Soldatin Francesca Scanagatta
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K. u. k. Armee

Eine Frau als „falscher Offizier“

Frauen, die eine Männeridentität angenommen haben, um in Armeen zu dienen, waren jahrhundertelang ein gängiges Phänomen. Einer der bemerkenswertesten Fälle ist jener von Francesca Scanagatta, die vor knapp 225 Jahren anstelle ihres Bruders in die Theresianische Militärakademie in Wiener Neustadt eingetreten war und diese als erste Frau absolvierte – inklusive Mythenbildung, die bis heute wirkt.

Abgespielt hat sich die Geschichte ab dem Jahr 1794, als die gebürtige Mailänderin im Alter von 18 Jahren anstelle ihres Bruders Giacomo, der kein Interesse an einer militärischen Laufbahn hatte, in die Theresianische Militärakademie eintrat.

Möglich war das Täuschungsmanöver vor allem, weil Scanagatta die Akademie als externe Frequentantin besuchte. Während der zweieinhalbjährigen Ausbildung lebte die gut situierte Senatorentochter ebenfalls unter männlicher Identität bei Freunden der Eltern in Wiener Neustadt, die die Kinder der Freunde zuvor noch nie persönlich getroffen hatten. Mutter wie Vater waren in die Pläne der Tochter eingeweiht. Und der Plan ging letztlich auf.

Cross-Dressing war an der Tagesordnung

Im Jänner 1797 schloss Scanagatta die Ausbildung erfolgreich ab und musterte als Fähnrich aus. Unmittelbar darauf wurde sie dem Varazdiner St. Georger Grenzregiment Nr. 4 zugeteilt. Die permanente Angst, entdeckt zu werden, bewog Scanagatta mehrmals dazu, Garnison und Regiment zu wechseln. Nach der Teilnahme an Kampfhandlungen im Zuge des Zweiten Koalitionskrieges nahe Genua wurde sie im Jänner 1800 zum Leutnant befördert.

Das mag zunächst auch ein wenig nach Räuberpistole klingen. „Doch der Fall Scanagatta ist einer der bestdokumentierten seiner Art“, sagt Nikolaus Reisinger, Universitätsprofessor für Geschichte an der Universität Graz, der zum Thema geforscht und publiziert hat, im Interview mit ORF.at. Dass Frauen im Alltag Männerrollen annehmen, war damals keine Seltenheit. Mitunter aus sehr pragmatischen Gründen. Reisinger: „Insbesondere während längerer Reisen war es aus Sicherheitsgründen praktizierte Gepflogenheit, dass sich Frauen als Männer verkleiden.“

Aufstieg, Ausbruch, Vaterland

Niederländische Wissenschaftlerinnen und Forscher, die den Rollentausch von Frauen im 17. und 18. Jahrhundert anhand von über 100 Fällen untersucht haben, sind neben diesem Motiv auf zwei weitere zentrale Gründe für einen kurz- oder längerfristigen Rollenwechsel gestoßen.

Zum einen stand die Kompensation sozioökonomischer Nachteile im Mittelpunkt – die mangelnden Berufs- und Aufstiegschancen für Frauen, aber auch der Wille zur Teilhabe an männlicher Bewegungsfreiheit sowie die Angst vor Armut, Kriminalisierung und Prostitution waren eine wesentliche Triebfeder. Reisinger: „Es hat sich meist um Frauen zwischen 16 und 25 gehandelt, die aus den unteren sozialen Schichten stammten.“ Ziel war das Ausbrechen aus dem eigenen sozialen Kontext.

Zivile und militärische Bereiche

Doch genauso waren viele Frauen von patriotischen Motiven geleitet, wie Reisinger erklärt: „Es ging ihnen um Vaterlandsliebe.“ Transsexualität, wie sie heute definiert wird, war hingegen kaum ein Thema. Von den 120 in den Niederlanden untersuchten Fällen konnte lediglich in einem Fall das komplette Ablegen der Geschlechterrolle nachgewiesen werden.

Nicht nur in den Niederlanden, auch in Großbritannien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Portugal, Italien, Finnland und Russland sind Fälle dokumentiert – sowohl was zivile als auch militärische Funktionen betrifft. Im Kontext seiner Zeit betrachtet ist der Fall Scanagatta einer von vielen. „Er lässt sich in das gängige Darstellungs- und Interpretationsschema sehr gut einfügen“, sagt Reisinger.

Ansicht der Theresianische Militärakademie vor 1870
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Die Theresianische Militärakademie um 1870

Auch in der Armee kein Einzelfall

Mit Johanna Sophia Kettner, Gabriela Plarenzi und Katharina Marschall sind für die Österreichische Armee des 18. Jahrhunderts weitere Fälle dokumentiert – jedoch mit weitaus dünnerer Quellenlage als bei Scanagatta. Mit Viktoria Savs und Stephanie Hollenstein existieren auch Beispiele aus dem Ersten Weltkrieg. Savs, die an der Seite ihres Vaters in den Dolomiten gekämpft hatte, wurde später zur Heldin für Deutschnationale. Hollenstein, die als Malerin bekannt geworden war, machte unter den Nazis Karriere.

Viele Frauenbiografien des 17. und 18. Jahrhunderts weisen große Parallelen auf und entsprechen den Sitten der Zeit. Auch Scanagatta war als Heranwachsende unter Männeridentität auf Reisen. Scanagattas Vater, der sich einen Sohn erwartet hatte, dürfte in Form einer männlich ausgerichteten Erziehung ebenso zum Karriereweg der Tochter beigetragen haben wie Scanagattas burschikoses Aussehen.

Schauspiel und Maskerade

Einen weiteren Beitrag zum überzeugenden Auftreten Scanagattas hatte aber auch eine theateraffine Gouvernante geleistet – in Form von frühen Einblicken in die Praxis des Theaterspielens. Letztlich hat die Tarnung bis zum Schluss gehalten – die Gründe für das Ende der militärischen Laufbahn waren andere. Das ständige Einschnüren des Oberkörpers hatte zu gesundheitlichen Problemen geführt.

Nach viereinhalb Jahren im Dienst der Österreichischen Armee war mit Dezember 1801 Schluss. Ab diesem Zeitpunkt wurde von allen Seiten auf die Geheimhaltung verzichtet. Mit dem Bekanntwerden der Geschichte war der Grundstein für einen Heldenmythos gelegt, der bis heute hält und auch für viel Verklärung gesorgt hat. Reisinger: „Im 19. Jahrhundert wurde Scanagatta als ‚kriegerische Jungfrau‘ und ‚verkleidete Amazone‘ bezeichnet.“ Militärische Kreise beziehen sich nach wie vor auf die Geschichte – etwa wenn das Österreichische Bundesheer, wie im Jubiläumsjahr 2018 anlässlich 20 Jahre Frauen beim Heer, um weibliches Personal wirbt.

Heirat und Kinder

Was seine Gründe hat: Die Entlassung Scanagattas erfolgte auf Anordnung von Kaiser Franz II. unter Wahrung ihres militärischen Ranges und des Rechts, bei gegebenen Anlässen die Uniform und militärische Auszeichnungen zu tragen – sowie mit dem Anspruch auf eine lebenslange Leutnantspension in der Höhe von 200 Gulden pro Jahr. Die ehrenhafte Entlassung Scanagattas sorgte damals für eine sehr wohlwollende Wahrnehmung der ungewöhnlichen militärischen Karriere. Reisinger: „Sie hat den damals gültigen gesellschaftlichen Erwartungen entsprochen.“

Der Fall erzählt viel über die Wert- und Moralvorstellungen jener Zeit: „Von besonderer Wichtigkeit war die Tatsache, dass sie während ihrer Militärzeit keine private Beziehung eingegangen war und damit aus zeitgenössisch-retrospektiver Sicht ihre Jungfräulichkeit gewahrt hat“, beschreibt Reisinger ein wichtiges Element der Erzählung. Einen wichtigen Anteil hatte insbesondere die 1804 geschlossene Ehe Scanagattas mit dem Leutnant Coelestin Spini, aus der vier Kinder hervorgingen und die bis zum Tod Spinis 1832 hielt. Zwei der Kinder schlugen eine geistliche Laufbahn ein. Scanagatta selbst starb 1865 im Alter von 88 Jahren in Mailand.