Theresa May
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Deal or no deal

May zittert um „Brexit“-Abkommen

Die Parlamentsdebatte in London über das „Brexit“-Abkommen hat sich Dienstag bis tief in die Nacht gezogen. Zuvor musste die Regierung von Theresa May mehrere Niederlagen einstecken. Eine Mehrheit für das Abkommen bei der Abstimmung am 11. Dezember scheint fraglicher denn je. Gewiss ist: May stehen turbulente Tage bevor.

Nachdem die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den Austrittsvertrag mit Großbritannien angenommen haben, soll in vier Tagen das britische Parlament über diesen abstimmen. Sollte May das Abkommen nicht durchsetzen können, droht politisches Chaos.

Sowohl ein Rücktritt der Regierungschefin als auch eine Neuwahl, ein zweites Referendum oder ein Austritt ohne Abkommen sind nicht ausgeschlossen. Am Mittwoch, am zweiten Tag der insgesamt fünftägigen Parlamentssitzung, sollen in der achtstündigen Debatte die Aspekte Sicherheit und Migration des Abkommens behandelt werden.

Herbe Rückschläge für May im Parlament

May warnte in ihrer Auftaktrede am Dienstagabend die Abgeordneten eindringlich davor, den Deal abzulehnen. „Die einzige Sicherheit wäre Unsicherheit“, sagte sie. Und: „Wir sollten nicht zulassen, dass die Suche nach einem perfekten Brexit einen guten Brexit verhindert.“ Denn dann stehe das Ausscheiden möglicherweise ganz auf dem Spiel – oder Großbritannien könnte ohne Abkommen ausscheiden.

Gleich zu Beginn hat May zwei herbe Rückschläge kassiert. Die Abgeordneten in London gelangten zum Schluss, dass die Regierung das Parlament missachtet habe, weil sie sich weigerte, ein Rechtsgutachten zum „Brexit“ zu veröffentlichen. Ein Versuch der Regierung, die Niederlage mit einem Gegenentwurf in letzter Minute abzuwenden, scheiterte.

Regierung von Abgeordneten abgemahnt

Kritiker und Kritikerinnen des Abkommens vermuteten, dass ihnen wichtige Informationen über die rechtliche Bewertung des Deals vorenthalten werden sollten, bevor sie darüber abstimmen. Das Gutachten werde nun veröffentlicht, sagte Andrea Leadsom, die eine Art Fraktionschefin der Konservativen ist. Der BBC zufolge ist es das erste Mal in der Geschichte des britischen Parlaments, dass die Regierung von den Abgeordneten wegen Missachtung abgemahnt wird.

Andrea Leadsom
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Andrea Leadsom, Fraktionschefin der Konservativen, kündigte an, das geheim gehaltene Rechtsgutachten zu veröffentlichen

Zum anderen setzte sich eine Gruppe aus Mays Konservativer Partei mit dem Anliegen durch, dem Unterhaus mehr Mitspracherecht bei den nächsten Schritten der Regierung einzuräumen, falls die Kammer bei der entscheidenden Abstimmung den „Brexit“-Vertrag ablehnt. Beide Vorgänge galten als symbolträchtig, da sie unterstrichen, wie groß der Widerstand im Parlament gegen den EU-Austrittskurs der Premierministerin ist.

Für May sind die Abstimmungsniederlagen ein heftiger Rückschlag. Ohnehin werden ihr nur geringe Chancen zugestanden, eine Mehrheit für ihr Abkommen im Parlament zu erreichen. Nun ist klar, dass sie sich nicht auf eine Mehrheit der Abgeordneten verlassen kann.

DUP kündigt an, gegen Vertrag zu stimmen

Medien spekulierten bereits, May hoffe auf einen Erfolg in einem zweiten Wahlgang, bei dem die Abgeordneten keine Möglichkeit zu Änderungsanträgen haben würden. Mein Deal oder kein Deal, so lautet die Devise der Regierungschefin. Doch mit einer Änderung der Debattenordnung machten ihr die Parlamentarier nun einen Strich durch die Rechnung. Dutzende Torys lehnen das „Brexit“-Abkommen ab. Auch die Opposition sperrt sich.

Ein Scheitern des „Brexits“ hält auch der britische Handelsminister Liam Fox für möglich. Es bestehe die echte Gefahr, dass das Unterhaus mit seiner Mehrheit an „Brexit“-Gegnern „versuchen könnte, dem britischen Volk den Brexit zu stehlen“, sagte Fox am Mittwoch vor einem Parlamentsausschuss. Das wäre ein demokratischer Affront.

„Backstop“

Die Auffanglösung soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland vermeiden, falls nach einer 21-monatigen Übergangsfrist immer noch keine Lösung gefunden ist – in dem Fall würde Nordirland auf einigen Gebieten enger mit der EU verbunden bleiben als das restliche Großbritannien.

Auch die nordirische DUP, auf die Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, hat bereits angekündigt, gegen das Abkommen stimmen zu wollen. Grund dafür ist die „Backstop“-Bestimmung. „Meine Partei wird sich gegen diese Vereinbarung aussprechen, da sie der Ansicht ist, dass sich Nordirland durch diese in einer verfassungsrechtlich gefährdeten Position befindet, unabhängig von den Zusicherungen, die wir erhalten haben“, sagte der DUP-Abgeordnete Paul Girvan.

Neue Hoffnung für „Brexit“-Gegner

Auch Gegner des EU-Austritts wollen den Deal blockieren. Ihnen macht derzeit ein Gutachten für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) Hoffnung. Die britische Regierung könnte nach Einschätzung eines Generalanwalts beim EuGH die Absichtserklärung zum Austritt aus der Europäischen Union einseitig zurücknehmen, wie das oberste EU-Gericht mitteilte.

Ein Sprecher von Premierministerin May sagte, das ändere nichts an der Haltung der Regierung, an der Austrittserklärung festzuhalten. Für diese muss es May allerdings schaffen, 320 der 639 Abgeordneten im Unterhaus hinter sich zu bringen.

Farage gibt Parteiaustritt bekannt

Indes kündigte der britische Rechtspopulist Nigel Farage am Dienstag seinen Austritt aus der Sezessionistenpartei UKIP an. „Schweren Herzens verlasse ich die UKIP“, schrieb der EU-Abgeordnete in einem Gastbeitrag für den „Daily Telegraph“. UKIP sei „nicht die Brexit-Partei, die unser Land so dringend benötigt“.

Farage, der UKIP 1993 mitgegründet hatte und mehrere Jahre als Parteichef führte, war einer der Hauptinitiatoren des Referendums über den Austritt Großbritanniens aus der EU. Nach dem aus seiner Sicht erfolgreichen „Brexit“-Votum im Jahr 2016 gab er den Parteivorsitz ab.