Eleanor Roosevelt hält einen Ausdruck der Menschenrechtsdeklaration im Jahr 1949 in Händen
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Erklärung der Menschenrechte

Jubiläum ohne Feierstimmung

Vor 70 Jahren hat die UNO die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Bis heute gilt die Deklaration als ein Meilenstein der internationalen Gemeinschaft. Doch das Jubiläum wird weniger von Jubel als von besorgten Worten begleitet.

Stefan Zweig war zwar seit sechs Jahren tot. Der 10. Dezember 1948 hätte sich dennoch einen Platz in seinen „Sternstunden der Menschheit“ verdient. Im Pariser Palais de Chaillot verabschiedete die noch ganz junge UNO an diesem Tag eines ihrer bis heute bedeutendsten Papiere. Geprägt von den Gräueln des Nationalsozialismus und den Schrecken des Zweiten Weltkriegs hatte die UNO-Menschenrechtskommission fast zwei Jahre um ein Dokument gerungen, das die Basis für ein friedliches Miteinander der Menschheit legen sollte.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es im ersten der insgesamt 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Worin dieses Recht gründet, ob in der Natur, der Vernunft oder gar einem göttlichen Schöpfungswerk, lässt die Deklaration unbeantwortet. Eine Anknüpfung an Religion, Philosophie oder Tradition findet sich bewusst nicht. Menschen haben Rechte, einfach weil sie Menschen sind.

So wegweisend wie unverbindlich

So wegweisend die Deklaration war, so wenig verbindlich war das Dokument. Unter dem beginnenden Ost-West-Konflikt wurde in den Verhandlungen schnell klar, dass ein völkerrechtlicher Vertrag außerhalb der Möglichkeiten lag. Dazu kam: Auch in den westlichen Demokratien waren die geforderten Rechte noch nicht gänzlich Realität.

Mit Eleanor Roosevelt, Witwe des 1945 verstorbenen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, waren die USA zwar eine der treibenden Kräfte hinter der Menschenrechtserklärung. In den USA erhielten Afroamerikaner das Wahlrecht freilich erst über 15 Jahre später. Und dass 1948 gerade einmal 58 Staaten Mitglied der UNO waren, ist in erster Linie einem Umstand geschuldet: Der Kolonialismus war noch nicht Geschichte.

Deklaration der Menschenrechte
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„Das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ definiert die Erklärung die Menschenrechte

Strahlkraft entwickelte das Papier dennoch. „Die Erklärung war nur der Beginn eines sehr viel umfassenderen Kodifizierungsprozesses“, sagt der Wiener Völkerrechtsprofessor und Menschenrechtsexperte Manfred Nowak im Gespräch mit ORF.at. Insgesamt neun Menschenrechtsabkommen schlossen die UNO-Staaten seither ab. „Alle Staaten der Welt haben Menschenrechte rechtlich verbindend anerkannt. Selbst Staaten wir Nordkorea oder Eritrea“, sagt Nowak. „Die Menschenrechte sind das anerkannteste Wertesystem der Gegenwart.“

„Fundamentale Erkenntnis unter Beschuss“

Das könnte Grund zum Feiern sein. Und doch waren zuletzt vor allem mahnende Worte zu hören. Nicht nur zeigen die täglichen Berichte über Kriege, Folter, Unterdrückung, Vertreibung und Ausbeutung, wie weit die Weltgemeinschaft noch von dem gesetzten Ziel entfernt ist. Warnende Stimmen sehen überhaupt den vor 70 Jahren auf den Weg gebrachten Grundkonsens gefährdet. Erst vergangene Woche stellte die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, fest: „In vielen Ländern ist die fundamentale Erkenntnis, dass alle Menschen gleich sind und angeborene Rechte haben, unter Beschuss.“

Nationale Vorläufer

Zu den Vorläufern der UNO-Menschenrechtserklärung zählen die amerikanische Declaration of Rights von 1776 sowie die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789.

Noch drastischer formuliert es Völkerrechtler Nowak. „Wir befinden uns in der tiefsten Krise der Menschenrechte und der Demokratie seit dem Zweiten Weltkrieg.“ Der Leiter des Wiener Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte arbeitete jahrelang für die UNO als Sonderberichterstatter für Folter. Er war Richter der Menschenrechtskammer von Bosnien und Herzegowina und fungiert mittlerweile als Generalsekretär des European Interuniversity Centre for Human Rights and Democratisation (EIUC) in Venedig. Nicht nur in Österreich hat Nowaks Stimme Gewicht.

„Zeitgeist ist Anti-Menschenrechte“

Als Experte war Nowak auch an der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien beteiligt. Sie brachte explizite Rechte für Frauen, Kinder, Minderheiten und indigene Völker. Und sie ebnete den Weg für ein UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte. Dass sich ein ähnlicher Erfolg heutzutage wiederholen ließe, hält Nowak für ausgeschlossen. „Die Situation derzeit ist so schlecht, dass das, was rauskommen würde, den Menschenrechten eher schaden als nützen würde“, sagt der Völkerrechtler. Der „Zeitgeist ist derzeit Anti-Menschenrechte“.

UNO-Menschenrechtskonferenz in Wien im Jahr 1993
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1993 machten die Menschenrechte einen großen Schritt vorwärts. Heute wäre das laut Nowak nicht möglich.

Die Einschätzung teilt auch sein Kollege Reinhard Klaushofer. Der Jusprofessor an der Uni Salzburg und Leiter des Österreichischen Instituts für Menschenrechte konstatiert gegenüber ORF.at ein „schlechtes Klima für Menschenrechte“. Die „Überzeugung, dass es wert ist für Menschenrechte zu kämpfen“, lasse nach. Und das „zieht sich quer durch alle Hemisphären“, sagt Klaushofer.

Ursachen hinter der Krise

Sowohl Nowak als auch Klaushofer sind zu sehr Wissenschaftler, als dass sie nur eine Ursache hinter diesen Entwicklungen festmachen würden. Ein Punkt ist aber bei beiden zentral: Nowak verweist auf die „neoliberale, globale Wirtschaftsordnung“, die zu wachsender Ungleichheit führe. Nach dem Ende der kommunistischen Diktaturen habe die Welt eine historische Chance verpasst. Anstatt den Sieg der Demokratie und der Menschenrechte zu feiern, sei einzig der „Endsieg über den Kommunismus“ begangen worden. Klaushofer spricht davon, dass „mit der Globalisierung der Druck auf Menschenrechte gestiegen“ sei.

Die Kluft zwischen Arm und Reiche führt laut Nowak zu einer ständigen Aushöhlung staatlicher Strukturen, fördere Kriminalität, Gewalt und Konflikte und produziere „failed states“. Heute würden weltweit mehr Konflikte geführt als jemals zuvor in der Nachkriegszeit, sagt Nowak. Bei vielen handle es sich um lokale, aber umso brutalere Bürgerkriege.

Man mag einwenden, dass in den vergangenen Jahrzehnten die extreme Armut weltweit stark gesunken ist; dass die Zahl der Hungertoten beständig fällt und dafür die globale Lebenserwartung im Steigen begriffen ist. Nicht von der Hand weisen lässt sich aber, dass noch nie so viele Menschen auf der Flucht waren wie zurzeit. Fast immer sind laut der UNO bewaffnete Konflikte die Ursache. In Zukunft könnte die durch den Menschen verursachte Erderwärmung als gewichtiger Fluchtgrund hinzukommen. Dass die Klimakrise auch neue Konflikte auslösen wird, ist ebenfalls keine gewagte Prognose.

„Überwachungsstaat“ China

Eine andere Vorhersage scheint zuletzt hingegen ins Wanken geraten: dass mit der Steigerung des Wohlstands automatisch auch eine Stärkung der Menschenrechte einhergeht. So naheliegend der Schluss ist, so sehr widerlegen ihn die Entwicklungen in China. Noch vor 20 Jahren herrschte im westlichen Diskurs die Überzeugung, dass in China mit einer wachsenden Mittelschicht auch die Rufe nach bürgerlichen und politischen Rechten lauter werden würden.

Ein chinesischer Polizist mit Funkgerät vor Überwachungsmonitoren
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China hat ein engmaschiges Kontrollsystem aufgebaut. Überwachungskameras sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.

Tatsächlich kam es anders. „Der Lebensstandard der Chinesen hat sich ungeheuer verbessert“, sagt Klaushofer. Die Menschenrechtslage habe damit aber nicht mitgehalten. China habe die Bevölkerung mit wirtschaftlichem Wohlstand bedient und zugleich einen „totalen Überwachungsstaat“ errichtet.

Herausforderungen warten

Von chinesischen Verhältnissen sind die westlichen Demokratien weit entfernt. Persönlichkeitsrechte können aber in manchem westlichem Staat über Bord gehen. Erst vergangene Woche verabschiedete Australien ein Überwachungsgesetz, mit dem die Behörden von IT-Firmen den Zugriff auf verschlüsselte Kommunikation erzwingen können. Für Klaushofer sind es freilich oftmals die globalen Konzerne selbst, die Teile der Menschenrechte unterhöhlen. „Den Datenschutz in der klassischer Form haben wir verloren“, sagt der Jurist.

Auch in anderen Bereichen warten laut Klaushofer noch große Herausforderungen: etwa die Frage nach dem Umgang der Gesellschaft mit alten und pflegebedürftigen Menschen; oder die Probleme, die mit der Entwicklung von künstlicher Intelligenz einhergehen. Noch sei etwa offen, wie und ob man selbstlernenden Systemen Werte beibringen könne. „Es gibt viele Fragen, die auf uns zukommen, die Menschenrechte unter Druck setzen“, sagt der Jurist.

Gleich in einer globalisierten Welt?

Am Ende ist die Frage der Menschenrechte auch immer eine Frage der Gleichheit. Was bedeutet es, in einer globalisierten Welt „frei und gleich an Würde geboren zu sein“? Und kann es so etwas wie eine globale Gleichheit überhaupt geben? „Die reichen Demokratien tragen die Fahne der Menschenrechte in die letzten Winkel der Erde, ohne zu bemerken, dass sie auf diese Weise den nationalen Grenzbefestigungen, mit denen sie die Migrantenströme abwehren wollen, die Legitimationsgrundlage entziehen“, schrieb dazu der 2015 verstorbene deutsche Soziologe Ulrich Beck.

Rettungskräfte reichen Schwimmwesten auf ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer
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Ein Menschenrecht auf Migration gibt es nicht. Das Recht, sein eigenes Land zu verlassen, findet sich aber in der Erklärung.

Viele Menschen würden die verkündete Gleichheit als Menschenrecht auf Mobilität ernst nehmen. Und sie „treffen auf Länder und Staaten, die die Norm der Gleichheit an ihren bewaffneten Grenzen enden lassen wollen“. Beck verfasste diese Sätze 2008. Angesichts der Diskussionen über Migrations- und Flüchtlingspakte ist ihnen ihr Alter nicht anzumerken.