LKW an der Grenze Israel – Gaza
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Das Nadelöhr

Israels „realistischer Blick“ auf Gaza

Ruhe oder gar Frieden zwischen Palästinensern und Israelis ist nirgendwo in Sicht, am allerwenigsten an der Gaza-Grenze. Der dauernde Konflikt, der sich im November wieder gefährlich zuspitzte, ist dort Normalität. Trotzdem gibt es am Grenzübergang Kerem Schalom, dem einzigen, über den Güter von Israel nach Gaza gebracht werden, auch Alltag und eine Form der Kooperation.

Während an der Grenze zum Libanon die israelische Armee eigenen Angaben zufolge dabei ist, Tunnel der vom Iran finanzierten Terrororganisation Hisbollah zu zerstören, bietet sich im Süden derzeit ein betont nüchterner Alltag. Es herrscht aktuell Ruhe entlang der rund 40 Kilometer langen Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel.

Das kann sich zwar jederzeit ändern. Aber der Grenzübergang Kerem Schalom ist jedenfalls geöffnet. Er ist praktisch der einzige Punkt, an dem Israelis und Bewohner des Gazastreifens täglich miteinander zu tun haben und zusammenarbeiten. Der direkte Kontakt wird dabei jedoch um jeden Preis vermieden.

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LKW an der Grenze Israel – Gaza
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Ein israelischer Truck fährt am Grenzübergang Kerem Schalom in die streng gesicherte und überwachte Abladezone
LKW an der Grenze Israel – Gaza
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Sobald ein Lkw diese gesicherte Zone – in ihr befinden sich 13 abgesperrte Gevierte – verlässt, werden Poller hochgefahren und die Tore geschlossen
Schiebetor an der Grenze Israel – Gaza
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Die Tore werden zusätzlich von Sicherheitspersonal bewacht. Die gesamte Anlage steht unter Kontrolle des israelischen Verteidigungsministeriums. Es ist aber Personal von Sicherheitsfirmen, Soldaten kommen ganz bewusst nicht zum Einsatz.
Waren an der Grenze Israel – Gaza
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Im Inneren einer der Abladeplätze: Die Sicherheitskräfte kontrollieren die Waren ganz genau. Dazu gibt es zwei Röntgenscanner, durch die Lkws von Israel und von Gaza kommend durchfahren. Außerdem sind Suchhunde im Einsatz.
Baustoffe an der Grenze Israel – Gaza
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Von Gütern des täglichen Bedarfs über Rohmaterialien bis zu Konsumgütern und Medikamenten wird alles geliefert
Betonmauer an der Grenze Israel – Gaza
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Jeder der 13 Ladeplätze ist rundum von fünf bis neun Meter hohen Betonmauern umgeben. Israelische Lkws laden hier ab, kehren um und fahren sofort wieder hinaus.
Zementsäcke an der Grenze Israel – Gaza
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Auch Baumaterial wird geliefert. Der zivile Gebrauch muss allerdings von palästinensischer Seite bis ins Detail nachgewiesen werden.
LKW an der Grenze Israel – Gaza
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Ein Lkw fährt auf einen der gesicherten Ablageplätze
Betonmauer an der Grenze Israel – Gaza
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Ein geschlossenes Tor, das zwei Abladeplätze miteinander verbindet
Wegweiser an der Grenze Israel – Gaza
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Quasi gegenüber, am nördlichen Ende des Gazastreifens, liegt der Moschav (eine landwirtschaftliche dörfliche Kooperative) Nativ Haasara. Dieser wurde nach dem Abzug vom Sinai im Rahmen des ägyptisch-israelischen Friedensschlusses 1981 vom Norden des Sinai in den nördlichen Gazastreifen verlegt. Nach dem Gaza-Abzug 2005 wurde der Moschav wenige Meter weiter – genau nördlich der Grenze – wiedererrichtet.
Grenzgebiet Gaza – Israel
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Kein anderes israelisches Dorf liegt so nahe an der Grenze zu Gaza wie Nativ Haasara. Entsprechend hoch sind die Sicherheitsvorkehrungen. Im Vordergrund der elektronische Zaun, der jede Berührung meldet, im Hintergrund eine hohe Betonmauer. Sie soll den Moschav vor Heckenschützen der Hamas sichern.
Grenzgebiet Gaza – Israel
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Nur wenige Kilometer von Nativ Haasara und von Gaza entfernt steht eines von Israels größten Kraftwerken: das Kohlekraftwerk von Aschkelon. Es versorgt rund 40 Prozent der israelischen Haushalte mit Strom – auch in den Gazastreifen wird Strom geliefert.

„Bedrohung geht von Gaza und Ägypten aus“

Kerem Schalom befindet sich am südwestlichen Zipfel des Gazastreifens, genau im Grenzdreieck Israels, Ägyptens und Gazas. Oder, wie der 59-jährige Leiter des Grenzübergangs, Ami Schaked, es bei einer Besichtigung des Geländes ausdrückt: Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS), die im Nordsinai aktiv ist, „ist 100 Meter von uns entfernt, und auf der anderen Seite ist die radikalislamische Terrorgruppe Hamas 200 Meter enfernt“. Bedrohung gehe daher nicht nur von Gaza, sondern auch von Ägypten aus.

Der ägyptische Grenzübergang Rafah ist jedenfalls nur wenige hundert Meter von Kerem Schalom entfernt und von dort aus gut zu sehen; ebenso wie die Sicherheitsmaßnahmen, die die Ägypter derzeit gegen Tunnelbauten der Hamas unter der Grenze hindurch errichten. Wie auf israelischer Seite wird eine bis zu 70 Meter tiefe unterirdische Betonwand errichtet. Dadurch soll das Schmuggeln von Waren, insbesondere von Waffen, via Tunnel durch die Hamas unterbunden werden.

Bis zu 550 Lkw-Ladungen pro Tag

Derzeit gelangen laut Schaked täglich bis zu 550 Lkw-Ladungen an Gütern aller Art durch Kerem Schalom nach Gaza. Früher waren es bis zu 750. In der Früh würden als Erstes die Lkws mit Obst, Gemüse und anderen Frischwaren abgefertigt. Dazu hätten derzeit auch die Ägypter geöffnet. Baumaterial wird zudem mit einem hunderte Meter langen Förderband, das aus Sicherheitsgründen auf Stelzen gebaut ist, von der einen auf die andere Seite befördert.

Israel mische sich grundsätzlich nicht ein, betont Schaked: Es könnten so viele Lkw-Ladungen abgefertigt werden, wie man in Gaza wolle. Dort fehle es derzeit schlicht am nötigen Geld, um mehr Waren zu kaufen. Allerdings werden laut Schaked „jeden Tag“ Lieferungen entdeckt, die nicht regelkonform sind. Dabei handelt es sich meist um „Dual Use“-Materialien, also etwa chemische Substanzen, die für den medizinischen Gebrauch benötigt werden – aber auch für den Bau von Sprengsätzen verwendet werden können. Verdächtig seien hier oft die viel zu hohen Mengen. Solche Waren werden zurückgehalten – und diejenigen, die sie bestellten, können sich über Israel nichts mehr liefern lassen.

Hinweis

Die Besichtigung von Kerem Schalom und anderen israelischen Grenzpunkten zu Gaza erfolgte im Rahmen einer von Israels Außenministerium organisierten Reise von Journalisten.

„Vertrauen nicht Teil des Spiels“

Die Regeln seien klar: den Bewohnern in Gaza, die „unschuldig“ sind, helfen. Höchste Priorität hat aber die Sicherheit der eigenen Leute. „Wir haben eine Übereinkunft“, so Schaked zur Kooperation mit den 70 Palästinensern, die am Grenzübergang arbeiten: „Ich versorge euch, so gut ich kann – aber ihr macht mir keine Schwierigkeiten in puncto Sicherheit. Ihr vertraut mir nicht, und ich vertraue euch nicht, wir müssen nur diese Aufgabe gemeinsam erfüllen. Keiner von uns versucht zu bluffen.“

Er trinke jeden Tag in der Früh mit den Arbeitern aus Gaza Kaffee und tratsche mit ihnen – „aber vorher müssen sie durch die Sicherheitskontrolle. Das ist nichts Persönliches, das sind die Regeln.“ Vertrauen sei „nicht Teil des Spiels“ wie der 59-Jährige betont. Schaked lebte nach eigenen Angaben 20 Jahre lang als Siedler im Gazastreifen und war damals Sicherheitschef der dortigen jüdischen Siedlungen. Den vom damaligen Premier Ariel Scharon 2005 angeordneten Abzug hält er bis heute für einen Fehler. Beide Seiten, auch die Palästinenser, hätten darunter gelitten, ist Schaked überzeugt.

Lkws auf dem Weg nach Gaza

Einige der rund 50 Lkws, mit denen die Waren vom Grenzpunkt wenige hundert Meter gebracht werden, wo sie auf palästinensischer Seite erneut umgeladen werden. Erst dann werden die Waren nach Gaza gebracht.

Entführung als größte Angst

Der langjährige Soldat leitet seit zehn Jahren den Grenzübergang, der mit einer normalen Grenze genau gar nichts zu tun hat. Priorität aus Schakeds Sicht ist es, dass keiner seiner Mitarbeiter entführt werden kann – daher die strikten Regeln und eine völlige Trennung der israelischen von den palästinensischen Arbeitern. Diese befinden sich nie gleichzeitig am selben Ort.

Die Stelle, an der der israelische Soldat Gilad Schalit 2006 von der Hamas entführt wurde, ist nur wenige hundert Meter von Kerem Schalom entfernt. Erst fünf Jahre später wurde er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs befreit. „Ich will nicht, dass irgendwer von meinen Leuten geopfert wird. Schon gar nicht, wenn sie Schokolade in den Gazastreifen liefern.“

„Die Lager in Gaza sind voll“

Die UNO weist immer wieder auf die dramatischen Bedingungen im Gazastreifen hin. Es gibt nicht durchgehend Strom, viele müssen sich mit Dieselgeneratoren behelfen. Dass Gaza nicht genügend Nachschub an Lebensmitteln, Rohmaterialien und Konsumgütern bekommt, bestreitet Schaked. „Die Lager in Gaza sind voll“, sagt er. Die Hamas sei allerdings eine Mafia. Die Bewohnerinnen und Bewohner seien zudem gezwungen, doppelt Mehrwert- und andere Steuern zu entrichten: an die Autonomiebehörde und an die Hamas.

Zudem hätten Demonstranten, die von der Hamas aufgerufen waren, allwöchentlich zur Grenze zu marschieren, dort zu protestieren und israelische Soldaten zu attackieren und zu provozieren, vor wenigen Wochen auf palästinensischer Seite den Umschlagplatz und Treibstofflager gestürmt und zerstört. Sie glaubten laut Schaked, es habe sich um israelisches Gelände gehandelt.

Kaffeetrinken und Lebensgefahr

Mit Kameras wird jeder Quadratzentimter des Geländes kontrolliert. Dazu kommen Kameras, die mittels Ballon Hunderte Meter über dem Boden schweben und weit in den Gazastreifen hinein filmen. In der Kontrollzentrale können auf einen Blick Dutzende Kameraliveübertragungen abgerufen werden. Vor allem der Blick auf die andere Seite der Grenze ist dabei wichtig.

Schaked macht klar, dass er nicht mit einer Lösung des Konflikts rechnet. „Ich versuche, in der Situation zu leben. Ich kann die Ursachen nicht ändern oder beheben.“ Insgesamt 200 Leute arbeiten am Grenzübergang. 70 davon sind Palästinenser: „Ich lebe mit ihnen, trinken mit ihnen jeden Morgen Kaffee – aber am nächsten Tag erschießen sie vielleicht mich oder ich sie.“ Er sei „einfach realistischer“ geworden.