Blick in den Plenarsaal während der Rede von Sozialministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ)
APA/Georg Hochmuth
Nationalrat

Kassenreform unter viel Kritik besiegelt

Der Nationalrat hat am Donnerstag eine umfassende Reform des Sozialversicherungssystems beschlossen. Damit wird die Zahl der Träger stark reduziert und die Machtposition der Arbeitgeber in den Gremien deutlich ausgebaut. Dem Beschluss ging eine Debatte von ungewohnter Heftigkeit voraus.

Künftig wird es statt 21 fünf Träger geben, der Hauptverband der Sozialversicherungsträger wird in seiner Bedeutung geschmälert, behält aber dank eines Abänderungsantrags doch fixe Vorsitzende. Ursprünglich war geplant, dass die Obleute der Träger in einem halbjährlichen Rotationsprinzip die Leitung übernehmen. Die Regierung reagierte aber auf Bedenken, dass eine gezielte Unternehmensplanung so erschwert werde – nun sind zwei Führungspersonen vorgesehen, die den Vorsitz für fünf Jahre abwechselnd ein halbes Jahr führen und damit de facto eine Doppelspitze bilden.

Größter Brocken der Reform ist die Fusion der neun Gebietskrankenkassen zu einer Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), wobei neun Länderstellen erhalten bleiben. Die ÖGK schließt einen österreichweiten Gesamtvertrag für die Ärztehonorare ab. Bis 2021 sollen die Leistungen harmonisiert werden.

Berufsgruppenkassen bleiben bestehen

Neben der ÖGK für die Arbeitnehmer wird es weiterhin auch andere Berufsgruppenkassen geben. Bauern und Unternehmer kommen in der neuen Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen (SVS) zusammen, dritter Sozialversicherungsträger wird die Versicherungsanstalt für den öffentlichen Dienst, Eisenbahn und Bergbau (BVAEB). Die Pensionsversicherungsanstalt (PV) bleibt bestehen, ebenso die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA).

Zusammenlegung der Krankenkassen im Nationalrat

In einer emotionsgeladenenen Debatte diskutierte der Nationalrat jetzt die Zusammenlegung der Krankenkassen. Es hagelte Ordnungsrufe, die Worte Lüge und Unwahrheit waren keine Seltenheit.

In Kraft treten soll das Gesetz am 1. Jänner 2019. Mit April werden pro Träger Übergangsgremien zur Vorbereitung des Fusionsprozesses eingesetzt und neue leitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesucht. Mit gleichem Datum will die Regierung die verordnete „Ausgabenbremse“ bei den Sozialversicherungen wieder aufheben. Ab 1. Jänner 2020 soll die neue Kassenstruktur dann gültig sein.

Ermächtigungsgesetz wieder abgesagt

Mittels Abänderungsantrag wieder aus dem Gesetz eliminiert wurde die erst im November vom Nationalrat beschlossene und von der Opposition heftig kritisierte Bestimmung, wonach die Sozialministerin notwendige „Vorbereitungshandlungen“ für jedes Gesetzesvorhaben im Bereich der Sozialversicherungsgesetze setzen darf, sofern ein entsprechender Entwurf bereits in parlamentarischer Behandlung steht. Es hatte die Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof gedroht.

Alois Stöger (SPÖ)
APA/Georg Hochmuth
Ex-Gesundheitsminister Stöger hält das Gesetz für verfassungswidrig

Voraus ging dem Mehrheitsbeschluss eine der heftigsten Debatten der vergangenen Monate. Zahlreiche tatsächliche Berichtigungen, persönliche Erwiderungen und Geschäftsordnungsmeldungen führten zu einer zerhackten und untergriffigen Diskussion, die auch Ordnungsrufe durch den vorsitzführenden Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka (ÖVP) zur Folge hatte.

„System von Herrn und Knecht“

„Ehe der Hahn zweimal kräht, hast du die Arbeitnehmer dreimal verraten“, richtete etwa Ex-Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) ÖAAB- und ÖVP-Klubobmann August Wöginger aus. „Sie wollen den Sozialstaat in die Luft sprengen“, sagte sein Parteikollege Rainer Wimmer. Stöger verdächtigte die Regierung, ein „System von Herrn und Knecht“ wiedereinführen zu wollen, die Reform sei klar verfassungswidrig.

Harte Debatte über Kassenreform

Ex-Sozialminister Stöger (SPÖ) befürchtet, dass künftig weniger Geld für die Gesundheitsversorgung und Gemeinden zur Verfügung stehen wird.

SPÖ-Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner bestritt, dass mit der Reform die Sozialversicherung schlanker werde – vielmehr werde mit der ÖAK eine zusätzliche Verwaltungsebene eingezogen, die als einziges Ziel eine neue Machtstruktur habe. Nach der von der SPÖ vermuteten Umfärbung in den Gremien würden Selbstbehalte, Ambulanzgebühren und Leistungseinschränkungen folgen, mutmaßte die SPÖ-Chefin. So sei der Beschluss auch „brandgefährlich“. Die Gesundheitsfinanzierung werde aufs Spiel gesetzt.

Sozialministerin Beate Hartinger-Klein
APA/Georg Hochmuth
Hartinger-Klein erhielt viel Dank aus den Reihen der Koalitionspartner

„Heute ist ein denkwürdiger Tag, wir schreiben Geschichte“, jubelte hingegen Sozialministerin Beate Hartinger (FPÖ) über „die größte Reform der Zweiten Republik“, um gleich zu versichern, dass ihr Ziel immer gewesen sei, die Sozialversicherung für die Versicherten zu reformieren. Die einzigen Verlierer jetzt seien die Funktionäre: „Bei uns steht der Patient im Mittelpunkt und nicht der Funktionär.“

„Wir setzen die Funktionäre an die Luft“

Schärfer formulierte es Hartingers Parteifreundin Dagmar Belakowitsch. In Richtung Gewerkschaft sagte sie: „Ich bin ja schon froh, dass Sie heute nicht mit dem Pflasterstein gekommen sind.“ Die Funktionäre sollten nicht auf die Straße gehen, sondern die Patienten behandeln, meinte die FPÖ-Abgeordnete mit Blick auf die Proteste der Wiener und der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse am Mittwoch – mehr dazu in wien.ORF.at. Warum demonstriert wird, ist für Belakowitsch klar: „Die roten Bonzen sind die Verlierer.“ Auch ihr Parteikollege Johann Gudenus freute sich: „Wir setzen die Funktionäre an die frische Luft.“

Harte Debatte über Kassenreform

FPÖ-Sozialsprecherin Belakowitsch sieht nur die „roten Bonzen“ als Verlierer der Reform.

NEOS und Jetzt vermuteten dagegen eine Umfärbung. NEOS-Klubchefin Beate Meinl-Reisinger sprach von der Reform als „Augenauswischerei“ und „Pflanz“. Der Beschluss bringe nur ÖVP- und FPÖ-Funktionären etwas und sonst niemandem. Die Versicherten würden keine besseren Leistungen haben, auch nicht mehr Kassenärzte. Zudem bleibe die ÖVP-Klientel wie Beamte und Bauern ausgeklammert. Eine Aushebelung der Selbstverwaltung will Jetzt-Mandatarin Daniela Holzinger im Gesetzesvorschlag erkennen. Sie plädierte vielmehr dafür, mittels Sozialwahl die Positionen in der Sozialversicherung zu bestimmen. Den Patienten bringe es nichts, wenn die Funktionäre einfach per Gesetz farblich ausgetauscht würden.

Hauptverband besänftigt, Senioren klagen

Der derzeitige Vorsitzende des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger, Alexander Biach, sieht zumindest leichte Verbesserungen gegenüber den ersten Plänen der Regierung: „Das Bohren dicker Bretter hat sich ausgezahlt. Die Streichung des Rotationsprinzips im Dachverband war eine kluge und erfolgsentscheidende Verbesserung. Ich bin froh, dass unser Verbesserungsvorschlag aufgegriffen wurde.“

Nicht zu besänftigen waren die Pensionisten: Die Verfassungsklage des Seniorenrates gegen die Reform ist jetzt fix. Dass man als gesetzliche Interessenvertretung in den neu zu bildenden Gremien in den Sozialversicherungen auch nach der Reform nicht vertreten sein wird, ist für die beiden Präsidenten Ingrid Korosec (ÖVP) und Peter Kostelka (SPÖ) eine Diskriminierung. Wenn ein Viertel der Versicherten, die ein Drittel der Beiträge zahlen, von der Mitbestimmung ausgeschlossen werde, dann sei das „ein glatter Fall von Altersdiskriminierung“, sagte Kostelka.