EuGH-Präsident Koen Lenaerts
ORF.at/Christian Öser
EuGH-Präsident Lenaerts

Das Unionsrecht und die Familienbeihilfe

Wenn es um Unionsrecht geht, hat der Europäische Gerichtshof mit Sitz in Luxemburg das letzte Wort. EuGH-Präsident Koen Lenaerts und seine Richterkollegen und -kolleginnen entscheiden in Streitfällen, ob ein EU-Mitgliedsstaat gegen EU-Recht verstößt oder nicht. Auch Österreich könnte wegen eines Gesetzes in naher Zukunft zum Fall für das oberste rechtsprechende Organ der EU werden.

Konkret geht es um die Ende Oktober beschlossene Indexierung der Familienbeihilfe, die mit 1. Jänner 2019 in Kraft tritt. Das Gesetz sieht vor, dass die Familienbeihilfe an die Lebenshaltungskosten in jenem Land angepasst wird, in dem das Kind eines Arbeitnehmers, der in Österreich beschäftigt ist, lebt. Da Osteuropäer wohl mit Einbußen rechnen müssen, haben sich Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn sowie Bulgarien, Litauen und Slowenien bereits mit Protest an die EU gewandt. Die EU-Kommission selbst drohte Österreich bereits mit einem Vertragsverletzungsverfahren.

Im ORF.at-Gespräch bestätigt EuGH-Präsident Lenaerts, es sei nicht auszuschließen, dass sich das oberste Gericht der EU in „einem künftigen Fall“ damit beschäftigen werde. Näher darauf eingehen will der belgische Rechtswissenschaftler, der seit 2015 das Amt bekleidet, nicht. Allerdings verweist er auf jene EU-Verordnung, die die Systeme der sozialen Sicherheit koordiniert. „Arbeitnehmer unterliegen dem Recht des Staates, in dem die Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Diese Regel ist seit vielen Jahren unumstritten“, sagt Lenaerts.

Regierung beruft sich auf Gutachten

Gemäß dieser EU-Verordnung gelten für alle Arbeitnehmer die Rechte und Pflichten eines Mitgliedsstaates. Mit der Regel würden nationale Sozialversicherungssysteme nicht einander angepasst, betont Lenaerts, sondern es werde auf nationale Gesetze verwiesen. So etwa auch in Bezug auf eine Familienleistung, die in Artikel 67 beschrieben wird: „Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedsstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedsstaat wohnen würden.“

Während etliche EU-Rechtsexperten die Indexierung für unionswidrig halten, beruft sich die Regierung auf ein Gutachten des Sozial- und Arbeitsrechtlers Wolfgang Mazal. Darin argumentiert er, dass die Familienbeihilfe eben keine Geldleistung sei, sondern „eine festgelegte Funktion hat, die ausschließlich bezweckt, einen Teil jener Ausgaben zu ersetzen, die er für ein Kind hat“. Die Lebenshaltungskosten seien aufgrund der unterschiedlichen Preisniveaus in den EU-Mitgliedsstaaten auch unterschiedlich hoch. Eine Anpassung der Familienbeihilfe würde der EU-Verordnung demnach nicht widersprechen.

Rechtsprechung aus dem Jahr 1986

Allerdings gibt es in einem ähnlichen Fall aus dem Jahr 1986 bereits eine Rechtsprechung, die im Gutachten von Mazal nicht vorkommt und auf die bereits öfters verwiesen wurde. Damals ging es um einen Italiener, der in Frankreich arbeitete und dessen Kinder aber in Italien wohnten, wo die Lebenshaltungskosten niedriger waren. Tatsächlich hatte Frankreich zu der Zeit eine Sonderregelung, die eine Anpassung der Familienbeihilfe vorsah. „Im Fall Pinna I urteilte der EuGH, dass diese Sonderregelung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt und daher ungültig ist“, sagt EuGH-Präsident Lenaerts.

Die EuGH-Besetzung

28 Richter, aus jedem EU-Staat einer, sprechen Recht, darunter ein Präsident und sein Vize, jeweils für drei Jahre gewählt. Unterstützung erhält der EuGH von elf Generalanwälten.

Diese Auslegung des Unionsrechts ist mittlerweile 30 Jahre her. Ist es möglich, dass in einem neuen Fall, die Rechtsprechung gänzlich anders ausfallen könnte? Das sei möglich, wenn sich die zugrundeliegende EU-Gesetzgebung geändert habe, so Lenaerts weiter. Der EU-Gesetzgeber müsse sich aber an die EU-Verträge halten und die darin verankerten Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote beachten. „Und es gibt Regeln, die so klar sind, dass sie keinen Ermessensspielraum zulassen“, betont der EuGH-Präsident, der eigenen Angaben zufolge Österreichs Gesetz „nicht näher“ kennt.

„Streitigkeiten in aller Objektivität entscheiden“

Mit Österreich hatte der EuGH ohnehin erst kürzlich zu tun. Die Richter kippten Ende November Oberösterreichs Mindestsicherungsregelung mit Kürzungen für befristet Asylberechtigte. Ein FPÖ-Politiker kritisierte das Urteil und sprach von einer „Sozialdemokratisierung der EU“. Aber, so stellt Lenaerts gegenüber ORF.at klar, der EuGH habe keine neuen Regeln aufgestellt, sondern lediglich etwas bekräftigt, was der EU-Gesetzgeber bereits festgelegt hat: geringere Sozialhilfeleistungen für befristet Asylberechtigte widersprechen dem EU-Recht.

EuGH-Präsident Koen Lenaerts
ORF.at/Christian Öser
Seit 2015 fungiert der Rechtswissenschaftler Koen Lenaerts als EuGH-Präsident. Zu Polen wollte er im ORF.at-Interview nichts sagen.

Dass dem Gerichtshof vorgeworfen wird, politisch zu sein, dem tritt der Rechtswissenschaftler entgegen. „Unsere Aufgabe ist es, Streitigkeiten in aller Objektivität und Unabhängigkeit zu entscheiden“, so Lenaerts. Außerdem stehe der EuGH in Sachen Kritik nicht anders da als andere Gerichte. Er verweist darauf, dass ein Gericht über Streitfälle urteile. Aber anders als der europäische Gesetzgeber bestimme der EuGH „keine politischen Leitlinien“, sondern lege Recht aus. „Das sei ein sehr großer Unterschied“, konstatiert er.

Kritik an Postenbesetzung am Gerichtshof

Fakt ist allerdings, dass die nationalen Regierungen ihre Richter an den EuGH entsenden. Im Gespräch mit ORF.at kritisierte Carl Baudenbacher, Ex-Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Freihandelsassoziation, dass kaum unabhängige Juristen geschickt werden, sondern Beamte, von denen sich die Regierungen in Zweifelsfällen etwas erwarten würden. „Ob die Person dann das tut, weiß man nicht. Aber das ist die Hoffnung der Regierung“, so der Schweizer Jurist, der quasi von einer „Parteibuchbesetzung“ spricht.

Zur Person: Koen Lenaerts

Koen Lenarts war von 1984 bis 1985 als Referent am EuGH tätig. 1989 kehrte er als Richter an das Gericht der Europäischen Union (EuG) zurück, bevor er 2003 EuGH-Richter wurde. Seit 2015 ist er Präsident des EuGH.

Auf die Kritik angesprochen, sagt Lenaerts, dass die Richter und Richterinnen mit Amtsantritt „unabhängige Richter der EU und keine weisungsabhängigen Vertreter ihres Mitgliedstaats“ seien. Es gebe mehrere Mechanismen, die ihre Unabhängigkeit sicherstellen, so etwa, dass die Mitglieder des EuGH anonym über Fälle entscheiden können. Es lässt sich also nicht ablesen, wofür ein Richter bzw. eine Richterin am Ende gestimmt hat. „Derzeit ist der Gerichtshof sehr differenziert besetzt, was für seine Aufgaben genau richtig ist.“

Dass Österreichs Regierung übrigens mit dem Europarechtsexperte Andreas Kumin erst vor wenigen Wochen einen Nachfolger für die aktuelle Richterin Maria Berger nominiert hat, stelle den Gerichtshof vor keine Schwierigkeiten, so Lenaerts, „solange es gute Richter sind. Aber aus Österreich haben wir immer hervorragende Richterinnen und Richter bekommen.“