Weihnachtsbücher 2018 – Sachbücher
ORF.at/Carina Kainz
Bücher

Die Sachbücher fürs Weihnachtspackerl

„Fake News“ sind die besseren News – wer das glaubt, sollte besser die Finger von den diesjährigen Sachbüchern lassen: Ob ein Plädoyer für die Aufklärung oder Michelle Obamas Autobiografie, die aktuellen Titel versprechen auf- und anregende Lesestunden.

First Lady der Herzen

Von ihrer Kindheit an der South Side von Chicago Ende der 1960er Jahre bis zu dem Tag, als sie zum letzten Mal aus der Tür der berühmtesten Adresse der Welt trat – Michelle Obama schreibt in ihrer Autobiografie erstaunlich offen über intime Details ihres bewegten Lebens. So lässig und humorvoll, unbestechlich und gnadenlos ehrlich, wie sie als First Lady aufgetreten ist, lesen sich auch ihre Geschichten über Selbstzweifel und Erfolgserlebnisse, die so inspirierend sind, dass „Becoming“ heuer unter keinem Christbaum fehlen sollte. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Michelle Obama: Becoming. Meine Geschichte. Übersetzt von Harriet Fricke, Tanja Handels, Elke Link, Andrea O’Brien und Jan Schönherr. Goldmann, 544 Seiten, 26,80 Euro.

Ansteckendes Feuer der virtuellen Realität

Was für ein Sachbuch! Gleichzeitig Autobiografie und Insider-Blick auf eine der (angeblichen?) Zukunftsbranchen: Jaron Lanier hat mit „Anbruch einer neuen Zeit“ ein höchst inspirierendes Buch über virtuelle Realität (VR) von ihren Anfängen bis in die weite Zukunft geschrieben. Aber eigentlich ist das Buch ein Appell für ein selbstbestimmtes Leben, in dem Kreativität mehr zählt als Karriere. Und was die VR betrifft, die Lanier damals mit ein paar anderen jungen Wilden im Silicon Valley (das damals noch von Hippies statt slicken Nerds beherrscht wurde) erfunden hat: Don’t believe the hype. (Simon Hadler, ORF.at)

Jaron Lanier: Anbruch einer neuen Zeit. Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert. Hoffmann und Campe, 448 Seiten, 25,70 Euro.

Die Welt neu denken

Steven Pinker ist ein Revolutionär in Sachen Optimismus. Mehr als die Zukunft schreibt er aber die Vergangenheit um: Von wegen „früher war alles besser“ – Pinker belegt mit Fakten, dass das grundfalsch ist. Die Rezeption von Pinkers Büchern führt zu einem Paradoxon: Neoliberale sehen darin die Bestätigung, dass der Kapitalismus nur Segen bringt. Dabei ist es gerade die Mischung aus seiner Verbreitung und gleichzeitig seiner Bändigung, die den Fortschritt ermöglicht. Manche von Pinkers Thesen sind allzu gewagt – etwa, dass Atomkraft die Rettung vor der Klimakatastrophe ist und lizensierte Gentech-Monokulturen das beste Mittel gegen Hunger sind. (Simon Hadler, ORF.at)

Steven Pinker: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. S. Fischer, 763 Seiten, 26,80 Euro.

Geschichte, komprimiert in einem Haus

Alles, was die Geschichte des 20. Jahrhunderts an Größenwahn, Totalitarismus, schlicht an purem politischem Wahnsinn aufzubieten hat, gepaart mit persönlichen Schicksalen, die an Dramatik nicht zu überbieten sind, bildet sich in der Geschichte eines einzelnen Gebäudes ab: des „Hauses am Ufer“ in Moskau, das Stalin für seine Lakaien bauen ließ, die aber nie lange darin lebten, weil sie alsbald in Ungnade fielen. Yuri Slezkines Monumentalepos mit über 1.300 Seiten wird international gefeiert wie kaum ein anderes Sachbuch dieses Jahr. (Simon Hadler, ORF.at)

Yuri Slezkine: Das Haus der Regierung. Eine Saga der russischen Revolution. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Norbert Juraschitz und Karin Schuler. Hanser Verlag, 1.338 Seiten, 50,40 Euro.

Ein Plädoyer für Europa

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann erinnert in „Der europäische Traum“ daran, wofür die Europäische Union unter anderem gegründet wurde: für den Erhalt des Friedens in Europa nach den Traumata des Zweiten Weltkriegs. Doch die EU hat schon bessere Zeiten gesehen, so die Autorin, mit Mitgliedsländern, die sie „von innen her aufsprengen“, und solchen, die „unverfroren die gemeinsamen Werte aufkündigen“. Mit „vier Lehren aus der Geschichte“ zeigt Assmann, wie wichtig die EU für den Erhalt von Frieden, Demokratie, Menschenrechten und Erinnerungskultur war und ist – ein kluges und lehrreiches Plädoyer für Europa. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Aleida Assmann: Der europäische Traum. C. H. Beck, 208 Seiten, 17,50 Euro.

Europa – undenkbar ohne das Meer

Das Meer hat eine herausragende Bedeutung für Europa und dessen historische Entwicklung – seien es Handel, Kulturaustausch und Eroberungen. Doch auch jetzige politische Debatten etwa über „Flüchtlingswellen“ sind ohne das Meer nicht denkbar, so Jürgen Elvert in „Europa, das Meer und die Welt“. Elvert ist mit diesem Buch ein Standardwerk über die Einflüsse der See auf Europa – von der Expansion in der frühen Neuzeit über den Kolonialismus bis hin zur Erforschung der Meere und der Ökonomie der See – gelungen. Immer mit einem frischen, teils überraschenden Blick. (Peter Bauer, ORF.at)

Jürgen Elvert: Europa, das Meer und die Welt. Eine maritime Geschichte der Neuzeit. DVA, 592 Seiten, 46,30 Euro.

Spurensuche mit den Ohren

Wie kann Wien denn geklungen haben vor 100, 150 Jahren? Peter Payer begibt sich in seinem Buch „Der Klang der Großstadt“ auf die Spurensuche des Hörens während Wiens größter Wachstumsperiode. Von der akustisch beschaulichen Biedermeiermetropole bis zum vibrierenden Klang des industrialisierten Schmelztiegels gegen Ende der Habsburgermonarchie reicht Payers akustischer Streifzug und lässt die Hauptstadt des Habsburgerreiches, aber auch das heutige Wien mit neuen Ohren erhören. (Peter Bauer, ORF.at)

Peter Payer: Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850–1914. Böhlau, 313 Seiten, 30,00 Euro.

Liebe, Sex und Gender-Krieg

Margarete Stokowski, die aktuell wahrscheinlich wichtigste feministische Stimme Deutschlands, zeigt mit ihrem Kolumnen-Best-of einmal mehr, wie gut sie rotzfrechen Witz mit lakonisch-klugen Analysen verbinden kann: Die Kompilation handelt leider nicht, wie im Titel angekündigt, von „den letzten Tagen des Patriarchats“, dafür aber vom „Flirten und Vögeln“, von der Behauptung eines Gender-Kriegs, dem aufsteigenden Rechtspopulismus und davon, warum der „Körperkram“ eben auch politisch ist. Ein großes Lesevergnügen, nicht nur für thematische Neueinsteigerinnen. (Paula Pfoser, für ORF.at)

Margarete Stokowski: Die letzten Tage des Patriarchats. Rowohlt, 320 Seiten, 20,60 Euro.

Einfach nur lernen

Die US-Autorin Tara Westover hat ihre Kindheit mit der Vorbereitung auf die „Tage des Gräuels“ verbracht. Als siebentes Kind einer Mormonenfamilie im ruralen Amerika geboren, diktierten Paranoia und der Weltuntergangsglaube des Vaters das Leben. Mit 17 setzte Westover zum ersten Mal einen Fuß in ein Klassenzimmer, wenig später studierte sie in Harvard und Cambridge und promovierte. Die Autobiografie der erst 32-Jährigen eroberte den US-Buchmarkt im Sturm – zu Recht. Ein gleichzeitig schonungsloser und sensibler Text über Selbstverwirklichung, Misshandlung und Loyalität. (Saskia Etschmaier, ORF.at)

Tara Westover: Befreit. Wie Bildung mir die Welt erschloss. Übersetzt von Eike Schönfeld. Kiepenheuer & Witsch, 448 Seiten, 23,70 Euro.

Weihnachtsbücher 2018
ORF.at/Carina Kainz

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Der Zeithistoriker Jörn Leonhard hat mit seinem Buch „Der überforderte Frieden“ eine Globalgeschichte über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die Auswirkungen der Friedensverträge von Versaille (für Deutschland) und Saint-Germain (für Österreich) vorgelegt. Detailliert schildert und analysiert Leonhard die unterschiedlichen Hoffnungen der einzelnen Teilnehmer, ausgehend von den innenpolitischen Zwängen bis hin zu den globalen Zusammenhängen von 1918 bis 1923 der einzelnen, teils erst entstehenden Staaten und den daraus resultierenden Konsequenzen, die auch heute noch zu spüren sind. (Peter Bauer, ORF.at)

Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923. C. H. Beck, 1.531 Seiten, 41,10 Euro.