Britische Premierministerin May
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Kabinett stimmt zu

May nimmt erste „Brexit“-Hürde

Mit der Zustimmung des eigenen Kabinetts zum Entwurf des Austrittsabkommens mit der EU hat die britische Premierministerin Theresa May erst die erste Hürde im ohnedies bereits langwierigen „Brexit“-Verfahren genommen. Nun muss sie noch das britische Parlament überzeugen – und die immer noch zahlreichen parteiinternen Kritiker.

Nach stundenlangen Beratungen trat May Mittwochabend vor die Presse und gab ein kurzes Statement ab: Es sei eine schwere Entscheidung gewesen, vor allem mit Blick auf die umstrittene Irland-Frage, so May. Es sei dennoch das bestmögliche Abkommen, das habe ausgehandelt werden können. Als Alternative habe es nur einen „Brexit“ ohne Abkommen gegeben – oder die Möglichkeit, die EU nicht zu verlassen.

Mit Blick auf das britische Parlament sagte die britische Regierungschefin: „Das ist ein Beschluss, der einer intensiven Prüfung unterzogen wird, und das ist genau, wie es sein sollte, und vollkommen verständlich.“ May sagte auch, dass noch weitere schwierige Tage auf den Mittwoch folgen würden. Medienberichten zufolge soll die britische Regierung trotz offizieller Zustimmung gespalten sein.

Britische Premierministerin May
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May gab Mittwochabend ein kurzes Statement vor der Presse ab

Den ganzen Tag hatte May versucht, die Mitglieder ihrer Regierung zu überzeugen. Ganz gelungen ist ihr das laut britischen Medienberichten nicht: Es gab zwar ein Mehrheitsvotum, doch es soll auch noch weiterhin Ressentiments gegen das Abkommen geben. Bis zu elf Minister sollen sich laut „Guardian“ gegen den Deal ausgesprochen haben.

Kritiker sollen Misstrauensantrag planen

Unterdessen sollen "Brexit“-Befürworter und -Befürworterinnen aus den eigenen Reihen sich für eine Absetzung Mays stark machen. Mays EU-kritischer Parteifreund Jacob Rees-Mogg etwa schrieb alle Konservativen an und nannte vier Gründe, warum dem Deal nicht zugestimmt werden könne. Der frühere „Brexit“-Minister Steve Baker twitterte von zahlreichen negativen Stimmen und dass er davon ausgeht, dass der Deal nur wenige Tage überlebt.

Baker gilt laut BBC als gut vernetzt, er und Rees-Mogg könnten May durchaus gefährlich werden. Rees-Mogg kündigte gegenüber der BBC bereits an, im Unterhaus des Parlaments gegen den Entwurf zu stimmen. Die BBC berichtete zuvor auch, dass May sich am Donnerstag womöglich einem Misstrauensvotum stellen muss. Auch die EU-Staatschefs müssen noch bei einem nicht final fixierten Gipfel dem Entwurf für das Abkommen zustimmen – die EU-Spitze sieht sich dafür offenbar bereit.

Barnier sieht „entscheidenden Fortschritt“

Kurz nach May trat EU-Chefverhandler Michel Barnier in Brüssel vor die Presse. „Ich denke, wir haben einen entscheidenden Fortschritt erreicht“, so Barnier. Der Satz ist ein Signal an Ratspräsident Donald Tusk. Der hatte gesagt, bereit zu sein, einen „Brexit“-Sondergipfel einzuberufen, sobald die Verhandlungsteams entscheidende Fortschritte melden. Als wahrscheinlichster Termin gilt der 25. November. 17 Monate lang sei verhandelt worden, sagte Barnier weiter. Der nun vorgelegte Text enthalte 185 Artikel, drei Protokolle und unzählige Anhänge.

Entwurf veröffentlicht

Mittwochabend wurde der komplette 585 Seiten lange Text des vorläufigen Austrittsabkommen auf der Website der EU-Kommission veröffentlicht, ebenso wie der Plan für einen Rahmen, der die künftige Beziehung zwischen der EU und Großbritannien regeln soll.

Barnier gab bekannt, dass die Übergangsphase bis zur vollen Wirksamkeit des „Brexits“ „für einen begrenzte Zeitraum“ verlängert werden kann. Großbritannien wird in dieser Phase nicht mehr in den EU-Institutionen vertreten sein, aber wie ein Mitglied weiterhin alle Verpflichtungen erfüllen müssen.

Das Abkommen bringe auch die notwendige Rechtssicherheit für alle Beteiligten über die Konsequenzen des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union. Als Beispiele nannte er die Rechte von EU-Bürgerinnen und -Bürgern in Großbritannien und jene von in EU-Staaten lebenden Britinnen und Briten sowie die Einigung über Zahlungen Großbritanniens an die EU.

Keine „harte Grenze“

Zudem ist laut Barnier erreicht worden, eine „harte Grenze“ mit wiedereingeführten Kontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und Irland zu verhindern. Ziel sei es, die Frage während der geplanten Übergangsphase bis Ende 2020 nach dem „Brexit“ abschließend zu klären, sagte Barnier am Mittwochabend in Brüssel.

Reiche die Zeit nicht, könne die Übergangsphase „für einen begrenzte Zeitraum“ verlängert werden, oder es greife eine Auffanglösung, in der das gesamte Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibe. Die Nordirland-Frage hatte über Monate einen Abschluss der „Brexit“-Verhandlungen mit Großbritannien verhindert.

Juncker: EU bereit für nächsten Schritt

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker twitterte, dass er in einem Brief an Tusk empfohlen habe, die Verhandlungen nach dem entscheidenden Fortschritt mit Großbritannien weiterzuführen. Die EU sei bereit für die nächsten Schritte, die Verhandlungen seien fast am Ziel. Tusk soll nach einem Treffen mit Barnier Donnerstagfrüh eine Erklärung abgeben.

Am Nachmittag haben – parallel zur britischen Regierung – auch die EU-Botschafter der 27 verbleibenden EU-Staaten unter österreichischem Vorsitz über den Text zur „Brexit“-Einigung beraten. Die Botschafter bekamen von der stellvertretenden europäischen „Brexit“-Verhandlungsführerin Sabine Weyand die Eckpunkte des Dokuments präsentiert. Laut Angaben eines Diplomaten ist „alles noch sehr fragil“, man warte auch auf die Entscheidung aus London.

May hat Gegenwind aus allen Richtungen

Fragil ist auch die Stimmung in Großbritannien, und das nicht nur in Mays eigenen Reihen. May versuchte am Abend offenbar noch alle Gegner und Kritiker des Entwurfs zu treffen und vom Gegenteil zu überzeugen. Eine eigentlich für den Mittwochabend geplante längere Pressekonferenz wurde offenbar aufgrund von Gegenwind der Opposition auf Donnerstag verschoben. Die Opposition forderte in einem gemeinsamen Brief einen Auftritt Mays im Unterhaus.

Die fünf unterzeichnenden Parteien, darunter Labour-Chef Jeremy Corbyn und SNP-Chef Ian Blackford, forderten mehr Informationen zu dem Deal, und zwar direkt und vor der Pressekonferenz. Diese soll nun am Donnerstag im Anschluss erfolgen. Corbyn sagte gegenüber der BBC, dass er den aktuellen Entwurf auch für keinen guten Deal für ganz Großbritannien halte, wie May zuvor gesagt hatte. Labor wolle bei der Erklärung Mays im Parlament bekanntgeben, ob die Partei dem Entwurf zustimmt oder nicht.

Pro-EU-Demonstrant in London
APA/AFP/Tolga Akmen
Die Beratungen am Mittwoch wurden von Protesten begleitet

Zustimmung zum Deal kam vom irischen Premier Leo Varadkar, die nordirischen Unionisten (DUP) zeigten sich hingegen erneut ablehnend. Parteichefin Arlene Foster traf May noch am Abend. Sie twitterte im Anschluss, es sei ein „offenes“ Treffen gewesen, May sei über die Positionen und Bedenken der DUP voll informiert.

Die Torys besitzen im Unterhaus keine Mehrheit. Mays Regierung baute bis jetzt auf die Unterstützung der DUP. Die Protestantenpartei meldete am „Brexit“-Entwurf ernsthafte Zweifel an, ihre Abgeordneten sprachen sich zuvor explizit gegen die Zustimmung dazu aus.

Opposition fordert Recht auf Vertragsänderung

Eine Ablehnung der DUP könnte es für May notwendig machen, sich der Opposition anzudienen, um deren Stimmen zu erhalten – mit fraglichen Aussichten. Die wichtigsten britischen Oppositionsparteien bestanden am Dienstag auch auf ein Recht auf Vertragsänderung. Labour-Chef Corbyn forderte in einem gemeinsamen Brief mit den Chefs der Schottischen Nationalpartei und der Liberaldemokraten, dass vor der Abstimmung Modifizierungen der Einigung zugelassen werden sollten. Das wiederum schloss die Regierung in London zwar aus, laut britischem Independent soll es aber doch Zugeständnisse der Regierung zu Änderungen geben.

Auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon bezeichnete den Deal als „verheerend“ für ihre Region. „Das wäre die schlechteste aller möglichen Welten für Schottland“, sagte sie der BBC mit Blick auf den geplanten Sonderstatus für Nordirland. Wegen des Deals müsste Schottland den EU-Binnenmarkt verlassen, „was für sich allein schon schlimm genug ist“, sagte Sturgeon. „Aber zugleich müssten wir um Investitionen und Jobs mit Nordirland konkurrieren, das faktisch weiterhin im Binnenmarkt bliebe.“ Nach einem Treffen mit May am Abend zeigte sich Sturgeon erneut vom Abkommen enttäuscht.

Kurz über Einigung des Kabinetts „sehr froh“

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich am Abend über die Einigung der britischen Regierung „sehr froh“. Er hoffe nun auch auf Zustimmung des britischen Parlaments, schrieb er auf Twitter. Das Ergebnis sei ein "gutes, denn es garantiere, dass Hard-‚Brexit‘ vermieden werde und „es keine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland geben wird“.

Außerdem liefere es eine Basis, um „ein zukünftiges neues Verhältnis“ zwischen EU und Großbritannien auszuhandeln. Der Vertragsentwurf werde „nun so schnell wie möglich bei einem Treffen“ der EU-Minister der verbleibenden EU-Staaten sowie bei einem „Brexit“-Sondergipfel „geprüft“ werden. Europaminister Gernot Blümel (ÖVP) sagte in einer Aussendung, es werde nun „zeitnah“ einen EU-Rat geben. Man sei in enger Abstimmung mit Barnier, um die weiteren Schritte professionell vorzubereiten.