Britische Premierministerin Theresa May
Reuters/Toby Melville
„Brexit“-Poker

Unterhaus soll „vor 21. Jänner“ abstimmen

Die Entscheidung des britischen Parlaments über den mit Brüssel ausverhandelten „Brexit“-Vertrag könnte sich bis Ende Jänner verzögern. Wie ein Sprecher der britischen Regierungschefin Theresa May am Dienstag ankündigte, sei das Votum nun „vor 21. Jänner“ geplant.

Die ursprünglich für diesen Dienstag geplante Abstimmung im Unterhaus hatte May am Montag in Erwartung einer sicheren Niederlage verschoben. Anschließend deutete sie an, dass das Votum um rund sechs Wochen verschoben werden könnte. Damit käme es erst gegen Ende Jänner zu einer Entscheidung. Am Mittwochnachmittag wird May eine Sitzung mit ihrem Kabinett abhalten.

Am Donnerstag steht in Brüssel dann ein Gipfel auf dem Programm. Das britische Unterhaus hat nach dem Gipfel nur noch drei Sitzungstage in diesem Jahr und kommt zwischen dem 20. Dezember und 7. Jänner nicht zusammen. Sollte das britische Parlament dem Austrittsvertrag mit der EU und damit einem geordneten „Brexit“ zustimmen, ist noch eine Ratifizierung durch die EU-Mitgliedsstaaten ausständig. Außer Frage steht: Mit Blick auf den für 29. März 2019 angesetzten britischen EU-Ausstieg wird die Zeit zunehmend knapp.

Den Haag – Berlin – Brüssel

Für May steht zunächst aber weiter das Ringen um eine Mehrheit für das „Brexit“-Abkommen im Unterhaus im Zentrum. Sie hofft nun auf „Zusicherungen“ im Abkommen mit Brüssel, um so die Bedenken im britischen Unterhaus auszuräumen. May startete am Dienstag eine hektische Rettungsmission, bei der am Abend auch ein Treffen mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker auf dem Programm stand.

Deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und die britische Premierministerin Theresa May
APA/dpa/Michael Kappeler
Vor der Weiterreise zu Tusk und Juncker warb May bei Merkel in Berlin um Zugeständnisse

Nach einem Treffen mit dem niederländischen Premier Mark Rutte in Den Haag traf May am Nachmittag mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in Berlin und dann auch mit der neuen CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer zusammen. Wie Merkel laut dpa-Angaben nach dem Gespräch mit May in einer Sitzung der Unionsfraktion sagte, wird es „keine weitere Öffnung des Austrittsabkommens“ geben. Den Angaben zufolge gab sich Merkel dennoch zuversichtlich, dass es doch eine Lösung geben könne.

„Produktives“ Treffen

Rutte sprach nach dem Treffen von einem „nützlichen Gespräch“, bei dem er mit May den letzten Stand der Dinge besprochen habe. Die Aussichten für eine Neuverhandlunge stehen laut Rutte allerdings schlecht. So wie viele andere signalisierte auch der niederländische Premier neuerlich, dass es keine Aussichten auf Nachverhandlungen sieht.

Die britische Premierministerin Theresa May und der niederländische Premierminister Mark Rutte
AP/Peter Dejong
Mays erste Station am Dienstag war ein Treffen mit dem niederländischen Premier Rutte

Ein Sprecher Mays sagte, das Treffen sei „produktiv“ gewesen. Die Regierungschefin habe deutlich gemacht, dass sie „zusätzliche Zusicherungen“ zur „Backstop“-Lösung der Nordirland-Frage brauche, damit das von ihr ausgehandelte Austrittsabkommen vom britischen Unterhaus gebilligt werde. May und Rutte seien sich einig gewesen, dass die „Backstop“-Lösung nur „temporär“ andauern dürfe.

Juncker: „Kein Raum für Neuverhandlungen“

Unterdessen schlossen auch Juncker und Tusk bereits vor dem Treffen mit May Neuverhandlungen neuerlich aus. „Der Deal, den wir erreicht haben, ist das Beste, was wir bieten können. Das ist der einzige Deal. Es gibt keinen Raum für Neuverhandlungen“, sagte Juncker dazu im Europaparlament in Straßburg. „Aber natürlich kann der Raum intelligent genutzt werden, um weitere Klarheit zu schaffen“, so Juncker.

Auch Tusk zeigte sich via Twitter „bereit zu diskutieren, wie die Ratifizierung durch das Vereinigte Königreich erleichtert werden kann“, eine Option für Neuverhandlungen gebe es für die Briten aber nicht.

Juncker zeigte sich von den jüngsten Entwicklungen unterdessen auch „überrascht, denn wir hatten uns am 27. November mit der britischen Regierung geeinigt, aber es scheint jetzt Probleme auf den letzten Metern zu geben“. Zu den von britischer Seite angesprochenen „großen Problemen mit dem Backstop Irland“ sagte Juncker: „Das müssen wir vorbereiten, das ist notwendig für die gesamte Kohärenz dessen, was wir niedergeschrieben haben. Irland wird nie alleingelassen werden.“

„Definitiv keine Nachverhandlung“

So wie viele andere EU-Staats- und -Regierungschefs sieht auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) keine Chance für das Aufschnüren des „Brexit“-Abkommens. „Es wird definitiv keine Nachverhandlung über den Austrittsvertrag geben“, sagte Kurz der britischen „Financial Times“ (Dienstag-Ausgabe). „Der Deal, den wir im Moment haben, ist ein guter und ausgewogener Deal, und ich glaube, es liegt im Interesse von uns allen, ein No-Deal-Szenario zu vermeiden.“

Irland-„Backstop“ „bleibt unangetastet“

Die ORF-Korrespondentinnen Eva Pöcksteiner (London) und Raphaela Schaidreiter (Brüssel) analysieren die Möglichkeiten beim „Brexit“-Streitthema „Backstop“.

Irland plant mit allen Szenarien

„Jeder möchte ein No-Deal-Szenario vermeiden, und das Vereinigte Königreich hat die Macht, um die Bedrohung durch einen ungeordneten Ausstieg von seinen Bürgern und denen der Europäischen Union zu nehmen“, sagte dazu Irlands Ministerpräsident Leo Varadkar am Dienstag im irischen Parlament. Varadkar äußerte auch die Hoffnung, das es zu gar keinem „Brexit“ kommt. Wenn die Rücknahme der Austrittserklärung zu viel sei, könnte die Regierung in London zumindest eine Verschiebung des Austritts versuchen, wie Varadkar dazu sagte.

Laut Außenminister Simon Coveney müsse sich Irland auf alle „Brexit“-Szenarien vorbereiten. Coveney verwies gegenüber dem irischen Sender RTE auch auf laufende Vorbereitungen für den Fall, dass Großbritannien die EU ohne ein Abkommen verlasse. Coveney geht wie viele andere zudem davon aus, dass sich nach der Verschiebung der britischen Parlamentsabstimmung der Wortlaut des Austrittsabkommens nicht mehr ändern werde.

Änderungen in „Erklärung“?

Auch der Europaexperte Anand Menon vom Londoner King’s College sagte der Nachrichtenagentur AFP, beim Austrittsabkommen werde es vermutlich keine Änderungen geben – möglicherweise aber bei der politischen Erklärung zum „Brexit“. Dieses juridisch nicht bindende Dokument umreißt die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU. In der Erklärung könnten beide Seiten noch einmal ihre Überzeugung bekräftigen, dass die „Backstop“-Lösung nie zur Anwendung kommen müsse, sagte Menon.

Theresa May
APA/AFP/PRU
May sagte am Montag im britischen Unterhaus die an sich für Dienstag geplante „Brexit“-Abstimmung wieder ab

„Man muss sehen, welche Zusicherungen Theresa May will“, sagte ein EU-Diplomat. Die Frage sei, ob die „Brexit“-Hardliner mit einer „kosmetischen Formulierung“ zufrieden seien.

Die Verschiebung der Unterhausabstimmung am Montag war eine weitere Wende im Drama um den „Brexit“ – das politische Chaos in London sorgt bei den übrigen Europäern zunehmend für Fassungslosigkeit. „Ich kann dem nicht mehr folgen“, schrieb der „Brexit“-Verhandlungsführer des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, auf Twitter. Es sei Zeit für eine Entscheidung.