EuGH-Präsident Koen Lenaerts
ORF.at/Christian Öser
Koen Lenaerts

„Diese Regel ist seit Jahren unumstritten“

Seit 2015 ist der belgische Rechtswissenschaftler Koen Lenaerts Präsident des Europäischen Gerichtshofs. Dort werden heikle Streitfälle entschieden. Auch Österreich könnte wegen seiner Indexierung der Familienbeihilfe, die am 1. Jänner 2019 in Kraft tritt, am Gerichtshof landen. Lenaerts verweist im ORF.at-Gespräch auf eine Regel, die unumstritten sei.

ORF.at: Herr Lenaerts, nach 34 Jahren am Gericht und Gerichtshof der Europäischen Union: Welches Urteil blieb Ihnen besonders in Erinnerung?

Koen Lenaerts: Nach so vielen Jahren ist so etwas natürlich schwer zu sagen. Aber wahrscheinlich handelt es sich um eine Entscheidung, an der ich noch als EuGH-Referent mitarbeiten durfte: das Urteil „Les Verts“. Darin haben die Richter gewissermaßen den Grundstein des europäischen Rechtsschutzsystems gelegt. Die Momenta der Rechtskontrolle und der Rechtssicherheit sind aus dem europäischen Integrationsprozess seitdem nicht mehr wegzudenken.

ORF.at: Der EuGH fällt aber auch Urteile, die so manchen Bürger eher ratlos zurücklassen können. Etwa dass Eierlikör keine Milch enthalten darf. Sind alle Entscheidungen gleich wichtig?

Lenaerts: Grundsätzlich ja. Jedes Urteil stärkt den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit in der EU. Fakt ist aber auch, dass die Bedeutung eines Falles ein wesentliches Kriterium dafür ist, welche Kammer mit wie vielen Richterinnen und Richtern über den Fall entscheidet. So sehen das unsere Verfahrensregeln vor.

Es gibt Kammern mit drei, fünf oder 15 Richterinnen und Richtern. Im Normalfall verweist der EuGH alle anhängigen Rechtssachen an Kammern mit fünf oder mit drei Richtern. Außer die Rechtssache erweist sich als besonders bedeutend oder schwierig. Dann wird der Fall der Großen Kammer mit 15 Richterinnen und Richtern übertragen. Das war zuletzt häufig in Grundrechtsfragen der Fall.

EuGH-Präsident Koen Lenaerts
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Seit 34 Jahren ist Koen Lenaerts am Gericht und Gerichtshof der Europäischen Union in unterschiedlichsten Funktionen tätig

Fälle von außergewöhnlicher Bedeutung können an das Plenum verwiesen werden, das gegenwärtig aus 27 Richterinnen und Richtern besteht, denn sämtliche Kammern müssen immer in ungerader Zahl besetzt sein. Mir ist aber wichtig zu betonen, dass weder die Kammergröße noch die Bedeutung einer Rechtssache Einfluss auf die rechtliche Bindungswirkung unserer Entscheidungen hat.

ORF.at: In welcher Kammer würde denn Österreichs Indexierung der Familienbeihilfe landen? Die EU-Kommission hat bereits mit einem Vertragsverletzungsverfahren beim EuGH gedroht.

Lenaerts: Wie Sie bereits erwähnten, ist nicht ausgeschlossen, dass der Gerichtshof in einem künftigen Fall über diese Frage zu entscheiden hat. Deshalb kann ich die Diskussion nicht kommentieren. Im Übrigen kenne ich das österreichische Gesetz auch nicht näher.

ORF.at: Anders gefragt: Ist es unionswidrig, wenn ein Land die Sozialleistung an das Kostenniveau des Mitgliedsstaats anpasst, in dem die Kinder leben?

Lenaerts: Ich kann nur allgemein auf die EU-Verordnung 883/2004 verweisen, die die Systeme der sozialen Sicherheit koordiniert. Danach unterliegen Arbeitnehmer grundsätzlich dem Recht des Staates, in dem die Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Diese Regel (Lex loci laboris), Anm.) ist seit vielen Jahren unumstritten.

ORF.at: In Frankreich gab es in den 80er Jahren einen Fall, wo es um Familienleistungen für Kinder ging, die in einem anderen Mitgliedsstaat leben. Könnten Sie das Urteil des EuGH näher erklären?

Lenaerts: Der Fall hat auch eine historische Dimension. In den 70er Jahren hatte Frankreich sehr viele italienische Wanderarbeitnehmer, deren Familien aber in Italien geblieben sind. Die Lebenskosten dort waren deutlich niedriger als in Frankreich.

Die damalige Verordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sah eine Sonderregelung für Frankreich vor. Ein Arbeitnehmer, für den das französische Recht gilt, hatte demnach für seine in einem anderen Mitgliedsstaat lebenden Familienangehörigen Anspruch auf Familienbeihilfen nach dem Recht des letztgenannten Mitgliedstaats.

EuGH-Präsident Koen Lenaerts
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Lenaerts studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Namur und Leuven, wobei er mit Auszeichnung graduierte

Im Fall Pinna I von 1986 urteilte der EuGH, dass diese Sonderregelung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt und daher ungültig ist. Das waren die Überlegungen unserer Vorgänger am EuGH. Das Urteil wurde dann kodifiziert und durch alle Mitgliedsstaaten angenommen.

ORF.at: Könnte sich eine Rechtsprechung, die vor 30 Jahren ihren Präzedenzfall in Frankreich hatte, ändern?

Lenaerts: Dass sich die Rechtsprechung zu einem bestimmten Thema im Laufe der Zeit ändert, ist natürlich möglich, vor allem wenn sich die zugrundeliegende EU-Gesetzgebung geändert hat. Auch der EU-Gesetzgeber muss die EU-Verträge und die darin verankerten Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote beachten. Und es gibt Regeln, die so klar sind, dass sie keinen Ermessensspielraum zulassen.

Die Regel, wonach Arbeitnehmer im Bereich der sozialen Sicherheit grundsätzlich dem Recht am Ort des Arbeitsplatzes unterliegen, zum Beispiel ist nicht dazu da, um nationale Sozialversicherungssysteme einander anzupassen. Es wird auf die nationalen Gesetze verwiesen. Das ist wichtig, weil die Europäische Union nicht die Absicht haben sollte, alles zu regeln. Sie soll das ordentliche Zusammenleben von unterschiedlichen Staaten, Völkern und Kulturen schützen.

ORF.at: Kommen wir zu Polen, wo ein Gesetz beschlossen wurde, mit dem Richter zwangspensioniert werden. Bereits vor Beschluss des Gesetzes sagten Fachleute, dass der Plan unionswidrig ist. Der EuGH hat jüngst im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes – wenn auch nur im Rahmen einer ersten vorläufigen Beurteilung – nicht ausgeschlossen, dass das Gesetz gegen Unionsrecht verstößt. Bei der Indexierung der Familienbeihilfe ist es ähnlich. Wieso werden solche Gesetze trotzdem erlassen?

Lenaerts: Das müssen Sie die betroffenen Mitgliedsstaaten fragen. Zu anhängigen Verfahren kann ich mich grundsätzlich nicht äußern.

ORF.at: Sie können allerdings auf die Kritik gegen Urteile des EuGH eingehen.

Lenaerts: Der EuGH steht hier nicht anders da als andere Gerichte. Man darf nicht vergessen, dass ein Gericht Streitfälle entscheidet. Der EuGH hat nun mal die Aufgabe, die Unionsvorschriften auszulegen und etwaige Lücken zu schließen.

EuGH-Präsident Koen Lenaerts
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Seit dem 8. Oktober 2015 ist er Präsident des EuGH. Seine aktuell zweite Amtszeit läuft bis zum 6. Oktober 2021

Dass es bei Streitfällen dann Zufriedene und Unzufriedene gibt, ist die Regel, nicht die Ausnahme. Und gerade in der EU, wo Vielfalt eine große Rolle spielt, wird es immer unterschiedliche Meinungen zu den Urteilen geben.

ORF.at: Jüngst urteilte der EuGH zur Mindestsicherung in Oberösterreich. Ein Politiker sprach diesbezüglich von einer „Sozialdemokratisierung der EU“. Wie politisch ist der EuGH?

Lenaerts: Natürlich entscheidet der EuGH zwangsläufig über politische Sachverhalte, er macht aber selbst keine Politik und folgt keiner politischen Agenda. Unsere Aufgabe ist es, Streitigkeiten in aller Objektivität und Unabhängigkeit zu entscheiden. Anders als der europäische Gesetzgeber bestimmen wir keine politischen Leitlinien, sondern legen das Unionsrecht aus. Das ist ein sehr großer Unterschied.

Zur Mindestsicherung in Oberösterreich: Der Gerichtshof hat hier keine neuen Regeln aufgestellt, sondern lediglich bekräftigt, was der Unionsgesetzgeber, also das EU-Parlament und der aus den Ministern der Mitgliedsstaaten bestehende Rat, festgelegt hat. Anerkannten Flüchtlingen sind auch dann Sozialhilfeleistungen in gleicher Höhe wie den eigenen Staatsangehörigen zu gewähren, wenn sie nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung haben. Die Mindestsicherung in Oberösterreich hat dagegen verstoßen.

ORF.at: Sie sagen, dass der EuGH nicht politisch ist. Auf der anderen Seite entsenden die nationalen Regierungen der EU-Staaten die Richter an den Gerichtshof. Darunter sind auch Beamte und ehemalige Politiker. Wie passt das zusammen?

Lenaerts: Das stimmt, unsere Richterinnen und Richter haben ganz unterschiedliche berufliche Hintergründe. Mit Amtsantritt sind die Personen aber unabhängige Richterinnen und Richter der Europäischen Union und keine weisungsabhängigen Vertreterinnen und Vertreter ihres Mitgliedsstaats.

ORF.at: Wie können Sie sich da so sicher sein, dass ein Richter nicht im Sinne der Regierung stimmt, die ihn nach Luxemburg geschickt hat, also quasi den Job verschafft hat?

Lenaerts: Die Unabhängigkeit gehört zu den zwingenden Ernennungsvoraussetzungen. Außerdem gibt ein auf Unionsebene bestehender Ausschuss eine Stellungnahme zur Eignung der Bewerberinnen und Bewerber für ein Amt als Richter oder Generalanwalt am EuGH ab. In der Praxis wird ihre Unabhängigkeit durch das Beratungsgeheimnis und das Fehlen von Minderheitsvoten sichergestellt.

EuGH-Präsident Koen Lenaerts
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Lenaerts spricht fließend Flämisch, Französisch, Englisch, Spanisch und Deutsch

Aus unseren Urteilen, die – wo erforderlich – nach dem Mehrheitsprinzip gefällt werden, lässt sich somit nicht ablesen, welche Richterin oder welcher Richter für oder gegen die gefundene Lösung war. Das bedeutet, dass die Richterinnen und Richter unter dem Schutz der Anonymität unabhängig entscheiden können. Auch die individuelle Erklärung der finanziellen Interessen, die die Richterinnen und Richter abgeben, dient der Sicherstellung ihrer Unabhängigkeit.

ORF.at: Vor dem Interview mit Ihnen habe ich mit Carl Baudenbacher gesprochen, ehemaliger Präsident des EFTA-Gerichtshofs (zuständig für Norwegen, Island und Lichtenstein, Anm.). Er sagte, wenn eine Regierung einen Beamten zum EuGH schickt, erwartet sie sich gewisse Dinge.

Lenaerts: Schauen Sie, wir haben unter anderem Richter, die als Beamte oder als Politiker tätig waren. Die Verträge sehen nicht vor, dass bestimmte Karrieren ein Ausschlussgrund für einen Posten am EuGH wären. Das ist auch gut so. Es wäre doch wenig wünschenswert, wenn wir nur ehemalige Politiker, nur ehemalige Anwälte oder nur ehemalige Berufsrichter am EuGH hätten. Derzeit ist der Gerichtshof sehr differenziert besetzt, was für seine Aufgaben genau richtig ist.

Österreich entsandte 1995 mit Peter Jann einen hervorragenden Richter an den EuGH. Er war mein erster Kammerpräsident. Ich habe viel von ihm gelernt. Die leider verstorbene Diplomatin Christine Stix-Hackl war Generalanwältin, und nun sitzt mit Maria Berger eine hervorragende Juristin und ehemalige Politikerin am Gerichtshof.

ORF.at: Apropos EuGH-Richterin Berger: Sie muss noch am EuGH bleiben, weil die erste potenzielle Nachfolgerin abgesprungen ist, der zweite Nachfolger erst vor Kurzem von der Regierung vorgeschlagen wurde. Ist der späte Wechsel ein Problem für den EuGH?

Lenaerts: Nein, gar nicht. Das Wichtigste ist, dass eine gute Wahl getroffen wird. Wenn der Nachfolger kommt, was vermutlich im Jahr 2019 sein wird, dann übernimmt er die Arbeit von Frau Berger. Für die Funktionsfähigkeit des EuGH macht das nichts aus – solange es gute Richter sind. Aber aus Österreich haben wir immer hervorragende Richterinnen und Richter bekommen.