem Vetragsentwurf zu vereinen, könnte dies das politische Ende der ohnehin bereits geschwächten Premierministerin bedeuten. Schafft sie es, am Mittwoch eine Einigung in den eigenen Reihen herbeizuführen, hat sie zumindest etwas Zeit gewonnen. Dann steht als Nächstes erst einmal ein EU-Sondergipfel an.

Als mögliches Datum dafür wird in Brüssel inzwischen der 25. November genannt. Sollte das britische Kabinett den Text der Verhandler billigen, könnte ein Gipfel bis zu diesem Datum auf Schiene gebracht werden, hieß es in Ratskreisen in Brüssel. Ein „Brexit“-Sondergipfel müsste von EU-Ratspräsident Donald Tusk einberufen werden. Das ursprünglich genannte Datum für einen solchen Sondergipfel, der 17. bzw. 18. November, ist nach Angaben von Diplomaten mittlerweile nicht mehr wahrscheinlich.

Gegenwind aus eigener Partei

Vor der Sitzung des Kabinetts warb May noch einmal für den Text. Die Einigung erfülle das Votum des britischen Volkes, sagte May mit Blick auf das Referendum von 2016. „Wir werden beim ‚Brexit‘ liefern“, so May. Eine zweite Volksabstimmung schloss sie erneut aus.

Ihr schlug aber Gegenwind aus der eigenen Partei entgegen. Konservative Abgeordnete riefen Kabinettsmitglieder auf, den Entwurf abzulehnen, und drohten mit einer Blockade im Parlament. Die Kritikerinnen und Kritiker des „Brexit“-Entwurfs sagen, dieser enthalte für Großbritannien inakzeptable Kompromisse. Die wegen der Differenzen über den „Brexit“ im Juli zurückgetretenen Ex-Minister Boris Johnson und David Davis riefen Kabinettsmitglieder und Parlamentarier zu einem Nein auf.

EU-Kommission will keine Einzelheiten nennen

Die EU-Kommission wollte die am Dienstagabend in London verkündete Einigung in den „Brexit“-Verhandlungen nicht kommentieren. Die „Verhandler der EU und Großbritanniens“ hätten in den vergangenen Tagen „intensiv an einer Einigung über die Elemente eines Austrittsabkommens und die Grundzüge eines politischen Rahmens für die zukünftigen Beziehungen“ zwischen der Union und Großbritannien gearbeitet, sagte ein Sprecher in Brüssel.

Am Dienstag habe EU-Chefverhandler Michel Barnier die Mitglieder der Kommission in Straßburg über die Verhandlungen informiert. „Wir nehmen nicht zu den verschiedenen Presseberichten der vergangenen 24 Stunden Stellung“, sagte der Sprecher weiter. Jedenfalls werde die Kommission, sollte es Klarheit geben, in den nächsten Tagen Stellung nehmen.

EU-Botschafter beraten in Brüssel

Am Nachmittag beraten – parallel zur britischen Regierung – auch die EU-Botschafter der 27 verbleibenden EU-Staaten unter österreichischem Vorsitz über den Text zur „Brexit“-Einigung. Das 500-seitige Dokument regelt neben der Irland-Grenzfrage etwa auch die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien und umgekehrt sowie die britischen Finanzschulden bei der EU in Höhe von etwa 45 Mrd. Euro. Der Austrittsvertrag wird von einer politischen Erklärung begleitet, die die Eckpunkte der künftigen Handelsbeziehungen klarmachen soll.

Schwierige Mehrheitssuche im Parlament

Eine Einigung muss spätestens im Dezember stehen, um die Ratifizierung durch die Parlamente auf beiden Seiten rechtzeitig vor dem „Brexit“-Datum zu ermöglichen. Die Zustimmung im britischen Parlament ist freilich noch einmal eine ganz andere Frage. Die Torys besitzen im Unterhaus keine Mehrheit. Mays Regierung baute bis jetzt auf die Unterstützung der nordirischen Unionisten (DUP). Die Protestantenpartei meldete am „Brexit“-Entwurf aber bereits ernsthafte Zweifel an.

Einigung in „Brexit“-Verhandlungen

Die Verhandlungsteams aus Brüssel und London haben sich am Dienstagabend auf den Text für das EU-Austrittsabkommen geeinigt. EU-Diplomaten warnen allerdings vor verfrühten Hoffnungen.

Das von May vorgeschlagene Abkommen könnte zum Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs führen, sagte der DUP-Abgeordnete Jeffrey Donaldson am Mittwoch dem Radiosender BBC. Das sei nichts, was die Partei unterstützen könnte. Der DUP-Hardliner Sammy Wilson teilte auf Twitter mit, die Partei werde nicht für diese „Demütigung“ stimmen.

Parteichefin Arlene Foster äußerte sich zurückhaltender und sprach davon, dass der Einigungstext „offenbar darauf hinausläuft“, dass Nordirland weiterhin an die EU-Regeln gebunden bleibe, um eine harte Grenze zu Irland zu vermeiden. „Es ist die Frage, ob wir die Union spalten, ob wir das Vereinigte Königreich in einer Art behandeln, die uns in Zukunft auseinanderdriften lässt, und als Anführerin der Unionisten in Nordirland werde ich dem nicht zustimmen“, sagte Foster dem Sender Sky News.

Opposition fordert Recht auf Vertragsänderung

Eine Ablehnung der DUP könnte es für May notwendig machen, sich der Opposition anzudienen, um deren Stimmen zu erhalten – mit fraglichen Aussichten. Die wichtigsten britischen Oppositionsparteien forderten am Dienstag ein Recht auf Vertragsänderung. Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte in einem gemeinsamen Brief mit den Chefs der Schottischen Nationalpartei und der Liberaldemokraten, dass vor der Abstimmung Modifizierungen der Einigung zugelassen werden sollten. Das wiederum schloss die Regierung in London bereits aus.

Ein Sprecher Corbyns kündigte an, die Partei wolle im Fall einer Ablehnung von Mays Plan „einen anderen, alternativen ‚Brexit‘-Plan“ präsentieren. Zugleich bekräftigte er die umstrittene Aussage Corbyns, wonach Labour den EU-Austritt nicht stoppen könne. „Das ist weder unsere Politik noch unsere Priorität, und wir haben auch nicht die Mittel, um das zu tun“, sagte er.

Sorge auch in Schottland

Auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon bezeichnete den Deal als „verheerend“ für ihre Region. „Das wäre die schlechteste aller möglichen Welten für Schottland“, sagte sie der BBC mit Blick auf den geplanten Sonderstatus für Nordirland. Wegen des Deals müsste Schottland den EU-Binnenmarkt verlassen, „was für sich allein schon schlimm genug ist“, sagte Sturgeon. „Aber zugleich müssten wir um Investitionen und Jobs mit Nordirland konkurrieren, das faktisch weiterhin im Binnenmarkt bliebe.“ Wenig überraschend kündigte der SNP-Fraktionschef im Londoner Unterhaus, Ian Blackford, ein Nein zu dem Deal an.

Österreichische Regierung hofft auf Deal

Bundespräsident Alexander Van der Bellen hofft, dass es im Tauziehen um den „Brexit“ zu einem tragfähigen Kompromiss kommt. „Natürlich würden wir uns freuen, wenn jetzt ein einigermaßen tragfähiges Ergebnis herauskäme während der österreichischen EU-Präsidentschaft“, sagte Van der Bellen gegenüber der APA. Aber nach jetzigem Stand „wissen wir es noch nicht“, so Van der Bellen. „Wir wissen noch nicht, wie das Kabinett in London entscheidet und wie dann das britische Parlament entscheidet“.

Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) hoffen, dass das „Brexit“-Abkommen in Großbritannien angenommen wird. „Ich halte das Ergebnis für ein gutes“, so Kurz am Mittwoch nach dem Ministerrat. Über Alternativen, sollte es keinen Beschluss in Großbritannien geben, wollte Kurz noch nicht spekulieren, warnte aber vor einem harten „Brexit“. Auch Strache hofft, dass das Abkommen unterstützt wird: „Die Hoffnung lebt, und wir gehen davon aus, dass das so stattfinden wird.“

Kurz bekräftigte, dass das „Brexit“-Abkommen zwischen der EU und Großbritannien bei einem Treffen der Staats- und Regierungschefs behandelt werden soll. Vorher solle es am Montag ein Ministertreffen der 27 verbleibenden EU-Staaten geben. Bedingung für die beiden Treffen sei die Zustimmung.