Ein Mann trägt zwei kleine US-Flaggen auf dem Kopf
Reuters/Carlos Garcia Rawlins
„Migrationskarawane“

Die doppelte Rolle der USA

Es ist der Traum von einem besseren Leben, der derzeit Tausende Menschen aus Honduras, El Salvador und Guatemala fliehen lässt. Zu finden hoffen sie es in den Vereinigten Staaten. Doch die zeigen sich alles andere als aufnahmebereit. Und das, obwohl sie, so Experten, maßgeblich Mitschuld an der Gewalt und Armut Lateinamerikas tragen.

Nach einer Tausende Kilometer langen Reise durch Mexiko hat Ende der Woche ein großer Teil der Migranten und Migrantinnen die Stadt Tijuana und somit den Grenzzaun zu den USA in erreicht. Laut Schätzungen der UNO haben sich bis zu 7.000 Menschen der „Migrationskarawane“ angeschlossen, andere Zahlen sprechen von bis zu 9.000. Sie kommen aus Honduras, El Salvador und Guatemala. Den ärmsten Ländern auf dem amerikanischen Kontinent – und den gefährlichsten der Welt. Jährlich überqueren rund 500.000 Menschen „ungesetzlich“, wie es vonseiten des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) heißt, die Grenze im Süden Mexikos.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Migranten und Migrantinnen aus Zentralamerika zu Fuß in Richtung USA aufbrechen. Angesichts der sich verschärfenden Krisen nimmt die Zahl der Fliehenden allerdings stetig zu. So waren Ende 2017 laut UNO weltweit rund 300.000 Menschen aus Mittelamerika als Flüchtlinge registriert – um 58 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Nur von venezolanischen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen wurden in dem Zeitraum noch mehr Anträge eingereicht.

Grafik zum Marsch durch Mittelamerika
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

„Karawane“ der Hoffnung

Das Besondere an der aktuellen Flüchtlingsbewegung ist, dass sich die Menschen gemeinsam auf den Weg machen, um so besser vor Bedrohungen krimineller Gruppen geschützt zu sein. Viele der Mittelamerikaner sind, wie Medien berichten, einem Aufruf in Sozialen Netzwerken gefolgt. In diesem hieß es: „Wir gehen nicht, weil wir wollen, sondern weil wir von Gewalt und Armut vertrieben werden.“

Tausende Menschen in einer Karawane Richtung USA
Reuters/Ueslei Marcelino
Tausende Menschen aus Mittelamerika fliehen vor Elend und Gewalt – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den USA

Gefährlichste Länder der Welt

Guatemala, El Salvador und Honduras zählen zu den gefährlichsten Ländern der Welt. Die Mordraten sind vier- bis achtmal höher als der Wert, ab dem die WHO von „epidemischen“ Mordraten spricht. Gewalt geht vor allem von den mächtigen Jugendbanden aus, die für ihre Brutalität berüchtigt sind und ganze Stadtviertel beherrschen. Die Einnahmequellen der mafiaähnlich organisierten Banden sind Morde, Schutzgelderpressungen, Entführungen, illegaler Waffen- und Drogenhandel sowie Migrantenschmuggel in die USA.

Die Banden rekrutieren ihren Nachwuchs häufig schon im Kindesalter. Wer nicht Mitglied werden will, wird selbst zum Opfer. Trotzdem beschloss die US-Regierung Anfang Juni im Zuge einer Verschärfung des Asylrechts, dass die in den Regionen vorherrschende Gewalt durch kriminelle Banden künftig nicht mehr als Asylgrund anerkannt wird. Mitte Oktober wurde die in Mittelamerika agierende Bande MS-13 von den Vereinigten Staaten allerdings als transnationale kriminelle Organisationen eingestuft.

Lateinamerika als billiger Rohstofflieferant

Neben der hohen Kriminalitäts- und Mordrate treiben aber auch Korruption, Menschenrechtsverletzungen und nicht zuletzt eine weit verbreitete Arbeitslosigkeit die Menschen in die Flucht. Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und Leiter der Forschungsgruppe Lateinamerika, führt gegenüber ORF.at die schlechte wirtschaftliche Lage des Subkontinents auf die eigene Misswirtschaft und Klientelismus in den Ländern zurück. Aber auch eine Integration in den Weltmarkt, für den ganz Lateinamerika weitgehend die Rolle des Lieferanten billiger Brennstoffe, Rohstoffe und Lebensmittel habe, spiele hierbei eine große Rolle.

Imperiale Lebensweise

In seiner Publikation „Imperiale Lebensweise“ macht der Globalisierungsforscher Ulrich Brand darauf aufmerksam, dass der westliche Wohlstand auf der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen in anderen Weltregionen basiert.

Brand bezeichnet das als imperiale Lebensweise in Zeiten eines globalen Kapitalismus. „Die rechten Regierungen vertiefen das noch und scheren sich nicht um Umverteilung“, erklärt der Globalisierungsforscher. Er sieht Lateinamerika in einer schwierigen Phase, da auch die „progressiven“ Regierungen Fehler gemacht hätten. Es wäre notwendig gewesen, Oligarchien zu schwächen und den Staat sowie die Wirtschaft umzubauen, meint der Politikwissenschaftler.

Folge neokolonialer Ausbeutung

Mitschuld an der derzeitigen Misere Lateinamerikas tragen daher auch die Vereinigten Staaten, zeigt sich Brand überzeugt. Im Rahmen der politischen Unabhängigkeit hätten die USA die zentralamerikanischen Staaten zu Neo-Kolonien gemacht. „Nicht umsonst spricht man von ‚Bananenrepubliken‘ – insbesondere der US-Konzern United Fruit Company waltete jahrzehntelang, wie er wollte“, sagt Brand und spricht von einer „langen Geschichte neokolonialer Ausbeutung“.

Flüchtlinge auf dem Weg in die USA
APA/AFP/Johan Ordonez
Besonders für die vielen Kinder ist der lange Marsch strapaziös – mit schuld an ihrer Lage sind laut Brand die USA

Ebenso hätte es immer wieder politische Interventionen seitens der US-Regierung geben, wenn dieser die Regierungen Lateinamerikas nicht gepasst hätten. Als Beispiele nennt er etwa den Sturz von Guatemalas Präsidenten Jacobo Arbenz im Jahr 1954, der durch die CIA unterstützt wurde, und 2009 den Putsch gegen den populären Präsidenten Manuek Zelaya in Honduras.

Auch für den Intellektuellen Noam Chomsky sind die Zerstörung, Brutalität und Armut in Zentralamerika direkte Folgen der US-Außenpolitik in dieser Region. Für Fluchtbewegungen treffe die USA deshalb eine besondere moralische Verantwortung, argumentiert der 89-Jährige in seinem neuen Buch „Kampf oder Untergang“. Es sei an der Zeit, dass die USA diese historischen Sünden wiedergutmachen. Geflüchtete, noch dazu aus Ländern mit großem indigenem Bevölkerungsanteil, unter humanen Bedingungen aufzunehmen, sei zumindest ein Anfang, so der prominenteste Kritiker der US-amerikanischen Politik.

„Illegale haben keine Rechte“

Die US-Regierung kündigte jedoch bereits an, den Fliehenden, die die Grenze in die USA illegal überschreiten, ein Asylverfahren zu verweigern. Angesichts der Tausenden Migranten und Migrantinnen befürchtet die mexikanische Regierung allerdings, dass es zu einem Vorfall kommen könnte, bei dem Menschen verletzt werden.

US-Präsident Donald Trump schürte besonders im Wahlkampf vor den Midterms die Angst vor den Einwanderern und überzeichnete die Lage stark. Etwa als er von einem „Angriff krimineller Drogenhändler, Raubtiere und Terroristen auf das Land“ sprach und wegen des „nationalen Notstands“ rund 6.000 Soldaten an die mexikanische Grenze beorderte. Nach der Wahl äußerte er sich jedoch kaum noch zu dem Thema.

Migranten in der Grenzstadt Tijuana
Reuters/Jorge Duenes
Geflüchteten, die die Grenze in die USA illegal überschreiten, soll laut Trump ein Asylverfahren verweigert werden

Ähnlich wie Trump sieht das der Geschäftsmann und Investor Jim Clayton. Er kritisierte auf der rechten Website Conservative Daily News, dass sich die Migranten und Migrantinnen nicht an US-amerikanisches Recht hielten und auf „legale“ Weise einen Asylantrag stellen müssten. „Illegale haben keine Rechte, sie haben keinen Anspruch auf Anhörungen und sollten unverzüglich abgeschoben werden. Die Verfassung wurde zum Schutz der amerikanischen Bürger und nicht der Eindringlinge verfasst.“ Zudem schrieb er: „Viele, die zu uns kommen, wollen sich gar nicht integrieren. Sie wollen, dass unser Land ihre Sprachen, Traditionen und Kulturen anerkennt.“

Parallelen zu Afrika und Europa

Trump kündigte zudem an, Entwicklungshilfen für Guatemala, Honduras und El Salvador zu streichen, da diese „nicht die Aufgabe erfüllen, Leute davon abzuhalten, diese Länder zu verlassen und in die USA zu kommen“. Doch auch der Schutz der Südgrenze ist Auftrag der mexikanischen Politik. „Seit vielen Jahren machen die zentralamerikanischen Regierungen und die mexikanische Regierung die Drecksarbeit der USA, indem sie Migranten nicht weiterreisen lassen“, erklärt Brand.

Brand kann bei den in Amerika stattfindenden Migrationsbewegungen durchaus auch Parallelen zu Europa erkennen – nicht nur, was den ausgelagerten Grenzschutz betrifft. „Menschen machen sich auf, weil ihnen die Lebensgrundlage weggenommen wird und sie sich in den wohlhabenden Ländern ein sicheres und auskömmliches Leben erhoffen“, so der Politikwissenschaftler.

Das sei zwar legitim, bringe aber auch Probleme mit sich. „Wichtig wäre“, so Brand, „sowohl in den USA als auch in Europa anzuerkennen, dass wir mit unserer Politik, aber eben auch mit unserer Lebensweise mitverantwortlich sind.“