Mutter mit Kind
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Ernährung

Indien kann von Äthiopien lernen

Indien ist die am schnellsten wachsende Wirtschaft – noch vor China und Südkorea. Das Land, das auch politisch zu einem globalen Player werden möchte, hat aber zugleich viele Probleme. Dazu gehört die trotz Wirtschaftsaufschwung noch immer weit verbreitete Mangelernährung. In diesem Punkt hat das ebenfalls stark wachsende, aber wirtschaftlich weitaus schwächere Äthiopien Indien einiges voraus.

In einigen Bereichen, etwa dem Kampf gegen Armut, konnte das nach China zweitbevölkerungsreichste Land der Erde wichtige Fortschritte erzielen. Doch bei Ernährungssicherheit liegt Indien – so wie auch andere südasiatische Länder – deutlich zurück.

Bei mehreren Indikatoren, insbesondere der Anzahl unterernährter Kinder, wurde Indien mittlerweile von Äthiopien überholt. Dabei hat das Land am Horn von Afrika nur ein Viertel des indischen Pro-Kopf-Einkommens und erlebte in den letzten Jahrzehnten mehrere schwere Hungersnöte. Nach Ansicht der in London lehrenden Politologin Ivica Petrikova liegt der Schlüssel dafür „in der Ernährung und Hygiene von Kindern in den ersten 1.000 Tagen des Lebens – vom Beginn der Schwangerschaft bis zu ihrem zweiten Geburtstag“.

Die Unterernährung indischer Kinder beginne oft bereits vor ihrer Geburt. Etwas mehr als die Hälfte indischer Frauen hätten einen Eisenmangel, in Äthiopien dagegen nur 23 Prozent. Eisenmangel bei Kindern kann aber zu Untergewicht und zahlreichen Gesundheitsproblemen führen.

Farm-Arbeiter
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Ein Kind schläft, während seine Eltern mit Kühen in der nördlichen Provinz Tigray Weizen dreschen

Keine Hilfen für Schwangere

Ein Grund ist, so betonte Petrikova zuletzt in der indischen Wirtschaftszeitung „Business Standard“, dass Schwangere in Indien kaum Unterstützung bekommen. Ein 2013 verabschiedetes Gesetz sieht eine Finanzhilfe von 6.000 Rupien (75 Euro) vor. Das reicht aber meist nur, um die Kosten für die Geburt zu decken. Und das Geld gibt es nur für die erste Schwangerschaft.

Dazu müssen viele Frauen, insbesondere auf dem Land, auch während der Schwangerschaft schwere körperliche Arbeit verrichten. In Äthiopien unterstützt dagegen das staatliche Productive Safety Net Programme Frauen ab dem vierten Monat ihrer Schwangerschaft bis zum ersten Geburtstag des Kindes direkt – mit Lebensmitteln oder Geld. Ihm Rahmen der gemeinsam mit dem UNO-Welternährungsprogramm durchgeführten Initiative werden insbesondere Frauen in ländlichen Gegenden mit Nahrungsmitteln versorgt.

Eine Folge der häufig unterernährten Schwangeren ist, dass in Indien proportional viel mehr Kinder als in Äthiopien bei ihrer Geburt „sehr klein“ sind. Und dieser Gewichtsunterschied wird später noch größer: Während es mehr als jedes dritte indische Kind betrifft, gilt das in Äthiopien nur für jedes vierte Kind.

Das „Südasien-Rätsel“

Das Phänomen, dass rasanter Wirtschaftsaufschwung nicht zu einer stärkeren Beseitigung von Mangelernährung führt, wird oft als „Südasien-Rätsel“ bezeichnet.

Schlechte Bezahlung

In Indien wird jedes dritte Kind bis zum ersten Lebensjahr ausschließlich gestillt oder mit Fläschchen versorgt. Gerade um die Versorgung mit Eisen sicherzustellen, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aber ab dem sechsten Monat das Zufüttern mit Brei. Denn der Eisengehalt in der Muttermilch sinkt im ersten Halbjahr nach der Geburt um etwa die Hälfte. In Äthiopien wird bei deutlich mehr Kindern ab sechs Monaten zugefüttert.

In Äthiopien wird im Rahmen des – auch andere Hilfen umfassenden – Productive Safety Net Programme besonderer Wert darauf gelegt, dass Eltern über die Ernährung von Babys und Kleinkindern aufgeklärt werden. Indien betreibt ebenfalls staatliche Zentren für Kindererziehung. Eines der Hauptziele dieser rund 1,5 Millionen Anganwadi-Zentren ist der Kampf gegen Unterernährung. Allerdings sind die dort arbeitenden Frauen äußerst schlecht bezahlt und das Service oft entsprechend mangelhaft. Immer wieder gibt es Streiks der Mitarbeiterinnen.

Mutter mit Kind
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Eine Frau mit ihrem Kind in den Ruinen eines im Sommer in Bangalore von Behörden zerstörten Slums

Fehlende Toiletten

Neben zu wenig oder unausgewogener Ernährung gilt auch Hygiene als entscheidender Faktor im Kampf gegen Mangelernährung. In beiden Ländern ist das Fehlen einer Kanalisation und von Toiletten ein großes Problem, das bei Kindern häufig zu Durchfall und langsamerem Wachstum führt. In Indien wurde der Bau von öffentlichen Toiletten forciert, aber selbst wenn solche vorhanden sind, werden sie wegen des Kastenwesens oft nicht benützt.

Das Reinigen von Toiletten war traditionell Aufgabe der Dalits, der niedrigsten Kaste. Angehörige anderer Kasten wollen WCs nicht reinigen und gehen lieber ins Freie. Für Frauen ist diese Praxis gefährlich: Sie können – anders als Männer oder Kinder – nur nachts ihr Geschäft verrichten. Oft werden Frauen auf dem Weg, ihre Notdurft zu verrichten, vergewaltigt.

Äthiopiens Regierung dagegen definierte laut Petrikova das Verrichten der Notdurft im Freien als Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Die Kanalisation und der Bau von Toiletten wurden ausgeweitet und parallel die Menschen auf dem Land über Hygienemaßnahmen aufgeklärt. Die Folge: Verrichteten 1990 noch neun von zehn Menschen in Äthiopien ihr Geschäft im Freien, waren es 2015 weniger als ein Drittel. In Indien verringerte sich der Anteil im gleichen Zeitraum von 70 nur auf 46 Prozent.

Farm-Arbeiter
Reuters
Eine Frau erntet Rosen in einem Glashaus in der Nähe der Hauptstadt Addis Abbeba

Niedriger sozialer Status von Frauen

Die Welthungerhilfe stellte im „Global Hunger Index“ 2015 fest, dass Äthiopien im Kampf gegen Hunger – neben Ruanda und Angola – die größten Fortschritte machten. Bedeutende Fortschritte gab es laut der Organisation auch in Indien. Sie nennt das weiter vorherrschende Verrichten der Notdurft im freien Gelände als wahrscheinliche Hauptursache für Unterernährung. Dazu komme der „niedrige soziale Status von Frauen“, der die Gefahr, dass Kinder schon untergewichtig auf die Welt kommen, erhöhe.

Generell gilt die für europäische Verhältnisse extreme wirtschaftliche Ungleichheit in Indien als eine der Hauptursachen. Große Teile der Bevölkerung, etwa Dalits, müssen in äußerster Armut leben und können sich eine ausreichende und ausgewogene Ernährung für sich oder ihre Kinder nicht leisten. Diese Kinder haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, an Infektionskrankheiten wie Lungenentzündung zu erkranken und zu sterben. Als Erwachsene sind diese Menschen oft weniger leistungsfähig. Das hat für sie selbst Nachteile – verringert aber auch die Effizienz der gesamten Volkswirtschaft.