Großbritanniens Premierminister Theresa May
Reuters/Henry Nicholls
„Brexit“-Entwurf

Mays Kritiker machen mobil

Nach einer stundenlangen Zitterpartie hat das britische Kabinett am Mittwochabend grünes Licht für den von Premierministerin Theresa May vorgelegten Entwurf für einen EU-Ausstiegsvertrag gegeben. Die „Brexit“-Verhandlungen sind damit ein gutes Stück vorangekommen. Die nächste große Hürde ist nun das Parlament. Doch die Kritikerinnen und Kritiker von Mays Plänen befinden sich weiter in Angriffsposition, auch gab es bereits einen Rücktritt im Kabinett.

May hatte am Mittwoch in einer Pressekonferenz nach der auf fünf Stunden ausgedehnten Kabinettssitzung die Einigung verkündet. Es sei eine gemeinsame Entscheidung gewesen, dem Abkommen zuzustimmen. Den Entwurf anzunehmen sei schwer gewesen, vor allem mit Blick auf die umstrittene Irland-Frage, sagte May. „Aber ich glaube, es ist eine Entscheidung, die zutiefst im nationalen Interesse ist.“ Die Regierungschefin räumte mit Blick auf das Parlament in London ein: „Es liegen noch schwierige Tage vor uns.“

Medienberichten zufolge soll auch die britische Regierung trotz offizieller Zustimmung gespalten sein. Es gab zwar ein Mehrheitsvotum, doch es soll weiterhin Ressentiments gegen das Abkommen geben. Bis zu elf der 22 Kabinettsmitglieder sollen sich laut „Guardian“ gegen den Deal ausgesprochen haben. Genau äußern wollte sich am Mittwoch allerdings keiner von ihnen.

Am Donnerstag gab es allerdings einen ersten Rücktritt: Der Nordirland-Minister Shailesh Vara erklärte wegen des Deals „mit großer Trauer“ seinen Rückzug. Das Abkommen stelle nicht sicher, dass Großbritannien eine unabhängige Nation werde, welche die „Fesseln der EU“ abwerfen könne.

Parlamentsvotum als Stolperstein

Auch im Parlament hat Mays „Brexit“-Strategie viele Gegnerinnen und Gegner. „Brexit“-Verfechtern wie dem ehemaligen Außenminister Boris Johnson ist ihr Kurs gegenüber der EU zu lasch, während die Fraktion der Proeuropäer hofft, den „Brexit“ doch noch aufhalten zu können. Nach Aussage von EU-Diplomaten ist die noch nicht terminierte Abstimmung der größte Stolperstein für Mays „Brexit“-Plan. Sie benötigt ungefähr 320 von 650 Stimmen im Unterhaus. Stattfinden wird das Votum voraussichtlich im Dezember.

Britische Premierministerin May
APA/AFP/Ben Stansall
May gab Mittwochabend ein kurzes Statement vor der Presse ab

Die nordirische Protestantenpartei DUP warnte bereits im Vorfeld. Falls sich May entscheide, Nordirland anders zu behandeln als den Rest den Königreichs, werde das Folgen haben, sagte DUP-Chefin Arlene Foster. Mays Minderheitsregierung ist auf die Unterstützung der DUP angewiesen. Eine Ablehnung der DUP könnte es für May notwendig machen, sich der Opposition anzudienen, um deren Stimmen zu erhalten – mit fraglichen Aussichten. Zustimmung zum Deal kam hingegen vom irischen Premier Leo Varadkar. Die wichtigsten britischen Oppositionsparteien bestanden am Dienstag auch auf einem Recht auf Vertragsänderung.

Opposition fordert mehr Information

Eine eigentlich für den Mittwochabend geplante längere Pressekonferenz wurde offenbar aufgrund von Gegenwind der Opposition auf Donnerstag verschoben. Die Opposition forderte in einem gemeinsamen Brief einen Auftritt Mays im Unterhaus. Die fünf unterzeichnenden Parteien, darunter Labour-Chef Jeremy Corbyn und SNP-Chef Ian Blackford, forderten mehr Informationen zu dem Deal, und zwar direkt und vor der Pressekonferenz.

Diese soll nun am Donnerstag im Anschluss erfolgen. Corbyn sagte gegenüber der BBC, dass er den aktuellen Entwurf auch für keinen guten Deal für ganz Großbritannien halte, wie May zuvor gesagt hatte. Labour wolle bei der Erklärung Mays im Parlament bekanntgeben, ob die Partei dem Entwurf zustimmt oder nicht.

Die BBC berichtete zuvor, dass sich May womöglich einem Misstrauensvotum stellen muss. Laut ITV wollten sich mindestens 48 konservative Abgeordnete bis Mittag für ein Misstrauensvotum gegen May aussprechen. Das berichtete der Sender unter Berufung auf Parlamentarier. Nach den britischen Parlamentsregeln wird eine Abstimmung dann ausgelöst, wenn mehr als 15 Prozent der Abgeordneten oder 48 Parlamentarier ein Misstrauensvotum fordern.

„Ziemlich mieses Abkommen“

Einer der größten Widersacher Mays, der einflussreiche Tory-Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg, sprach in der BBC von einem „ziemlich miesen Abkommen“. Er kündigte an, im Parlament gegen den Entwurf zu stimmen. Foster teilte mit: „Als Unionisten können wir kein Abkommen unterstützen, das das Vereinigte Königreich auseinanderbrechen lässt.“ Das habe Folgen für die Abstimmung.

Der frühere „Brexit“-Minister Steve Baker twitterte von zahlreichen negativen Stimmen und dass er davon ausgeht, dass der Deal nur wenige Tage überlebt. Baker gilt laut BBC als gut vernetzt, er und Rees-Mogg könnten May durchaus gefährlich werden. Bereits zuvor hatten Ex-Außenminister Johnson und der zurückgetretene „Brexit“-Minister David Davis die Minister und Abgeordneten dazu aufgerufen, nicht für den Entwurf zu stimmen.

Auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon (SNP) bezeichnete den Deal als „verheerend“ für ihre Region. „Das wäre die schlechteste aller möglichen Welten für Schottland“, sagte sie der BBC mit Blick auf den geplanten Sonderstatus für Nordirland. Wegen des Deals müsste Schottland den EU-Binnenmarkt verlassen, „was für sich allein schon schlimm genug ist“, sagte Sturgeon. „Aber zugleich müssten wir um Investitionen und Jobs mit Nordirland konkurrieren, das faktisch weiterhin auf dem Binnenmarkt bliebe.“

„Brexit“-Sondergipfel am 25. November

Trotz dieser Hindernisse und der Gegenstimmen sind die Chancen auf einen geordneten „Brexit“ mit der Billigung durch das Kabinett deutlich gestiegen. Damit ist aus Sicht der EU-Kommission ausreichender Fortschritt erreicht, sodass ein „Brexit“-Sondergipfel einberufen werden kann. EU-Ratspräsident Donald Tusk kündigte am Donnerstag in Brüssel an, der Gipfel sollte das Abkommen am Sonntag, 25. November, finalisieren, „wenn nichts Außerordentliches passiert“.

Der Gipfel werde um 9.30 Uhr starten. Bis Dienstag wolle die EU-Kommission auch die politische Erklärung zu den künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien fertigstellen, sagte Tusk. Die EU-Staaten sollen den Text bis Donnerstag prüfen, „ich hoffe auf nicht zu viele Kommentare“. Er sagte, EU-Chefverhandler Michel Barnier habe in dem Kompromiss sichergestellt, dass die Schäden durch den „Brexit“ begrenzt bleiben und die wichtigsten Interessen der 27 EU-Staaten und der EU als Ganzes sichergestellt seien.

Übergangsphase kann verlängert werden

Am Mittwoch trat kurz nach May auch Barnier in Brüssel vor die Presse. „Ich glaube, wir haben einen entscheidenden Fortschritt erreicht“, so Barnier. 17 Monate lang sei verhandelt worden. Der nun vorgelegte Text enthalte 185 Artikel, drei Protokolle und unzählige Anhänge. Barnier gab bekannt, dass die Übergangsphase bis zur vollen Wirksamkeit des „Brexits“ „für einen begrenzte Zeitraum“ verlängert werden kann. Großbritannien wird in dieser Phase nicht mehr in den EU-Institutionen vertreten sein, aber wie ein Mitglied weiterhin alle Verpflichtungen erfüllen müssen.

Entwurf veröffentlicht

Mittwochabend wurde der komplette, 585 Seiten lange Text des vorläufigen Austrittsabkommen auf der Website der EU-Kommission veröffentlicht, ebenso der Plan für einen Rahmen, der die künftige Beziehung zwischen der EU und Großbritannien regeln soll.

Das Abkommen bringe auch die notwendige Rechtssicherheit für alle Beteiligten über die Konsequenzen des Austritts Großbritanniens aus der EU. Als Beispiele nannte er die Rechte von EU-Bürgerinnen und -Bürgern in Großbritannien und jene von in EU-Staaten lebenden Britinnen und Briten sowie die Einigung auf Zahlungen Großbritanniens an die EU.

Keine „harte Grenze“

Zudem ist laut Barnier erreicht worden, eine „harte Grenze“ mit Kontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und Irland zu verhindern. Ziel sei es, die Frage während der geplanten Übergangsphase bis Ende 2020 nach dem „Brexit“ abschließend zu klären, sagte Barnier.

Reiche die Zeit nicht, könne die Übergangsphase „für einen begrenzte Zeitraum“ verlängert werden, oder es greife eine Auffanglösung, in der das gesamte Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibe. Die Nordirland-Frage hatte über Monate einen Abschluss der „Brexit“-Verhandlungen mit Großbritannien verhindert.

Juncker: EU bereit für nächsten Schritt

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker twitterte, dass er in einem Brief an Tusk empfohlen habe, die Verhandlungen nach dem entscheidenden Fortschritt mit Großbritannien weiterzuführen. Die EU sei bereit für die nächsten Schritte, die Verhandlungen seien fast am Ziel. Tusk soll nach einem Treffen mit Barnier Donnerstagfrüh eine Erklärung abgeben.

Am Nachmittag haben – parallel zur britischen Regierung – auch die EU-Botschafter der 27 verbleibenden EU-Staaten unter österreichischem Vorsitz über den Text zur „Brexit“-Einigung beraten. Die Botschafter bekamen von der stellvertretenden europäischen „Brexit“-Verhandlungsführerin Sabine Weyand die Eckpunkte des Dokuments präsentiert. Laut Angaben eines Diplomaten ist „alles noch sehr fragil“, man warte auch auf die Entscheidung aus London.

Kurz über Einigung des Kabinetts „sehr froh“

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich am Abend über die Einigung der britischen Regierung „sehr froh“. Er hoffe nun auch auf Zustimmung des britischen Parlaments, schrieb er auf Twitter. Das Ergebnis sei ein "gutes, denn es garantiere, dass Hard-‚Brexit‘ vermieden werde und „es keine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland geben wird“.

Außerdem liefere es eine Basis, um „ein zukünftiges neues Verhältnis“ zwischen EU und Großbritannien auszuhandeln. Der Vertragsentwurf werde „nun so schnell wie möglich bei einem Treffen“ der EU-Minister der verbleibenden EU-Staaten sowie bei einem „Brexit“-Sondergipfel „geprüft“ werden. Europaminister Gernot Blümel (ÖVP) sagte in einer Aussendung, es werde nun „zeitnah“ einen EU-Rat geben. Man sei in enger Abstimmung mit Barnier, um die weiteren Schritte professionell vorzubereiten.