Großbritanniens „Brexit“-Minister Dominic Raab
Reuters/Henry Nicholls
Protest gegen Deal

Rücktrittswelle nach „Brexit“-Einigung

Einen Tag nach der Zustimmung des britischen Kabinetts zum „Brexit“-Entwurf wächst der Druck auf Premier Theresa May. Aus Protest gegen den geplanten Deal mit der EU gab es am Donnerstag eine Reihe von Rücktritten. Nach „Brexit“-Minister Dominic Raab traten Arbeitsministerin Esther McVey und „Brexit“-Staatssekretärin Suella Braverman zurück. Unterdessen formiert sich eine Gruppe für ein Misstrauensvotum.

Raab sagte, der von May vorgelegte EU-Ausstiegsvertrag und insbesondere die Vorschläge zu Nordirland bedrohten die Integrität des Vereinigten Königreichs. Zudem könne er die Bedingungen des Abkommens nicht mit den Versprechen in Einklang bringen, die dem Land gemacht worden seien. Raab forderte May zum Kurswechsel auf. Das nun vorliegende Abkommen würde dazu führen, dass das Vereinigte Königreich auf unbestimmte Zeit an die EU-Regeln gebunden bliebe. May solle aber den Posten als Premierministerin behalten.

Der Deal entspreche nicht dem „Brexit“-Votum der britischen Bürgerinnen und Bürger, so auch McVey in ihrem Rücktrittsschreiben. Auch Nordirland-Staatssekretär Vara erklärte wegen des Deals „mit großer Trauer“ seinen Rückzug. Das Abkommen stelle nicht sicher, dass Großbritannien eine unabhängige Nation werde, welche die „Fesseln der EU“ abwerfen könne. Der Tory-Politiker nannte Großbritannien eine „stolze Nation“, die nicht darauf reduziert werden sollte, den Regeln anderer Länder zu gehorchen. „Die Menschen in Großbritannien verdienen Besseres“, so Vara auf Twitter.

Britische Medien rechneten mit weiteren Rücktritten von Politikern in diesen Tagen. Als mögliche Kandidaten wurden unter anderen Handelsminister Liam Fox und Entwicklungshilfeministerin Penny Mordaunt genannt.

„Schwierige Tage vor uns“

May hatte am Mittwoch in einer Pressekonferenz nach der auf fünf Stunden ausgedehnten Kabinettssitzung die Einigung verkündet. Es sei eine gemeinsame Entscheidung gewesen, dem Abkommen zuzustimmen. Den Entwurf anzunehmen sei schwer gewesen, vor allem mit Blick auf die umstrittene Irland-Frage, sagte May. „Aber ich glaube, es ist eine Entscheidung, die zutiefst im nationalen Interesse ist.“ Die Regierungschefin räumte mit Blick auf das Parlament in London ein: „Es liegen noch schwierige Tage vor uns.“

Die britische Regierung ist trotz offizieller Zustimmung gespalten. Es gab zwar ein Mehrheitsvotum, doch es soll weiterhin Ressentiments gegen das Abkommen geben. Bis zu elf der 22 Kabinettsmitglieder sollen sich laut „Guardian“ gegen den Deal ausgesprochen haben.

Parlamentsvotum als Stolperstein

Auch im Parlament hat Mays „Brexit“-Strategie viele Gegnerinnen und Gegner. Dieses muss noch über Mays Deal abstimmen. Nach Aussage von EU-Diplomaten ist die Zustimmung der größte Stolperstein für Mays „Brexit“-Plan. Sie benötigt – abhängig von möglichen Absenzen – ungefähr 320 von 650 Stimmen im Unterhaus. Stattfinden wird das Votum voraussichtlich im Dezember.

Britische Premierministerin May
APA/AFP/Ben Stansall
May gab Mittwochabend ein kurzes Statement vor der Presse ab

Bereits am Donnerstag verteidigte May den Entwurf auf Wunsch der Opposition im Parlament. Dieser sei nicht das finale Abkommen, sagte sie in der hitzigen Debatte. Der „Brexit“ erfordere schwierige Entscheidungen von allen. „Weder wir noch die EU sind völlig glücklich mit den Vereinbarungen zu einer Notfalloption für Irland.“ Man habe jedoch nur die Wahl, entweder keinen Deal zu riskieren, den „Brexit“ abzublasen oder aber gemeinsam die bestmögliche Vereinbarung zu unterstützen.

Brexit-Verhandler Dominic Raab und Michel Barnier
AP/Virginia Mayo
Der zurückgetretene „Brexit“-Minister Raab und EU-Chefverhandler Barnier im August

May sagte, sie gehe nicht davon aus, dass die vorgesehene Übergangsphase verlängert werden muss. Die EU und Großbritannien hatten sich auf eine Übergangsphase bis zur vollen Wirksamkeit des „Brexits“ geeinigt, die bis Ende 2020 gehen soll. Der EU-Austritt selbst soll Ende März 2019 erfolgen.

Misstrauensvotum steht im Raum

Die BBC berichtete zuvor, dass sich May womöglich einem Misstrauensvotum stellen muss. Nach den britischen Parlamentsregeln wird eine Abstimmung dann ausgelöst, wenn mehr als 15 Prozent der Abgeordneten oder 48 Parlamentarier ein Misstrauensvotum fordern. Einer der größten Widersacher Mays und Vorsitzender der EU-kritischen European Research Group (ERG), der einflussreiche Tory-Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg, hat bereits einen entsprechenden Brief eingebracht.

Eine Reihe weiterer Abgeordneter soll ihm gefolgt sein, laut BBC sind es aber noch nicht die benötigten 48 Stimmen. Rees-Mogg sprach zuvor in der BBC von einem „ziemlich miesen Abkommen“. Er nannte den früheren Außenminister Boris Johnson und den früheren „Brexit“-Minister David Davis als mögliche Nachfolgekandidaten.

Allerdings soll es in der derzeit tagenden ERG keine Einigkeit über die Strategie der Gruppe geben – einige wollten erst bei der Parlamentsabstimmung gegen den Entwurf stimmen. Auch gilt der Erfolg eines Misstrauensvotums als zweifelhaft – es zeichnet sich kein Kandidat ab, der die zerstrittene Tory-Fraktion hinter sich vereinen könnte. Wie ihr Sprecher sagte, will sich May gegen ein Misstrauensvotum wehren. Sie gehe weiterhin davon aus, dass sie das Land zum Zeitpunkt des „Brexits“ führt.

Heftiger Gegenwind

Auch in den nächsten Wochen dürfte May noch heftiger Wind entgegenblasen. Die nordirische Protestantenpartei DUP warnte mit Blick auf das entscheidende Parlamentsvotum bereits im Vorfeld. Falls sich May entscheide, Nordirland anders zu behandeln als den Rest den Königreichs, werde das Folgen haben, sagte DUP-Chefin Arlene Foster. Eine Ablehnung der DUP könnte es für May notwendig machen, sich der Opposition anzudienen, um deren Stimmen zu erhalten – mit fraglichen Aussichten. Zustimmung zum Deal kam hingegen vom irischen Premier Leo Varadkar.

Labour-Chef Jeremy Corbyn sagte gegenüber der BBC, dass er den aktuellen Entwurf auch für keinen guten Deal für ganz Großbritannien halte. „Die Regierung kann diese halbgare Vereinbarung dem Parlament nicht vorlegen“, so Corbyn am Donnerstag im Parlament. Foster teilte mit: „Als Unionisten können wir kein Abkommen unterstützen, das das Vereinigte Königreich auseinanderbrechen lässt.“ Das habe Folgen für die Abstimmung.

Der frühere „Brexit“-Minister Steve Baker twitterte von zahlreichen negativen Stimmen und dass er davon ausgeht, dass der Deal nur wenige Tage überlebt. Baker gilt laut BBC als gut vernetzt, er und Rees-Mogg könnten May durchaus gefährlich werden. Bereits zuvor hatten Johnson und Davis die Minister und Abgeordneten dazu aufgerufen, nicht für den Entwurf zu stimmen. Auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon (SNP) bezeichnete den Deal als „verheerend“ für ihre Region.

„Brexit“-Sondergipfel am 25. November

Trotz dieser Hindernisse und der Gegenstimmen sind die Chancen auf einen geordneten „Brexit“ mit der Billigung durch das Kabinett deutlich gestiegen. EU-Ratspräsident Donald Tusk kündigte am Donnerstag in Brüssel an, der „Brexit“-Sondergipfel sollte das Abkommen am Sonntag, 25. November, finalisieren, „wenn nichts Außerordentliches passiert“.

Der Gipfel werde um 9.30 Uhr starten. Bis Dienstag wolle die EU-Kommission auch die politische Erklärung zu den künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien fertigstellen, sagte Tusk. Die EU-Staaten sollen den Text bis Donnerstag prüfen.

Der Ratsvorsitzende und EU-Minister Gernot Blümel (ÖVP) berief für den 19. November einen EU-Ministerrat zum „Brexit“ ein: „Die zuständigen Minister beraten über das Austrittsabkommen und über die politische Erklärung zum zukünftigen Verhältnis und bereiten den ‚Brexit‘-Sondergipfel, der am 25. November stattfindet, vor“, so das Büro des Kanzleramtsministers.

Tajani zufrieden mit Lösung

EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani äußerte sich bei einer Pressekonferenz mit Barnier zufrieden mit dem Entwurf. Das gelte insbesondere für die Frage der irischen Grenze, den Finanzen und der Bürgerrechte. Das Europäische Parlament muss der Vereinbarung zum „Brexit“ am Ende des Prozesses genauso wie das britische Unterhaus zustimmen. Barnier sprach von einer „gerechten und ausbalancierten Lösung“.

Grafik zum „Brexit“
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Guy Verhofstadt, Verhandlungsführer des Parlaments, sagte, das sei „das beste Abkommen, das wir erzielen konnten“. Das EU-Parlament wolle den Vertragsentwurf nun genau analysieren und in einer der nächsten Sitzungen, wahrscheinlich im Dezember, eine Resolution hierzu verabschieden. „Wir sind noch nicht am Ziel, und es gibt noch viele Etappen bis zur Unterzeichnung eines Abkommens“, sagte Barnier. Bis dahin werde man ruhig weiterarbeiten.

Die aktuelle Regierungskrise in London hat aus Sicht der EU-Kommission keine unmittelbaren Folgen für den Abschluss der Verhandlungen. „Unsere Verhandlungspartnerin sind May und die britische Regierung. Wir arbeiten weiter in gutem Glauben mit ihnen zusammen“, sagte Kommissionssprecher Margaritis Schinas am Donnerstag in Brüssel. Man werde sich jetzt auf die weiteren Schritte konzentrieren, sagte der Sprecher.

Kurz über Einigung des Kabinetts froh

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich im Ö1-Morgenjournal über die Einigung der britischen Regierung froh. Es gehe jetzt um die Abstimmung im Parlament, aber auch hier sei er „sehr optimistisch“. Der Deal sei „gut für beide Seiten“. Es sei nicht darum gegangen, einen „Vorteil für die eine oder andere Seite herauszuschlagen, sondern einen fairen Deal zu machen, um den ‚Brexit‘ ordentlich abwickeln zu können und um vor allem ein zukünftiges Verhältnis auszuarbeiten, wo gewährleistet ist, dass wir politisch, wirtschaftlich, militärisch, kulturell und natürlich auch menschlich bestmöglich zusammenarbeiten“.